Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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1. September 1939 - 1. September 1979

Am ersten September jährt sich der Beginn des 2. Weltkriegs mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen zum 70. mal. Aus diesem Grund dokumentieren wir eine Rede von Helmut Gollwitzer, die dieser vor 30 Jahren zum Antikriegstag auf einer Veranstaltung in Mainz hielt.

1. September 1939 - 1. September 1979

Rede zum Antikriegstag auf einer Veranstaltung des DGB-Landesverbandes Rheinland-Pfalz in Mainz

Helmut Gollwitzer

I.

"Zuerst die schweren und schwersten Explosionen, dann ein Platzregen von Brandbomben. Die Rauchsäulen über Mainz werden größer und gewaltiger, sie füllen das gesamte weite Rheintal nach oben und unten aus… ganz Mainz steht in Flammen." "Die Gymnasiumstraße ist in Sekunden ein brennendes Trümmermeer. Im Keller des dortigen Klosters ‘Zur ewigen Anbetung’ knien die Nonnen und beten: ‘Vater, wenn es möglich ist, so lass diesen Kelch an uns vorübergehen!’ Er geht an ihnen wie an allen Mainzern nicht vorüber. 40 Nonnen halten sich in Todesangst, wie unzählige Mainzer Männer, Frauen und Kinder, umschlungen und ersticken." "Im Keller verbreitete sich Entsetzen, als nach einem neuen, furchtbaren Schlag die Beleuchtung ausging und durch eine in der Nähe niedergehende Mine so erhebliche Schuttmassen herübergeschleudert wurden, dass jetzt schon der Ausgang teilweise versperrt war. Drei weitere Bombeneinschläge vernichteten in einem Luftschutzraum in unserer unmittelbaren Nähe 80 Menschenleben. Wieder erschütterte eine schwere Detonation unseren Zufluchtsraum, die Decke hob sich und krachend brach das Haus über uns zusammen. Ich war der einzige Mann zwischen vielen Frauen und Kindern im Keller und ich werde den Anblick nie vergessen, den die rußgeschwärzten, staubbedeckten, mit Tüchern halb verdeckten Gesichter boten, aus denen mich so viele angsterfüllte, todesbange Augen anstarrten" (Zit. aus H. Leitermann, "Zweitausend Jahre Mainz", 1962, 205 ff.).

Das war ein kleines Vorspiel nur, das hat die Stadt überlebt; im wiederaufgebauten Mainz denken nur noch die älteren Leute ab und zu schaudernd an den 27. Februar 1945 und den jüngeren ist das eine Schauergeschichte aus fernen Tagen. Die Endkatastrophe des "Goldenen Mainz" steht erst noch bevor, wahrscheinlich wird sie noch von manchen in diesem Saale erlebt, aber nicht überlebt werden.

Ist nach der Prognose von Carl Friedrich von Weizsäcker und des Stockholmer Internationalen Friedensforschungs-Institutes das Ausbrechen eines Atomkrieges noch in diesem Jahrhundert wahrscheinlicher als sein Nicht-Ausbrechen, dann wird das Goldene Mainz die nächsten 20 Jahre nicht überleben. Es ist wahrscheinlicher, dass es ausgelöscht werden wird, dass all die neu aufgebauten Häuser, Hochhäuser, Kirchen und Institute zusammenbrechen und die Bewohner von Mainz unter sich begraben, als dass das nicht geschehen wird, und zwar nicht notwendig durch einen Atomkrieg. Selbst wenn die Supermächte aus Eigeninteresse die Atomraketen in ihren Silos lassen, wird schon ein Krieg mit sog. konventionellen Waffen, mit den heutigen, weiterentwickelten Waffen, samt der Neutronenbombe, für deren Produzierung einige mit Blindheit geschlagene Politiker bei uns sich einsetzen, Mainz samt dem, was dann früher einmal Deutschland gewesen sein wird, in eine unbewohnbare, menschenleere Wüste verwandeln. Dass das geschieht, ist nach Voraussage von Kennern der Materie wahrscheinlicher, als dass es nicht geschieht.

Diesem ungeheuerlichen Satz ist zu allererst ins Auge zu sehen, unverwandt, täglich, mit aller Phantasie. "Gefahr für Mainz?", fragte das Titelblatt des "Spiegel", als Skylab der Erde immer näher kam, und Hunderte von Anrufen und besorgten Briefen bestürmten die Medienanstalten und die Regierenden. Das war keine Gefahr für Mainz, höchstens für ein paar Häuser in Mainz, und dazu, wie der "Spiegel" beruhigend schrieb, "extrem unwahrscheinlich". Kein Anruf aber, kein Brief aus Mainz geht täglich, wie ich vermute, an diese Adressaten wegen der keineswegs "extrem unwahrscheinlichen" Endkatastrophe für Mainz und für das ganze Land, die unsichtbar drohend über uns hängt und so wahrscheinlich ist. Die paar Terroristen konnten unzählige Menschen in Schrecken und Angst versetzen, da reichte die Phantasie zu und drängte die Behörden zu immer perfekteren Sicherheitsmaßnahmen, aber der Nuklear-Terror der Supermächte und die Warnungen der Fachleute stören nicht den ruhigen Schlaf, und wenn Anti-Kriegs-Demonstranten auf die Straßen gehen, schauen die Menschen ungerührt zu, als demonstrierten die wegen ihrer eigenen Sorgen und nicht wegen unserer Sorgen und als handle es sich um verdächtige kommunistische Machenschaften, die man eigentlich verbieten müsste. "Wie war es in den Tagen Noahs?", zitiert Weizsäcker die Bibel, "sie aßen und tranken, kauften und verkauften, freiten und ließen sich freien, bis die Flut kam und sie alle ertränkte."

Bevor es aber noch zu dieser Sintflut, zu diesem Holocaust kommt, - denn jeder künftige europäische Krieg wird ein Superholocaust sein, und die alte Unterscheidung zwischen Krieg und Völkermord wird weggefegt sein und mit ihr alle Hemmungen, mit denen man in der Vergangenheit die Bestie Krieg noch einigermaßen zu zügeln versucht hat -, bevor es noch zu diesem Holocaust kommt, bevor wir noch an diesem Genozid sterben, werden wir an seiner Vorbereitung sterben, an der Rüstung, und schon jetzt sterben ungezählte Menschen daran. Würden die vielen Milliarden, die allein Nato und Warschauer Pakt für Rüstung und Waffenproduktion in die Luft jagen, - in die Luft, denn es soll ja nach den Erklärungen beider Seiten nicht zum Ernstfall kommen! -, würden diese Mittel für das Leben der Menschheit eingesetzt, die Sahara würde zu der Kornkammer, die sie früher einmal gewesen war; in Afrika, Asien und Lateinamerika würden nicht in dieser Stünde Hunderte von Menschen an Hunger sterben und durch Unterernährung verblöden; entwickelte Alternativenergien ließen uns dem Ende der Ölzeit unbesorgt entgegensehen; Gesundheitswesen, Umweltschutz, Sozialfürsorge würden nicht wegen der Kostenexplosion schrumpfen müssen. An der Rüstung sterben unsere dringendsten Reformen, weil Geld und Menschen dafür fehlen. An der Rüstung stirbt unsere Demokratie. Heere, hierarchisch aufgebaut, und der militärisch-industrielle Komplex, von Geheimnissen umgeben und von Geheimdiensten geschützt, sind Fremdkörper in der Demokratie. Parlamentarische Kontrolle wird zur Farce, wie man es bei der Entwicklung des Milliardendings Tornado erlebt hat. Bei inneren Konflikten, wie wir sie durch zunehmend schärfer werdende Verteilungskämpfe auch bei uns erleben können, steigt die Versuchung der Mächtigen, für ihre Interessen dem Militär die diktatorische Macht zu übergeben, wie es in Brasilien, Chile, Argentinien usw. geschehen ist. Mit dem Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung wird Schindluder getrieben. Vom Bundesverfassungsgericht wird dieses Grundrecht zum Ausnahmerecht erklärt, und wenn das bei einem Grundrecht geschieht, darin sind alle Grundrechte in Gefahr, als Ausnahmerechte angesehen zu werden, die der Staat gnädig bei schönem Wetter den Bürgern gewährt und wieder aufhebt, wenn die Staatsraison, d.h. die Interessen der Mächtigen in der Gesellschaft, es ratsam erscheinen lassen. Ihr Gewerkschaftler mögt wohl zusehen, wie lange euch der Streik noch erlaubt ist. Schon haben namhafte bundesdeutsche Wirtschaftsleute und Politiker der Beseitigung der bürgerlichen Freiheiten, besonders auch der Gewerkschaftsfreiheit, in Lateinamerika ihren Beifall gespendet; die Beseitigung der Freiheit sei manchmal nötig zur Erhaltung der Freiheit, nämlich der Freiheit die sie meinen. Die Rüstung, die uns schützen soll, ist zugleich der Feind, der uns schon vor dem Krieg tödlich bedroht. Sie gefährdet unsere Freiheit, erschöpft unsere Lebensmöglichkeiten und erhöht das Kriegsrisiko.

II.

Nehmen wir einen Augenblick einmal das Entsetzliche an: das Wahrscheinliche sei Wirklichkeit geworden. Auf einer dank der Neutronenbombe unversehrt gebliebenen Rheinbrücke sitzen so um das Jahr 2010 herum zwei kläglich Überlebende aus Mainz und ein Weltraumbewohner, der auf diesem verwüsteten Erdteil gelandet ist. Sie schauen hinüber auf das menschenleere Trümmerfeld der Stadt und der Weltraumbewohner fragt sie mit größter Verwunderung: "Wie konntet ihr das zulassen? Wie konntet ihr dabei mitmachen? Wie konntet ihr es so weit kommen lassen? Ihr Menschen seid doch ebenso vernunftbegabte Lebewesen wie wir. Vernunftbegabte Lebewesen werden bei Voraussicht solcher Katastrophen doch deren Abwendung für schlechthin wichtiger halten als alle anderen Probleme und Differenzen, noch dazu, wenn es sich nicht um drohende Naturkatastrophen handelt, sondern um von Menschen herbeigeführte und durchgeführte Katastrophen. Sie werden alle Politik, alle Anstrengungen einsetzen, um sich dagegen zu schützen. Ihr hattet doch schon schlimmste Kriegserfahrungen hinter euch. Wie konntet ihr das zulassen?" Was werden die zwei Überlebenden ihm darauf antworten?

"Wir mussten das doch tun", werden sie sagen, "es gab doch unbestreitbare Gründe für den Rüstungswettlauf: die Russen und die Arbeitsplätze - und außerdem waren wir kleine Leute doch ohnmächtig und schließlich haben wir alle, oben und unten, doch gemeint, es werde schon nicht so schlimm kommen, und unsere Regierungen hätten die Sache doch gut im Griff, und niemand hat’s ja gewollt."

So ist also heute, bevor es soweit kommt, zweierlei gleich nötig: 1. hart und mit aller Phantasie ins Auge zu fassen, dass die Endkatastrophe wahrscheinlich ist und dass wir schon an der Rüstung kaputt gehen, und 2. nach Wegen aus dem Dilemma zu suchen, das darin besteht, dass es ernste, nicht wegzustreichende Gründe für die Rüstung gibt, dass sie zugleich unser Feind und unser Schutz ist. Weil sie beides ist und weil deshalb nicht nur die da oben, die Regierungen, sondern auch die da unten, die Völker, nicht auf sie verzichten wollen - wie kommen wir heraus aus diesem Dilemma?

Kritisch gegen die so einleuchtenden Gründe zu werden, sich von ihnen icht so imponieren zu lassen, dass man dieses Dilemma wie ein unentrinnbares Schicksal hinnimmt, das ist eine der ersten Aufgaben. Wie steht es mit der Bedrohung aus dem Osten? Wir leben in einem Lande, in dem die Trommel der Angst gerührt wird, wenn ein Politiker wie Wehner und ein General wie Bastian die Selbstverständlichkeit aussprechen, dass die Rüstung der Sowjetunion defensiv ist, begründet in genug Erfahrungen, die wir den Ostvölkern bereitet haben. Die gegen diese beiden Männer daraufhin die Trommel rührten, wissen das genauso. Warum wollen sie nicht, dass das ausgesprochen wird? Welche Ängste wollen sie bei uns mit der Vorstellung einer angriffslüsternen Sowjetunion wachhalten und wozu? Auch wenn die Absichten zugegebener Maßen defensiv sind, hat Genscher erklären lassen, so komme es doch nicht nur auf die Absichten an, sondern auf die Fähigkeiten, und dass die Sowjets sich fähig machen nicht nur zur Verteidigung, sondern auch zum Angriff, das sei das Bedrohliche.

Das ist richtig, und doch ist ein Haken dabei. Zur ausreichenden Verteidigung fähig zu sein, heißt beim heutigen Waffenpotential auch: zum Angriff fähig zu sein, zum zweiten Schlag nach Empfang des ersten Schlages - und das gilt für beide Seiten. Wer garantiert der einen Seite, dass die andere Seite, wenn sie fähig ist zur Verteidigung, diese Fähigkeit nicht auch zum Angriff benützt? Die Sowjets haben wohl noch im Ohr, dass Adenauer 1952 gesagt hat, wir könnten uns "durch die Europa- Armee des deutschen Potentials bedienen, um die Neuordnung des Ostens vornehmen zu können", und dass Hallstein das bis zum Ural ausdehnen wollte und dass Dulles eine Rollback-Politik proklamiert hat. Offensiv ist von unserer Seite oft genug gesprochen worden und gar nicht geleugnet werden kann, dass das Bestreben der amerikanischen Rüstung immer war, nicht nur in der Verteidigungsfähigkeit gleichzuziehen, sondern die militärische Überlegenheit zu behaupten oder immer wieder zu erreichen, außerdem die Sowjets "totzurüsten", damit sie durch die erzwungene Rüstungsverschwendung nicht zum Aufbau eines attraktiven Sozialismus kommen. Dazu wird uns jedesmal, wenn die Russen gleichzuziehen versuchen, erzählt, sie seien uns schon überlegen und wir seien darum bedroht und müssten schleunigst noch mehr aufrüsten. Ab und zu lässt einer dann die Wahrheit aus dem Sack, wie kürzlich der amerikanische Verteidigungsminister Brown mit dem schlichten Satz: "Ich möchte mit den Sowjets nicht tauschen" ("Die Zeit", 30.3.1979).

So vergiftet ist, wie sich bei den Reaktionen auf die Äußerungen von Wehner und Bastian gezeigt hat, die Atmosphäre bei uns, - und auch das ist ein friedensfeindlicher Faktor! -, dass jemand, der den unbestreitbaren Sachverhalt feststellt, dass die Russen keine offensiven Absichten haben, dass sie militärisch der Nato eher unterlegen als überlegen sind und dass ihre Rüstung mit sehr realen Einkreisungsängsten zu tun hat, als Sowjetpropagandist erscheint und sich dagegen schleunigst absichern muss dadurch, dass er etwas Schlechtes über den Osten sagt.

Damit das klar ist: Auch die Männer im Kreml sind keine Heiligen, sondern arme Sünder wie wir alle und darum nicht gefeit gegen die Versuchungen, die die militärische Stärke immer mit sich bringt. Deshalb ist heute die entscheidende Frage: Wie kann jede Seite der anderen garantieren, dass die defensiven Absichten nicht in offensive umschlagen, wenn die Gelegenheit günstig dafür scheint und wenn die zur Verteidigung ausreichende Stärke damit auch den Angriff möglich macht? Darum geht es bei den Salt-Verhandlungen, mit denen wir erst am Anfang sind: um Entwicklung eines Systems, das die Blöcke durch Rüstungskontrollen und Rüstungsabbau so miteinander verflicht, dass sie einander transparent werden und Vertrauen, d.h. Zutrauen zu den nur defensiven Absichten der anderen Seite sich ausbreiten kann an Stelle des gegenwärtigen, todesgefährlichen Misstrauens. Wir müssen dankbar dafür sein, dass die Bundesregierung sich in dieser Richtung einsetzt, in der klaren - aber freilich, wie ich meine, noch nicht konsequent genug praktizierten - Erkenntnis, dass der Rüstungswettlauf uns ruiniert und dass das deutsche Volk mehr noch als die Amerikaner und die Russen bei einem europäischen Krieg alles zu verlieren, aber nichts zu gewinnen hat.

"Die Bundesrepublik", hat Helmut Schmidt gesagt, "ist nur um den Preis ihrer totalen Zerstörung zu verteidigen." Auch über die Konsequenzen dieses Satzes kann man nicht lange genug nachdenken. Denn das bedeutet doch, dass es jedenfalls für uns Deutsche keine Alternative zum Frieden gibt und dass nur noch der Friede der Ernstfall ist, wie Gustav Heinemann gesagt hat, der Krieg aber nur noch der Todesfall.

Die Folgerung daraus: Wenn die Abschreckung nicht mehr funktioniert, wenn geschossen wird, dann können wir nur noch kapitulieren, dann wird das Gegenschießen schon ein Verbrechen am deutschen Volke sein. Dieses Land mit seinen Glashausern, und seinen Atomkraftwerken wird den nächsten Bombenkrieg nicht mehr überleben wie die Bomben des 2. Weltkriegs. Bundeswehr und Nato mögen der Ostseite einen Angriff riskant machen, dazu taugen sie noch. Würde der Angriff aber einmal von irgendeiner Seite riskiert werden, dann sind wir nur noch "um den Preis der totalen Zerstörung zu verteidigen", dann bleibt uns also nicht mehr der Kampf, es bleibt uns nur der Tod oder die Kapitulation.

"Verteidigung" bekommt damit einen neuen Inhalt: nicht mehr Verteidigung im Krieg, nicht mehr Verteidigungsvorbereitung für den Krieg, sondern Verteidigung gegen den Krieg vor dem Krieg, dessen Vermeidung alle anderen Interessen untergeordnet werden müssen. Darum muss das Blockdenken überwunden werden, damit auch die Blöcke überwunden werden können. Darum weg mit der Feindpropaganda! Weder würden die Sowjets mit der Eroberung Westeuropas noch der Westen mit der Eroberung der Sowjetunion etwas gewinnen. Jeder Denkende weiß das hüben wie drüben. Deshalb ist die gegenseitige Bedrohungspropaganda nur Volksbetrug, und nicht einmal am Stammtisch können wir es uns noch leisten, sie mitzumachen. Darum sind die Kriegsdienstverweigerer, die soziale Friedensdienste leisten, als Pioniere der großen Umkehr hin zu einer Gesellschaft, die mit ihrer Produktion dem friedlichen Zusammenleben der Völker dient, hoch zu schätzen, und die Gesetze müssen ihren Friedensdienst fördern, statt ihn einzuschränken und auszuhöhlen.

Darum nun auch kritische und schonungslose Aufdeckung der Interessen, die diese Feindpropaganda brauchen. Drüben im Osten wird das vor allem die Militärlobby sein, die an ihren Privilegien interessiert ist. Hier bei uns sind es die enormen und sicheren Gewinne, die man in der Rüstungsindustrie und im Waffenhandel erzielen kann. Conversion - zu deutsch: Umkehr! - heißt in Amerika das Stichwort für das Problem der Umwandlung der Rüstungs- in Friedensindustrie. Diese Umwandlung ist nicht sehr verlockend für das Großkapital. Denn mit dem raschen Verschleiß und Veralten der Waffensysteme durch die Eskalation der Rüstungsforschung, die immer vernichtendere neue Systeme ermöglicht, lassen sich Gewinne machen, von denen man bei der Friedensindustrie nicht träumen kann. Arbeitsplätze gäbe es bei dieser Umwandlung für den Frieden genug. Längst ist die Lüge entlarvt, die Rüstung sichere die Arbeitsplätze. Aber verbreitet und geglaubt wird sie immer noch und so lange sie geglaubt wird, scheinen sich die Interessen des großen Kapitals und die Interessen der Rüstungsarbeiter zu decken. So ist deren Sorge um den Arbeitsplatz wohl zu verstehen. Das Hemd ist mir näher als der Rock und lieber verdiene ich bei KFWFokker in Speyer mein gutes Geld bei der Verfertigung von MRCA und Starfighter, als dass ich stempeln gehe oder mich in einem umgewandelten Betrieb vom hochqualifizierten Facharbeiter herunterqualifizieren lasse ans Fließband. Um mein Geld und meinen Arbeitsplatz zittere ich, wenn die Rüstung abgebaut werden soll oder wenn die Waffenausfuhr nicht endlich von der Bundesregierung liberalisiert wird.

Verständlich ist das. Aber wenn noch ein bisschen vom Geist der alten Arbeiterbewegung, die immer eine Antikriegsbewegung gewesen war und immer die Arbeiterfeindlichkeit von Krieg und Militärwesen durchschaut hat, unter uns lebendig ist, dann muss doch auch durchschaut werden, was das für ein System von Erpressung ist. Entweder du arbeitest für den morgigen Tod oder du kriegst heute mit deiner Familie nichts zu essen. Entweder du nimmst als Chemiearbeiter das Krebs-Risiko in Kauf oder du gehst stempeln. Entweder ihr helft im Kernkraftwerk mit, unabsehbare Risiken für uns und unsere Nachkommen heraufzubeschwören, oder ihr verliert eure Arbeitsplätze. - Rüstung und Atomenergie sind heute die Haupthebel dieser Erpressung. Ohne Kernenergie geht es nicht, wird uns täglich gepredigt, - geht es nämlich nicht so weiter mit unserer bisherigen Verschwendungswirtschaft! Darum vergifte mit Plutonium den Erdball für Zehntausende von Jahren oder du verlierst deinen Arbeitsplatz! Es ist das gleiche, wie wenn Leute, die von Pilzen leben, auf die Idee kommen: "Die Steinpilze und Pfifferlinge reichen nicht, darum lasst uns auch die Knollenblätter- und Fliegenpilze dazu nehmen, die werden schon nicht so giftig sein, wie uns einige Spinner und Fachleute einreden!"

Um noch einmal C. Fr. v. Weizsäcker zu zitieren: "Eine Politik schreibt er, "die den Krieg verhindert, ist möglich und wird heute versucht; diese Politik stößt auf Hindernisse, die in gesellschaftlichen Strukturen wurzeln." Die Friedensfrage richtet sich also auch auf unser gegenwärtiges Gesellschaftssystem. Ist es ein solches System der Erpressung, weiß es mit der menschlichen Arbeitskraft nichts besseres anzufangen, als sie für tödliche Zwecke einzusetzen, dann muss es überwunden werden. Das war die klare Erkenntnis der Arbeiterbewegung und sie ist heute aktueller denn je. Die Rüstungsfrage ist aber nicht nur ein Hebel, die Arbeiterschaft für die unsinnige Verschwendung unserer Produktionskraft im Dienste der großen Gewinne zu bestechen und zu erpressen; sie kann ebensosehr zum Hebel gemacht werden, um unsere bisher verschwendete Produktionskraft in vernünftigere Bahnen zu lenken. Der DGB hat mit seiner Forderung, der Rüstungsetat, der bei allen Haushaltsberatungen so tabuisiert wird, dürfe nicht mehr erhöht werden, einen ersten Schritt in der richtigen Richtung getan. Bereitschaft zu durchgehender gegenseitiger Rüstungskontrolle zwischen den Militärblöcken. Bereitschaft zu kalkulierten einseitigen Vorleistungen zum Zwecke eines Vertrauensklimas, Rüstungsabbau, strenge Begrenzung der Waffenausfuhr, Verbot des privaten Waffenhandels - das sind die nächsten Schritte, die wir von unseren Regierungen fordern müssen. So weit das samt der Umstellung der Betriebe auf zivile Produktion nachteilige Folgen für die Arbeitsplätze hat, sind diese nicht auf den Rücken der Arbeiter und Angestellten abzuwälzen, sondern von allen, auch den Unternehmern, auch der ganzen Gesellschaft gemeinsam zu tragen. Nicht kurzsichtige Sorge um den jetzigen Arbeitsplatz, sondern langfristige Sorge um die Zukunft, um sinnvolle Arbeit, um Durchbrechen durch das menschenfeindliche System der Erpressung muss das vorrangige Thema der Gewerkschaftsbewegung sein. Das Interesse der Lohnabhängigen, der arbeitnehmenden Bevölkerung als der Mehrheit unseres Volkes, gebietet den Gewerkschaften, die Avantgarde zu sein sowohl in der Verteidigung der Freiheitsund Bürgerrechte in unserem Lande als auch für eine konsequente Friedenspolitik, also eine konsequente Politik der Entspannung, der Abrüstung, der Beseitigung der völkerverhetzenden Feindbilder, der demokratischen und wirksamen Kontrolle aller Machtpositionen in Politik und Wirtschaft von unten, durch die Bürger selbst, und schließlich für eine Umwandlung dieser Gesellschaft der Ungleichheit, der enormen Gegensätze zwischen Privilegierten und Unterprivilegierten und der unkontrollierten Machtballungen in eine Gesellschaft der Freiheit, Gleichheit und Solidarität, wie sie von den Grundrechtsartikeln unseres Grundgesetzes gefordert wird. Anders wird es keine menschenwürdige Zukunft geben.

Am schlimmsten aber ist die unfassbare Gleichgültigkeit. Genährt wird sie vermutlich auch von dem Gefühl der Ohnmacht: Bei diesen schwierigen Abrüstungsfragen schauen wir nicht durch und die da oben machen ja doch, was sie wollen. Das ist nicht wahr. Jeder kann das Seinige tun, dann summiert sich das zu einer Macht. Also: Wir wollen alle Schritte auf Abrüstung und Frieden hin laut unterstützen. Wir wollen uns nicht mehr manipulieren lassen durch die Bedrohungslügen. Wir wollen unsere Gedanken und Worte disziplinieren, dass kein Spielen mit dem Krieg sich mehr in uns rührt und kein friedensfeindliches Wort mehr über unsere Lippen kommt. Ein Politiker, der mit dem Gedanken des Krieges spielt, etwa der Ölfelder wegen, muss für uns erledigt sein. Die Bevölkerung muss auf ihre Regierung drücken zu realen Abrüstungsschritten und muss gegen alle Hetzer die Regierung stützen bei solchen Schritten. Gegen die leichtfertigen Riskierer des Untergangs setzen wir die Aktion unserer sehr real begründeten Angst. "Ängstige deinen Nächsten wie dich selbst!" (Günter Anders) - das ist heute ein dringendes politisches Gebot. Wenn wir das alles tun, dann wird sich zeigen, dass wir nicht ohnmächtig sind.

III.

"Herr, lass diesen Kelch an uns vorübergehen!", beteten die Nonnen im Kloster "Zur ewigen Anbetung" und der Herr, an den wir glauben und in dessen Namen ich mit vielen Christen an diesem heutigen Tage mich zum Alarmruf für verpflichtet halte, hat den Kelch damals nicht vorübergehen lassen. Wir können und werden immer neu unsere Glaubens- und Unglaubensgedanken abmühen mit der Frage, die uns erst in der Ewigkeit beantwortet werden wird, mit der Frage, warum Gott das zulässt und den Menschen bei ihrem grauenhaften Vernichtungstun nicht in den Arm fällt. Aber weichen wir über der Frage, die wir an Gott richten, nicht der Frage aus, die sich an uns richtet, ja, die Gott an uns richtet, und auf die wir Antwort geben müssen, hier und in der Ewigkeit! Der Frage, warum w i r das zulassen, warum w i r den Menschen, die diese Greuel vorbereiten, nicht in den Arm fallen, warum wir sogar mitmachen, für diese Greuelvorbereitungen enorme Steuern zahlen und in den Fabriken und Laboratorien dafür arbeiten. 30 Millionen Menschen sind heute in den Rüstungsindustrien beschäftigt, weitere 30 Millionen Menschen in den Armeen, 400000 Wissenschaftler in der Rüstungsforschung und Hunderte und Hunderte von Milliarden Dollar werden Jahr für Jahr dafür ausgegeben. Wir alle lassen das zu, wir alle machen mit und: "was der Mensch sät, das wird er ernten".

Dieser Krieg sei ein Ultimatum Gottes an die Menschheit, hat der Philosoph Max Scheler im 1. Weltkrieg gesagt, ein Ultimatum zur gründlichen Umkehr. Dann riefen die entsetzten Menschen kurze Zeit: "Nie wieder Krieg!" und dann hatten sie’s vergessen, dann machten sie wieder mit, dann kam der 2. Weltkrieg, und als die Mainzer 1945, soweit sie überlebten, aus den Trümmern hervorkrochen, dachten sie alle, nun dürfe sich das nie wiederholen - und nach ein paar Jahren machten sie, machen wir alle schon wieder mit und bereiten unsere eigene Endkatastrophe vor, Gottes Ultimatum in den Wind schlagend. Verweigerte Umkehr, das ist es, woran wir sterben werden. "Warum wollt ihr sterben?", fragt ein biblischer Prophet (Hesekiel 18,31 f.). "Kehrt um, so werdet ihr leben!"

Quelle: Junge Kirche . Eine Zeitschrift europäischer Christen,  8/9/1979, 40. Jahrgang, S. 58ff.

Veröffentlicht am

01. September 2009

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