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Zäsur: Höllenfahrt am Hindukusch

Die Politik hat den Krieg in Afghanistan stets verdrängt. Nun wurde das Lager Kunduz geräumt. Es wird endlich Zeit, die richtigen Konsequenzen zu ziehen

Von Lutz Herden

Die Eröffnungsbilanz der afghanischen Demokratie wird am 5. April 2014 fällig. An diesem Tag soll ein neuer Präsident gewählt und eine Reifeprüfung bestanden werden. Versinkt das Land bei diesem Votum wie 2009 erneut in Anarchie und Chaos, provozieren die Taliban einen Sturm des Aufruhrs, kommt keine legitimierte Regierung zustande - dann hätte man es freilich eher mit einer Schlussbilanz nach zwölf Jahren westlicher Militärpräsenz zu tun. Sie fiele aus wie allenthalben erwartet. Die NATO wäre aus dem Abzugsrhythmus gebracht und müsste entscheiden, ob ihre von 2015 bis 2024 geplante Beratungsmission Resolute Support vorgezogen und aufgestockt wird. Für die Bundeswehr hieße das, sich für den erneuten Einstieg nach dem Ausstieg zu rüsten. Schließlich hat die Regierung Merkel im vergangenen April zu verstehen gegeben, man bleibe mit etwa 800 Mann weiter dabei.

Das Ausschwärmen deutscher Soldaten nach Afghanistan trug bisher manches Etikett. Aus der "humanitären Stabilisierungsmission" wurde erst ein "robuster Stabilisierungseinsatz", wurde ein "nicht-internationaler bewaffneter Konflikt", wurden "kriegsähnliche Zustände", wurde "ein Krieg am Hindukusch". Gibt es zu guter Letzt eine "Geschichte ohne Ende"? Niemand wäre überrascht. Man konnte sich darauf verlassen, dass die Reflexion dieses Kampfeinsatzes seiner Realität stets hinterherhinkte. Wohl auch sollte. Irgendwann allerdings erschien es nur noch absurd, Gefallene zu beklagen und den Krieg zu bestreiten.

Nun ist die Bundeswehr aus ihrem wichtigsten und größten Feldlager Kunduz abgezogen. Zweifellos eine Zäsur in diesem unglückseligen Krieg. Wollte Verteidigungsminister Thomas de Maizière dem Brauch der Verdrängung endgültig abschwören, als er dort zum Abschied Klartext redete? Die Bundeswehr habe am Hindukusch "kämpfen gelernt", teilte er mit. Nicht nur das, wäre anzufügen, ebenso das Töten und Sterben, Stöhnen und Schreien, Schützen und Helfen, Angreifen und Abziehen. Diese Höllenfahrt hatten allein die Soldaten zu überstehen, nicht der Minister mit dem Stahlhelm am Gurt. Nur sie werden wissen, ob es richtig war, das eigene Leben im Namen eines Landes zu riskieren, das diesen Krieg zwölf Jahre lang verdrängt hat, anstatt ihm keinen Tag zu gönnen.

Ein paradigmatischer Vorgang

Es bietet sich an, vom Herbst 2013 auf den Herbst 2001 zu blicken, als alles begann. Die USA waren entschlossen, sich Genugtuung für den Terroranschlag vom 11. September zu verschaffen. Rache und Strafe galten als Raison d’Être einer von der Bush-Administration für unverzichtbar gehaltenen Reaktion auf die erlittene Demütigung. Da in Kabul seit 1996 mit den Taliban mutmaßliche Gesinnungsfreunde der Attentäter herrschten, die Flugzeuge ins World Trade Center gesteuert hatten, empfahlen sich diese Jünger Allahs als nächstliegendes Ziel. Sie zu züchtigen, hieß zunächst nicht mehr, als ihre Regierung zu stürzen und durch ein Besatzungsregime zu ersetzen. Wer ihre Macht brechen wollte, musste jedoch weiter gehen und sich auf einen asymmetrischen Krieg einlassen, wie es ihn bis dahin noch nie gab. Genau da wurde aus dem Waffengang ein paradigmatischer Vorgang: Es kam zum längsten, opferreichsten, zermürbendsten Schlagabtausch dieser Art im 21. Jahrhundert. Die USA und ihre Verbündeten stießen auf einen Gegner und an Grenzen, mit denen sie so nicht gerechnet hatten. Heute wird gern das Argument bemüht, von Anfang an sei die Strategie des Westens grundfalsch gewesen. Ein Feldzug gegen den Terror lasse sich eben nicht mit militärischen Mitteln allein gewinnen. Die zivilen und zivilisatorischen Komponenten einer Befriedung Afghanistans fristeten ein Schattendasein. Auch musste man begreifen: Wer Demokratie-Export auf Fremdbestimmung gründet, landet wieder in Vietnam.

Als entscheidend für das Scheitern an der afghanischen Wirklichkeit erwies sich jedoch der Umstand, dass dieser Krieg für die NATO eine Nummer zu groß war. Von den beteiligten Staaten, vielleicht mit Ausnahme der USA, wurde entweder nicht begriffen oder ignoriert, was er heraufbeschwor - eine elementare, unbarmherzige, destruktive Herausforderung, bei der es nur die Alternative gab: annehmen oder ausschlagen. Und die Tatsache respektieren, dass westliche Gesellschaften materiell wie mental längst zu verwundbar, zu hedonistisch, zu unheroisch und selbstversessen sind, um Ressourcen zu mobilisieren, die es braucht, asymmetrische Kriege nicht nur anzetteln und führen, sondern durchstehen und gewinnen zu können.

Afghanistan mutet an wie eine vorletzte Chance, daraus Konsequenzen zu ziehen. Durch Augenmaß und Vernunft. Was schwerfällt. Denn der Krieg gegen den Terror und der Hang, sich in eine Wagenburg zurückzuziehen, sind konstitutive Elemente abendländischer Selbstvergewisserung. Westlicher Wohlstandschauvinismus produziert Gegenspieler zuhauf und will ihnen nichts schenken, ob sie als Wirtschaftsflüchtlinge übers Mittelmeer kommen oder durch Drohnen getötet werden. Aus Destruktion wird Reproduktion, so jedenfalls der Glaube, solange der Sumpf nicht die verschlingt, die drin waten. Die Bundeswehr hat in Afghanistan den Anspruch auf einen strategischen Irrtum verteidigt und wurde selbst ein Teil davon. Deshalb muss sie gehen. Und deshalb wird sie bleiben.

Quelle: der FREITAG vom 23.10.2013. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

23. Oktober 2013

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