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Theodor Ebert: Bedeutung der Friedenspädagogik in Schule und Jugendarbeit

Einführung in die Friedenserziehung

Von Theodor Ebert, Vortrag beim Friedenspädagogischen Impulstag der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Erfurt 15. Oktober 2013

Achtet auf das Notwendige und vertraut auf Eure Fähigkeiten!

Ich habe mir sagen lassen, dass die meisten Schüler hier vor dem Abitur stehen und wahrscheinlich in einem Jahr bereits studieren werden. Das wünsche ich Ihnen jedenfalls - und lassen Sie sich von keinem numerus clausus davon abhalten! In irgendeine Universität oder Fachhochschule kommen Sie schon rein. Der Notendurchschnitt beim Abitur sagt nicht viel über Ihre Fähigkeiten, sondern zeigt nur, wie weit sie bereit waren, sich den Vorgaben des Schulsystems anzupassen. Dass jedoch die optimal Angepassten später im Studium und Beruf die kreativsten Köpfe sind und sich um das Wohlergehen der Gemeinschaft besonders verdient machen werden, ist nicht sicher. Mich würden mal die Abiturzeugnisse der deutschen Nobelpreisträger interessieren. Und für verantwortliche Ämter in der Gesellschaft qualifiziert man sich auch nicht durch den Notendurchschnitt beim Abitur. Was wissen wir über die Abiturnoten von Willy Brandt?

Ich musste dies eingangs schon mal loswerden. Vor ihnen steht ein pensionierter Professor der Politischen Wissenschaft, der heute an dem Institut, an dem er fast vierzig Jahre gelehrt hat, nicht auf Anhieb studieren könnte, weil sein Notendurchschnitt zwischen zwei und drei lag. Das ist auch jetzt noch der Notendurchschnitt der Berliner Abiturzeugnisse. Eigentlich könnte man damit doch zufrieden sein.

Damit will ich jetzt nicht sagen, dass Sie sich nicht um einen guten Notendurchschnitt bemühen sollten. Man muss sich eben im Leben bisweilen auch an dumme Systeme anpassen und dem Affen Zucker geben und auf kreative Weise Lücken in den sozialen Mauern finden. Man darf sich nur von idiotischen Regelungen nicht den Schneid abkaufen lassen.

Das als Vorbemerkung. Diese hat sogar ein bisschen mit dem Inhalt meines Vortrags über Friedenserziehung zu tun.

Der lange Marsch zum Frieden

Bei meinen Einführungskursen zur Friedensforschung an der Freien Universität Berlin, am seit APO-Zeiten berüchtigten und heute eher zahmen Otto-Suhr-Institut, habe ich mit den Studenten kapitelweise Martin Luther Kings autobiographischen Bericht über den Busboykott in Montgomery im Jahre 1956 gelesen. Der amerikanische Titel dieses Buches ist "Stride toward Freedom". Ich möchte ihn mal übertragen mit "Der lange Marsch zur Freiheit". "Stride" bedeutet auch Kampf, Einsatz, Engagement. Also, Englisch-Kenntnisse sind schon ganz nützlich, aber da hatte ich auch eine Zeitlang eine Fünf, bis ich dann kapierte, wozu man Englisch brauchen kann und wie man englische Begriffe ins Deutsche überträgt und nicht wie ein Sprachcomputer übersetzt.

In diesem Bericht über den Busboykott von Montgomery, der darin bestand, dass die Schwarzen sich weigerten, die Busse zu benutzen, solange sie sich nicht auf alle freien Plätze setzen durften, gibt es eine Passage, in der es um das richtige Verständnis des Friedens geht.

Ich lese Ihnen jetzt aus diesem Buch eine Seite vor. Das ist jetzt ein bisschen wie in der Kirche. Da wird erst das Evangelium vorgelesen und dann predigt der Pfarrer darüber. Ich will - hoffentlich in aller Bescheidenheit - ähnlich verfahren.

Unter der Oberfläche hatte sich bis zum Jahre 1954 ein langsam schwelendes Feuer der Unzufriedenheit entwickelt, das durch die dauernde unwürdige Behandlung der Neger und durch die Ungerechtigkeiten, denen sie ausgesetzt waren, immer mehr geschürt wurde. Einige furchtlose Männer, die auf eigene Kappe protestierten, schufen die Atmosphäre für die soziale Revolution, die sich allmählich in den Südstaaten der USA, der sogenannten "Wiege der Konföderation" [hier erinnert King an den amerikanischen Bürgerkrieg] vorbereitete.

1954 merkte man - oberflächlich betrachtet - noch nichts von dieser Unzufriedenheit. Zu dieser Zeit nahmen die Neger und die Weißen das wohlgeordnete System der Rassentrennung noch als eine Selbstverständlichkeit hin. Kaum einer wagte es abzulehnen. Montgomery war eine beschauliche, man könnte auch sagen friedliche Stadt. Aber der Frieden war auf Kosten menschlicher Unfreiheit zustande gekommen.

Viele Monate später hielt mir einmal ein einflussreicher weißer Bürger von Montgomery vor: "Jahrelang hatten wir hier so friedliche und harmonische Beziehungen zwischen unseren beiden Rassen. Warum haben Sie und Ihre Anhänger sie zerstört?"

Meine Antwort war einfach. "Mein Herr", sagte ich, "Sie haben niemals wirklichen Frieden in Montgomery gehabt. Sie hatten eine Art negativen Frieden, bei dem der Neger meist seine untergeordnete Stellung einfach hinnahm. Aber das ist kein wirklicher Frieden. Nicht dann ist Frieden, wenn man nichts von Spannungen merkt, sondern wenn Gerechtigkeit herrscht. Wenn heute die Unterdrückten in Montgomery aufstehen und anfangen, sich um einen dauernden positiven Frieden zu bemühen, so ist diese Spannung notwendig. Das hat auch Jesus mit seinem Wort gemeint: Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert." Jesus wollte damit bestimmt nicht sagen, dass er gekommen sei, ein wirkliches Schwert zu bringen. Sondern etwa das. ‚Ich bin gekommen, diesen alten, negativen Frieden mit seiner tödlichen Passivität zu bringen. Ich bin gekommen, gegen einen solchen Frieden die Geißel zu schwingen. Wenn ich komme, gibt es Kampf und Konflikte zwischen dem Alten und dem Neuen. Wenn ich komme, scheiden sich Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Ich bin gekommen, einen positiven Frieden zu bringen, in dem Gerechtigkeit und Liebe wohnen, ja - ich bin gekommen, das Reich Gottes aufzurichten’."

Der Frieden zwischen den Rassen, wie er in Montgomery bestanden hatte, war kein christlicher Frieden. Es war ein heidnischer Frieden und er war zu einem zu hohen Preis erkauft worden.

Und dann schildert King den Zustand der Rassendiskriminierung in den Bussen von Montgomery. Die Weigerung, diese Diskriminierung bei der Sitzordnung in den Bussen weiter zu akzeptieren, hat einige Weiße so geärgert, dass sie mit Mord und Totschlag gegen die Schwarzen und auch gegen ihre weißen Helfer vorgingen. Manche von Ihnen haben wahrscheinlich den Film "Mississippi burning" gesehen. Wenn Sie die Erinnerungen Coretta Kings an ihren Mann lesen, dann wird Ihnen auffallen, dass immer wieder der Toten auf diesem langen Marsch zur Freiheit gedacht wird. Ihre Namen sind bekannt. Sie sind nicht vergessen - und als Friedensforscher ist mir wichtig, dass ihre Zahl überschaubar geblieben ist. Bei Bürgerkriegen gehen die Opferzahlen in die Tausende und die Zehntausende. Vergleichen Sie mal die Zahlen im Algerischen Befreiungskrieg und im indischen Befreiungskampf unter Gandhis Leitung!

Was hat dies mit uns, mit der Friedenserziehung in Deutschland und in Europa zu tun? Die meisten Deutschen sind keine Rassisten wie die Konföderierten in den Südstaaten der USA - auch wenn uns Bestseller wie Thilo Sarrazins "Deutschland schafft sich ab" und die NSU-Morde nachdenklich stimmen sollten. Zwischen den NSU-Morden und den Aktivitäten des KuKluxKlan gibt es Parallelen. Doch solch plumper Rassismus ist in Deutschland - nach den erschütternden Erfahrungen mit dem Antisemitismus - nicht länger mehrheitsfähig. Doch unser Problem wird sichtbar, wenn vor Lampedusa Hunderte von Flüchtlingen und Arbeitssuchenden im Mittelmeer ersaufen und unserem Bundesinnenminister nichts Besseres einfällt als die Grenzwachen zu verschärfen, die Abschiebungen zu effektivieren und die Schlepper als die Bösen anzuprangern.

Und das Schlimme ist: Es sieht so aus, als ob sich da nichts ändern wird. Es wird in Deutschland demnächst zu einer großen Koalition der Abwehrwilligen in der Festung Europa kommen. Mit einem flächendeckenden Mindestlohn von € 8.50 werden die sozialdemokratischen Gewissen ruhig gestellt. Dann ist alles paletti und über Flüchtlingspolitik, Armutsbekämpfung in Afrika und Waffenexporte in die Golfstaaten und die Kleinkaliberwaffen von Heckler & Koch in den Händen afrikanischer Kindersoldaten redet man nicht mehr. Ja doch, man redet noch ein bisschen darüber, aber man tut nichts dagegen. Dabei hatte Jesus bei den Seligpreisungen der Bergpredigt ausdrücklich die Friedensmacher (pacifici) und nicht die Friedensredner und die Friedenspreisträger im Auge.

Es gibt noch ein paar Störenfriede in den künftigen Regierungsparteien und in der Restopposition, bei den Grünen und bei der Linken. Doch etwas Effektives wird nicht getan. Das ist Muttis Friede. Und dieser Kanzlerkandidat der SPD, dem Wein unter 5 Euro für den Liter nicht mundet, der verkrümelt sich jetzt von der politischen Bildfläche. Und die Grünen servieren jetzt aufmüpfige Typen ab, weil diese mit dem Aussprechen unbequemer Wahrheiten und der Forderung nach mehr Steuergerechtigkeit nicht genug Stimmen eingefahren haben. Ich habe die Abschiedsrede von Claudia Roth gehört. Das hat mir weh getan. Das war nach dem Tod Petra Kellys der zweite Abschied der Gründergeneration der Grünen.

Der faule Friede und die ersten Schritte zum wahren Frieden

Wer sagt den Deutschen noch die Wahrheit wie ein Martin Luther King? Ich zitiere ihn noch einmal: "Nicht dann ist Frieden, wenn man nichts von Spannungen merkt, sondern wenn Gerechtigkeit herrscht." Und in Deutschland herrscht noch keine Gerechtigkeit, wenn ein Mindestlohn von € 8.50 durchgesetzt wird. Global gesehen sind auch die deutschen Arbeiter - und erst recht die deutschen Beamten und die Professoren mit ihren komfortablen Pensionen - privilegiert. Lenin sprach hier von "Arbeiteraristokratie". Ich bin kein Leninist und lehne Lenins Parteimodell ab, aber manche seiner analytischen Aussagen sind nicht von der Hand zu weisen.

Was ist in einer solchen Situation Friedenserziehung? Der erste Schritt ist, dass man die Verhältnisse analysiert mit dem Maßstab der sozialen Gerechtigkeit und der zweite Schritt ist dann, dass man überlegt, wie man die ungerechten Verhältnisse - und ich sage dies vorweg - mit gewaltfreien Mitteln ändern kann.

Zu den gewaltfreien Mitteln werde ich mich im zweiten Teil meines Referates noch äußern. Doch zunächst möchte ich auf die Hemmnisse hinweisen, die einer Analyse der Verhältnisse unter dem Gesichtspunkt lokaler und globaler Gerechtigkeit entgegenstehen.

Wenn es um die Gerechtigkeit schlecht steht, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass Menschen vom Typ des Michael Kohlhaas auftreten und mit Gewalt aufbegehren und die Verhältnisse zu ändern suchen. Wenn dies geschieht, dann ruft das Establishment auf zum "Krieg gegen den Terror". Das haben wir erlebt nach den spektakulären Anschlägen gegen die Twin-Towers in New York. Da setzte auch bei deutschen Politikern der Verstand aus. Da wurde von "uneingeschränkter Solidarität" gesprochen und dem militärischen Eingreifen in Afghanistan zugestimmt. Die Deutschen hatten einen neuen Feind, den "radikalislamischen Taliban", den unsere Verteidigungsminister von nun ab im Munde führten. Ich hätte Franz Josef Jung, die größte Pfeife unter den deutschen Verteidigungsministern, gerne mal gefragt, was er denn unter einem "radikalislamischen Taliban" versteht. Wäre dies nicht auch eine interessante Abiturfrage?

Die Terroristen können die amerikanische und die europäische Volkswirtschaft mit ihren Anschlägen nicht wirklich gefährden, aber ihre entsetzlichen Taten gegen Mitläufer des herrschenden Systems oder gegen einzelne Promis wie z.B. den Bankier Herrhausen können positive Gefühle, gar Sympathie, für die Träger des insgesamt ungerechten Systems mobilisieren. Und wenn jemand dann mahnt und empfiehlt, über die tiefer liegenden Ursachen des Terrors nachzudenken und diese Ursachen zu bekämpfen, wird er zum Naivling oder gar Sympathisanten des Terrors erklärt.

Ein Musterbeispiel für diese ideologische Form der Abwehr von Selbstkritik ist ein Sammelband Henryk Broders, eines Mitarbeiters des Magazins "Der Spiegel" und eines preisgekrönten Journalisten. Unter dem Titel "Kein Krieg, nirgends: Die Deutschen und der Terror" hat er eine Reihe von ansatzweise selbstkritischen Reaktionen auf 9/11 gesammelt und kommentiert. Er berief sich dabei auf einen Satz von Karl Kraus "Mein Herr, wenn Sie nicht schweigen, werde ich Sie zitieren." Im Zuge dieses Sammelns von Zitaten, hat er sich auch einen Beitrag von mir vorgeknöpft.

Ich stehe noch zu diesem Vortrag, den ich zwei Wochen nach 9/11 bei der Bürgerinitiative Freie Heide, die sich gegen einen Bombenabwurfplatz wandte, in der Kurt-Tucholsky-Gedenkstätte in Rheinsberg gehalten habe. Der Titel war "Pazifismus nach den Terroranschlägen in den USA". In: Gewaltfreie Aktion. Vierteljahreshefte für Frieden und Gerechtigkeit, Karlsruhe, Heft 129, 2001, S. 6-15. Rückblickend hielte ich es für eine pädagogisch sinnvolle Übung, Broders Kritik und meinen Vortrag aus dem Jahre 2001 nach den Erfahrungen der Interventionen in Afghanistan und dem Irak noch einmal zu lesen. Das Zitat von Karl Kraus könnte sich als Bumerang erweisen. "Mein Herr, wenn Sie nicht lernen, werde ich Sie zitieren." In den Jahren 2001 und 2002 trug Hendrik Broder bei seinen häufigen Auftritten im deutschen Fernsehen demonstrativ eine amerikanische Flagge am Revers. Jetzt sehe ich die Fahne bei ihm nicht mehr. Lernprozesse sind möglich. Man muss ja die sperrige Fahne nicht gleich zu verschlucken suchen, wie der Vater des Blechtrommlers das Hakenkreuz-Bonbon.

Kritik der Kriegspropaganda

Zur kritischen Friedenserziehung gehört unbedingt, sich mit der Propaganda zu befassen, mit welcher die Herrschenden ihre Ansprüche und ihr - angeblich alternativloses, obgleich völkerrechtwidriges - militärisches Eingreifen in andere Staaten zu rechtfertigen suchen.

Ein Höhepunkt dieser Propaganda-Lügen war am 5. Februar 2003 der Auftritt des amerikanischen Außenministers Colin Powell bei den Vereinten Nationen mit dem Versuch, im Irak die Bereitstellung von Raketen mit Massenvernichtungsmitteln nachzuweisen. Ich habe mir die Fernsehübertragung dieses Auftritts angesehen. Wenn man diese Sendung heute wiederholen würde? Wäre das peinlich! Was hätte Karl Kraus dazu gesagt? Als Pensionär hat sich Powell später dieses Auftritts geschämt und ihn als Schandfleck in seiner Karriere bezeichnet. Das spricht für Powell als Charakter, doch diese Show war nun mal bezeichnend für die Methode, mit der das Establishment das Volk hinters Licht führt, von Demokratie redet und Öl meint.

Den Verlauf der Intervention im Irak muss ich hier nicht nachzeichnen. Saddam Hussein wurde abgesetzt, gefasst und getötet. Hussein war ein übler Typ, doch mit einem Todesurteil war doch gar nichts gewonnen. Die militärische Intervention der USA im Bündnis mit den Willigen hat für die Masse der Iraker eine Verschlechterung der Lage gebracht.

Widerstand gegen Diktaturen

Angesichts solcher Erfahrungen wird derjenige, der sich mit Friedenserziehung befasst, die Frage stellen: Muss man sich mit der Existenz von üblen Diktaturen, die Menschenrechte verletzen, abfinden oder gibt es doch Möglichkeiten, sie zu überwinden?

Wenn man diese Frage so stellt, sollte man zunächst einmal unterscheiden zwischen den Diktaturen, die mit den reichen Ländern wirtschaftlich kooperieren und den anderen Diktaturen, welche uns keine wirtschaftlichen Vorteile bieten können.

Erstere brauchen sich vor militärischen Interventionen der reichen Länder nicht zu fürchten. Die Regierungen der reichen Industriestaaten reden viel von Demokratie, liefern aber den Diktatoren die Waffen zur Unterdrückung von gewaltsamen Aufständen. Bei den Panzerbestellungen der Saudis und anderer Ölpotentaten ist dies offensichtlich. Zu diesen Waffengeschäften werden Sie in den Koalitionsvereinbarungen bestimmt nichts finden.

Nun gibt es andere Diktaturen, die mit dem westlichen Establishment nur bedingt oder gar nicht kooperieren. Diese würde man dann gerne durch willigere Eliten ersetzt sehen. In Großbritannien und Frankreich und ansatzweise auch in den USA meinte man eine Zeitlang, diese könne in Syrien funktionieren. Mittlerweile graust es aber auch westlichen Regierungen vor der Zusammensetzung der syrischen Befreiungskämpfer und deren Gräueltaten, auch wenn in unserer Presse darüber nur ganz spärlich berichtet wird.

Was lehrt uns der "arabische Frühling"?

Nun haben einige aufrechte Demokraten in Europa und den USA sich zumindest über den arabischen Frühling gefreut, also über die zunächst erfolgreichen gewaltlosen Aufstände in Tunesien und Ägypten. Mein amerikanischer Kollege und langjähriger Freund, der Bostoner Konfliktforscher Gene Sharp, der ausschließlich gewaltfreie Methoden befürwortet, erhielt den Alternativen Nobelpreis. Das hat auch mich sehr gefreut. Sharp hat diese Anerkennung verdient, aber die ihn feierten haben die Probleme, einen gewaltfreien Aufstand in eine geordnete Demokratie zu überführen, unterschätzt. Man hat zu wenig getan, diese Demokratisierungsbewegungen in Tunesien und Ägypten zu unterstützen. Der deutsche Außenminister hat schöne Reden gehalten - ein wahrer König Silberzunge. Doch ihm fehlten die Instrumente und die Personen, diese gewaltfreien Aufstandsbewegungen zu unterstützen. Dem nächsten deutschen Außenminister wird es ähnlich gehen. Man kann nur noch hoffen, dass die Bundesregierung wenigstens die Finger von militärischen Abenteuern lässt. Da höre ich mittlerweile immer wieder sehr gefährliche Töne. Wenn der Bundespräsident von den Soldaten als den "Mutbürgern" spricht, und ich dabei an die Bomben auf die Tanklaster bei Kunduz denke, dann schaudert’s mich. Mit militärischen Mitteln können wir schlechterdings nichts Positives bewirken. Mission impossible. Da ist man auch bei allem Mut fehl am Platze.

Alternative: Ziviler Friedensdienst

Ich habe Anfang der 90er Jahre als Mitglied der Kirchenleitung von Berlin und Brandenburg vorgeschlagen, als Alternative zum Militärdienst einen zivilen Friedensdienst aufzubauen. Dieser Zivile Friedensdienst sollte sich um innere Konflikte kümmern - wie z.B. den Rechtsextremismus -, um junge Demokratien im Ausland und auch um die Landesverteidigung, falls diese denn notwendig werden sollte. Dieses Konzept ist nach einigen Einsprüchen auch unterstützt worden - allerdings in einer sehr abgeschwächten Form. Aus der Grundausbildung in gewaltfreiem Handeln für Zehntausende, die mir vorschwebte, wurde die Rekrutierung von wenigen hundert beruflich vorgebildeten Friedensfachkräften. Diese wenigen zivilen Fachkräfte konnten die Alternative zum Militär nur noch andeuten, aber nicht mehr effektiv praktizieren. Dazu hätte man viel mehr investieren müssen. Stattdessen haben wir mal wieder im Gefolge der Amerikaner eine halbe Milliarde Euro für Drohnen und ähnliches Kriegsgerät verpulvert.

Man stelle sich vor, wir hätten wirklich zehntausend ausgebildete Mitglieder des Zivilen Friedensdienstes gehabt und hätten sie nach Ägypten entsandt, um an den Universitäten und in den Dörfern beim Aufbau basisdemokratischer Strukturen zu helfen. Ich bin ziemlich sicher, dass es möglich gewesen wäre, die gewaltsamen Zusammenstöße zwischen Kopten und Muslimen zu verhindern und die gemäßigten Muslimbrüder für eine Kooperation zu gewinnen. Wie schwierig das ist, aber was auch möglich ist, zeigt der lebenslange Einsatz Gandhis für die Zusammenarbeit von Hindus, Christen und Muslimen.

Bei einer Erkundungsreise in den Kosovo habe ich den Eindruck gewonnen, dass die ganz wenigen Mitarbeiter des Zivilen Friedensdienstes dort gute Arbeit machen, aber ihre Zahl zu gering ist, um den tief sitzenden Animositäten zwischen Serben und Kosovaren und der Diskriminierung der Roma zu begegnen.Th. Ebert: Vor Ort mit dem Zivilen Friedensdienst. Spätsommerliche Reise ins frühere Jugoslawien. Karlsruhe: Gewaltfreie Aktion, Heft 152, 3. Quartal 2007, erschienen im Mai 2008, 47 S.

Ich behaupte nicht, dass der Zivile Friedensdienst das Allheilmittel für die Friedensprobleme ist. Er kommt hier auf die flankierenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen an. Doch wenn man zu einer selbstkritischen Analyse kommt und sich klar macht, dass wir die Mittel ganz massiv umverteilen und die Prioritäten ganz neu setzen müssen, dann kann man auch echte Friedenspolitik im Sinne Martin Luther Kings machen.

Das bedeutet aber, dass wir Bürger, also auch Sie als die künftigen Abiturienten, durch eigene Anstrengungen deutlich machen: Wir haben etwas Neues vor! Ihr Politiker, lasst euch gesagt sein: Die strittigen Themen eures letzten Wahlkampfes sind wirklich nur Pipifax angesichts der weltweiten Herausforderungen!

Eigentlich kann man sich nur noch schämen für Deutschland. Das Gequatsche der Politiker und die Kommentare der Hofberichterstatter über die Koalitionsverhandlungen gehen mir mehr und mehr auf den Docht. Wo bleibt das Gespür für das, was eigentlich an der Zeit ist?

Wolfgang Thierse, der frühere Bundestagspräsident, wird am 14. November in Berlin bei der Friedrich-Ebert-Stiftung über "Moral als Maßstab politischen Handelns?" sprechen. Man darf gespannt sein, was ihm nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag dazu einfällt.

Ich wünschte mir, es gäbe in der Bundesrepublik Menschen wie Martin Luther King, die uns deutlich machen, dass wir unserer Verantwortung nicht gerecht werden und dass wir auf dem falschen Dampfer sind, wenn wir uns einbilden, wir könnten so weitermachen wie in den letzten Jahren und in erster Linie darauf achten, dass der Export stimmt und wir dann auf Teufel komm raus konsumieren können.

Die Verantwortung der nachwachsenden Generationen

Doch was bedeutet dies für einen jungen Menschen, der nach dem Abitur doch in erheblichem Umfang sein Leben planen kann?

Er muss es vor allem wagen, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen und die Verhältnisse unter globalen Gesichtspunkten selbständig zu analysieren. Er muss aufhören, sich von Mutti Angela einreden zu lassen, dass es uns gut geht und dass wir dies auch verdient haben, weil wir so tüchtig sind und hart arbeiten.

Wir dürfen aber nicht bei der Analyse, die gar so leicht im Zynismus endet, stehen bleiben, sondern wir sollten anfangen, mit einem alternativen Leben zu experimentieren. Diese Experimente sollten sich an dem legitimieren, dass in ihrem Verlauf zuvorderst gefragt wird: Ist das, was ich hier tue, auf die Armen dieser Erde übertragbar oder nutze ich hier schamlos eine privilegierte Position?

So zu fragen ist auch intellektuell anstrengend. Man muss sich Informationen und praktische Alternativen erarbeiten, die nicht auf dem Markt und vielleicht auch nicht auf den Lehrplänen der Universitäten angeboten werden.

Ich nehme jetzt mal das Beispiel "Ziviler Friedensdienst". Sie können sich sagen: Ich will mein Studium so ausrichten, dass es mich befähigt, in einem Zivilen Friedensdienst aktiv zu werden. Möglich ist dies.

Aus Zeitgründen kann ich Ihnen jetzt nicht das Curriculum einer Ausbildung für den Zivilen Friedensdienst vorstellen. Hier muss auch noch experimentiert werden. Ich habe am Otto-Suhr-Institut mehrfach Trainings in gewaltfreier Konfliktaustragung angeboten und die Studenten und auch ich haben die dabei gesammelten Erfahrungen in Tagebüchern und Berichten über die Trainingseinheiten festgehalten. Das Ziel war es, die Übungen so exakt zu beschreiben, dass sie auch von nicht Beteiligten aufgegriffen, nachgeahmt und verbessert werden konnten. Das lässt sich nachlesen in meinem Buch "Ziviler Friedensdienst - Alternative zum Militär. Grundausbildung im gewaltfreien Handeln", Münster: Agenda Verlag, 1997.Das im Buchhandel vergriffene Buch von Theodor Ebert kann auf der Lebenshaus-Website heruntergeladen werden. Siehe hierzu:  Theodor Ebert: Ziviler Friedensdienst - Alternative zum Militär .

Für den Zivilen Friedensdienst gibt es keine so gesicherten Arbeitsplätze wie zum Beispiel für junge Ärzte. Zur Ausbildung zum Zivilen Friedensdienst gehört auch, dass die Auszubildenden und die Lehrkräfte parallel auf den politischen Willensbildungsprozess so einwirken, dass diese Arbeitsplätze entstehen.

Mehrere meiner Studenten haben solche Arbeitsplätze für gewaltfreie Basisaktivisten selbst kreiert. Da gab es Durststrecken, und reich ist noch keiner geworden, aber es gab immer wieder Institutionen und einzelne Menschen, die froh waren, dass es solche gewaltfreien Basisarbeiter und Trainer in gewaltfreier Aktion gibt und dass man sie engagieren kann. Es gibt heute kaum mehr eine große Initiative (NGO), die nicht mit solchen Profis arbeiten möchte. Doch wenn man den Zivilen Friedensdienst groß aufziehen will, braucht man noch viel mehr Trainer. Für zehn Auszubildende braucht man mindestens einen Trainer.

Ich behaupte nicht, dass diese Selbstausbildung zum gewaltfreien Basisaktivisten die Lösung für das Problem des Aufarbeitens der moralischen Defizite unserer Gesellschaft ist, aber ich bin sicher, dass wir die Verhältnisse nicht ändern können, wenn es dieses Reservoir von qualifizierten gewaltfreien Ökoaktivisten und Friedensarbeitern nicht gibt.

Eine der letzten Dissertationen, die ich am Otto-Suhr-Institut vergeben habe, galt dem Leben eines solchen Basisaktivisten: Ulrich H. Philipp: Politik von unten. Wolfgang Sternstein. Erfahrungen eines Graswurzelpolitikers und Aktionsforschers, Berlin: NORA-Verlagsgemeinschaft, 2006. Sternstein hat nun auch selbst noch einen Erfahrungsbericht vorgelegt: "Atomkraft - nein danke!". Der lange Weg zum Ausstieg, Frankfurt: Brandes & Apsel, 2013. Ich möchte dieses Buch Martin Luther Kings Bericht über den Busboykott in Montgomery an die Seite stellen.

Wir brauchen solche ermutigenden Berichte - und es ist gut zu wissen, dass aus der Außerparlamentarischen Opposition oder auch aus der Bürgerrechtsbewegung in der früheren DDR nicht nur sich anpassende Opportunisten hervorgegangen sind, sondern Leute, die den langen Marsch durchgehalten haben und eben nur manchmal sehr traurig sind, dass es so langsam vorangeht und dass es nicht mehr sind, who are still on the road, die immer noch unterwegs sind.

Fußnoten

Veröffentlicht am

12. November 2013

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