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Uri Avnery: Ovadjas Entscheidung

Von Uri Avnery, 12. Oktober 2013

ALS RABBI Ovadja Josef zum ersten Mal die nationale Szene betrat, seufzte ich tief erleichtert auf.

Dies war ein Mann, von dem ich bis dahin nur geträumt hatte: ein charismatischer Führer der orientalischen Juden, ein Mann des Friedens, Träger einer gemäßigten religiösen Tradition.

Alle nannten ihn "Rabbi Ovadja"- diese Woche ist er im Alter von 93 Jahren gestorben. Er wurde in Bagdad geboren, kam als 4-jähriger nach Palästina und erwarb sich große Achtung als Religionsgelehrter. Im Krieg von 1948 war er Oberrabbi von Ägypten, später wurde er der sephardische Oberrabbi von Israel. Als er wegen einer obskuren politischen Intrige in der neuen Amtszeit sein Amt nicht fortführen durfte, gründete er die neue politische Partei Schass, die schon bald zu einer Kraft in der israelischen Politik wurde.

Zum ersten Mal zog er meine Aufmerksamkeit auf sich, als er, im Gegensatz zu anderen bekannten Rabbinern, entschied, dass das jüdische Gesetz, die Halacha, zulasse, um des Friedens willen Teile von Eretz Israel aufzugeben. "Leben retten" habe Vorrang.

BEVOR WIR fortfahren, wollen wir einige Begriffe erklären. "Sephardisch" und "orientalisch" werden oft miteinander verwechselt. Sie bedeuten jedoch nicht ganz dasselbe.

Sepharad bedeutet Spanien. Sephardische Juden sind die Nachkommen der Juden, die von Ihren allerkatholischsten Majestäten Ferdinand und Isabella 1492 aus Spanien vertrieben worden waren. Fast alle scheuten vor dem christlichen antisemitischen Europa zurück und siedelten sich in Ländern unter ihnen wohlwollender muslimischer Regierung zwischen Marokko und Bulgarien an.

Das Osmanische Reich gründete sich auf das Millet-System: religiös-ethnische Gemeinschaften, die sich selbst durch ihre eigenen Führer, Gesetze und Traditionen regierten. Die Juden im ganzen Reich wurden vom Hacham Bashi, dem Oberrabbiner, regiert, der natürlich Sepharde war. Das war ein säkulares Amt, denn im jüdischen Gesetz gibt es keinen Oberrabbiner, keinen jüdischen Papst. Alle Rabbiner sind gleich, jeder Jude kann dem Rabbi seiner Wahl folgen.

Als die Briten übernahmen, fühlten sie sich bewogen, auch einen aschkenasischen Oberrabbiners zu ernennen. Seitdem haben wir in diesem Land zwei Oberrabbiner, einen sephardischen und einen aschkenasischen, und beide halten die Traditionen ihrer jeweiligen Gemeinde aufrecht.

Die überwiegende Mehrheit der Juden aus islamischen Ländern sind jedoch nicht Sepharden. Heutzutage nennen sie sich lieber "Misrahim" (östlich, orientalisch). Die Bezeichnungen sephardisch und orientalisch überschneiden sich jedoch und sie bedeuten jetzt mehr oder weniger dasselbe.

DIE ANZAHL der Menschen, die am Begräbnis Rabbi Ovadjas teilgenommen haben, ist auf 800 Tausend geschätzt worden - das sind mehr als die gesamte jüdische Bevölkerung im Land an dem Tag, an dem der Staat Israel gegründet worden ist. Auch wenn man annimmt, dass die Zahl weit übertrieben ist, war dieses Begräbnis doch ein außergewöhnliches Ereignis. Jerusalem war praktisch lahmgelegt, der Wagen mit dem Leichnam erreichte den Friedhof nur mit Mühe.

Alle diese Hunderttausende - alles Männer - trugen die "Uniform" der orthodoxen Juden: schwarze Anzüge, weiße Hemden, große schwarze Hüte. Viele weinten und klagten. Es grenzte an Massenhysterie.

Die Lobreden der religiösen und säkularen Führer und Kommentatoren kannten keine Grenzen. Rabbi Ovadja wurde der größte sephardische Jude der letzten 500 Jahre genannt, ein "Großer in der Thora", dessen Lehren in den kommenden Jahrhunderten widerhallen würden.

Ich muss gestehen, dass ich seine Größe als religiöser oder nicht religiöser Denker nie so ganz eingesehen habe. Er erinnerte mich immer an das, was Jeshujahu Leibowitz mir einmal gesagt hat: Die jüdische Religion ist vor 200 Jahren gestorben und hat nichts als eine leere Hülle von Ritualen hinterlassen.

Rabbi Ovadja schrieb 40 Bücher voller Urteile und Auslegungen des religiösen Gesetzes. Während aschkenasische Rabbiner die Neigung haben, den Menschen die Übereinstimmung mit religiösen Anordnungen zu erschweren, hatte Josef die Neigung, sie ihnen zu erleichtern. Darin folgte er der orientalischen Tradition, die (ebenso wie bis vor Kurzem der Islam) immer viel gemäßigter war.

Josef erlaubte Witwen gefallener Soldaten, sich wieder zu verheiraten (das war unter der Halacha eine schwierige Prozedur). Er entschied, dass die äthiopischen Falaschen Juden seien und ermöglichte ihnen damit, dem Rückkehrgesetz gemäß, nach Israel zu kommen. In unzähligen Einzelfällen erleichterte er es Menschen, strenge Einschränkungen zu umgehen. Da in Israel viele Privatangelegenheiten - z. B. Heirat und Scheidung - durch das von Rabbinern verwaltete Religionsgesetz bestimmt werden, war das auch für die Säkularen wichtig.

Aber ein tiefer Denker? Ein moderner Weiser? Daran habe ich doch meine Zweifel. Ein Kommentator wagte darauf hinzuweisen, der neue Papst habe in nur wenigen Monaten mehr getan, um die theologischen und sozialen Anschauungen der Kirche zu verändern, als Rabbi Ovadja in seinem ganzen Leben. Das Reformjudentum hat weit mehr dazu getan, das Judentum zu modernisieren, als Josef.

ABER MEINE anfängliche Hochachtung für den Rabbi und meine anschließende Enttäuschung über ihn betreffen nicht die religiösen Fragen.

Rabbi Ovadja war eine gewaltige Gestalt in der israelischen Politik. Fast die Hälfte aller israelischen Bürger ist orientalischer Herkunft. Bis zu Josefs Auftreten waren sie eine unterprivilegierte Klasse, weit von den Machtzentren entfernt, oft gedemütigt und ziemlich uneinig untereinander. Alle Versuche, sie zu einer politischen Kraft zu machen, waren kläglich gescheitert.

Und dann kam der Rabbi. Er gründete eine mächtige Partei, die in der israelischen Politik oft als Schiedsrichter diente. Er gab den orientalischen Juden die verlorene Würde zurück. Er vereinigte sie. Es war eine große Leistung.

Aber wofür? Ich hatte gehofft, dass die orientalischen Juden, wenn sie erst einmal ihre Selbstachtung zurückgewonnen hätten, sich ihrer Vergangenheit, des Goldenen Zeitalters der jüdisch-muslimischen Zusammenarbeit im mittelalterlichen Spanien, erinnern würden. Dort hatte die jüdische Dichtung in arabischer Sprache geblüht, als der große Religionsdenker Moses Maimonides Leibarzt des muslimischen Führers Saladin gewesen war, der die Kreuzfahrer besiegte.

In dieser Hoffnung wählte ich Josefs Schützling und politischen Bannerträger Arje Deri im zarten Alter von 29 Jahren zum Mann des Jahres meines Nachrichtenmagazins. Wie sein Meister war der in Marokko geborene Deri ein Mann des Friedens und befürwortete offen eine Einigung mit den Palästinensern.

Aber der Traum verflog. Die Schass-Partei richtete sich immer stärker nach rechts aus und förderte eine extreme, antiarabische Politik. Der Rabbi, der ein großer Experte in arabischen und hebräischen Verwünschungen war, verwünschte die Araber ebenso wie seine jüdischen Gegner. (Einmal verkündete er, dass der Tag von Shulamit Alonis Tod ein Festtag für ihn sein werde. Die Führerin der Linken Aloni feierte bei Josefs Tod kein Fest.)

Es gibt viele psychologische und soziologische Gründe dafür, dass sich die orientalische Gemeinschaft gegen die Araber und gegen den Frieden wendet. Das ist nicht nur Josefs und Deris Schuld. Aber sie taten überhaupt nichts dagegen. Im Gegenteil: Sie heulten mit den Wölfen und beschleunigten damit den Prozess.

Rabbi Ovadja regierte die Schass-Partei wie ein Papst die Kurie: salbte ihre Führer und setzte sie nach Gutdünken ab. Die Partei hat keine demokratischen Institutionen und es gibt keine innerparteilichen Wahlen. Der Rabbi fällte alle Entscheidungen allein. Indem er dem antiarabischen Chorus beitrat, beging er eine schwere Sünde. Allerdings widerrief er niemals sein Urteil, dass besetzte Gebiete aufgegeben werden dürften, um Leben zu retten.

DA SCHASS die Partei der Unterdrückten ist, hätte man erwarten können, dass sie wenigstens zur Führerin sozialer Proteste werden würde.

Und tatsächlich redeten Rabbi Ovadja und seine Untergebenen endlos über die Not der orientalischen Massen, die Armen und Benachteiligten. Aber im wirklichen Leben taten sie überhaupt nichts, um durch Regierungspolitik, Sozialreformen, Stärkung des Wohlfahrtsstaates und dergleichen diese Not zu lindern. Tatsächlich beschuldigten ihre Gegner sie, dass sie ihre Wähler absichtlich in Unwissenheit und Armut ließen, um sie im Zustand der Abhängigkeit zu halten.

In der Tat benutzen Ovadja und seine Partei ihre beträchtliche politische Macht, um immense Geldsummen für ihr vom Staat unabhängiges Bildungssystem und für nichts sonst von der Regierung zu erpressen. Dieses System erstreckt sich vom Kindergarten bis zu den höheren Jeshivot. Dort werden ausschließlich heilige Texte gelehrt, etwa so, wie in einer muslimischen Madrasa. Ihre Abgänger sind nicht dazu fähig, sich in den normalen Arbeitsprozess einzugliedern. Und natürlich dienen sie nicht in der Armee.

Als Benjamin Netanyahu am Tag nach dem Begräbnis Familie Josef seinen Beileidsbesuch abstattete, sprachen die Söhne mit ihm weder über Frieden noch über Sozialreformen. Sie sprachen nur über den üblen Plan, ihre Jugendlichen zum Dienst in der Armee einzuziehen.

Böse Zungen sprechen davon, die Familie Josef herrsche über ein riesiges Wirtschaftsimperium, das sich auf die Koscher-Beglaubigungs-Industrie gründe. Bewunderer Rabbi Ovadjas bestehen darauf, dass ihre Nahrungsmittel von seinen Vertrauenspersonen als streng koscher beglaubigt werden - das hat natürlich seinen Preis. Niemand weiß, wie viel Kapital das Familie-Josef-Imperium angesammelt hat.

FÜR NICHT ORTHODOXE jüdische Israelis, die immer noch die Mehrheit ausmachen, war Rabbi Ovadja eine exzentrische, recht liebenswerte Persönlichkeit.

Das Fernsehen mochte es, wenn er allen seinen Besuchern - ganz gleich, ob hoch oder niedrig - einen liebevollen Klaps ins Gesicht verabreichte. Seine Verwünschungen gehören inzwischen zur israelischen Folklore. (Netanyahu nannte er einmal eine "blinde Ziege".)

Durch seine Kleidung war er unverwechselbar. Auch als er schon aus seinem Posten als sephardischer Oberrabbiner entlassen worden war, bestand er bis zu seinem Lebensende darauf, die zu diesem Amt gehörende goldbestickte türkische Uniform zu tragen.

Wie die meisten Führer seiner Art hinterlässt er keinen Nachfolger. Es gibt eben keinen zweiten Rabbi Ovadja und es wird lange Zeit keinen geben. Um auf persönliche Führerschaft, Charisma und Gelehrsamkeit eine Autorität aufzubauen, braucht es Jahrzehnte. Kein Kandidat dafür ist in Sicht. Nicht einmal das Überleben der Schass-Partei unter Deri ist sichergestellt.

Für mich ist es eine traurige Geschichte. Israel schreit förmlich nach einem großen sephardischen Führer, der dazu fähig ist, die Massen für Frieden und sozialen Fortschritt zu mobilisieren. Ich hoffe, er wird doch noch vor dem Messias erscheinen.

Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler

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Veröffentlicht am

12. Oktober 2013

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