Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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“I have a dream”. Das Erbe Martin Luther Kings

Von Theodor Ebert - Vortrag beim Bildungswerk der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland in Magdeburg am 12. Sept. 2013 - in Kooperation mit dem Lothar-Kreyssig Ökumenezentrum

Parolen und Bilder in der Geschichte

Zeitgeschichte wird immer wieder verdichtet auf bestimmte Parolen und Bilder. Ich komme aus Berlin. Dort wurde kürzlich einer Rede John F. Kennedys am Schöneberger Rathaus gedacht und daraus des berühmten Satzes, den Kennedy auf deutsch gesprochen hat: "Ich bin ein Berliner". Einer anderen Parole gedenken wir heute Abend - ausgesprochen und angeblich sogar improvisiert im Laufe der Rede beim Marsch in Washington am 28. August 1963: "I have a dream". Und neben solchen historischen Sätzen gibt es auch Bilder, die das Bewusstsein von Nationen zu prägen vermochten. Ich denke hier an die Einschläge der beiden Passagiermaschinen in die Twin Towers in New York am 11. September 2001 und ich denke an die Fernsehbilder von der Öffnung der Berliner Mauer im November 1989.

Diese Parolen und Fotos verdichten Zeitgeschichte, aber sie verkürzen diese auch durch Weglassen und Aussparen. Das gilt auch für die Passage "I have a dream" in Kings Rede in Washington. Sie hat ein Bild des künftigen Amerika beschworen, das auf Versöhnung hoffen ließ. Ich will diese Passage vorlesen. Und ich wünschte, ich hätte nur annähernd die Ausdrucksfähigkeit des größten Redners, den Amerika gekannt hat.

"Trotz der Schwierigkeiten von heute und morgen habe ich einen Traum: Es ist ein Traum, der tief verwurzelt ist in dem amerikanischen Traum. Ich habe den Traum, dass eines Tages diese Nation sich erheben und der wahren Bedeutung ihres Credos gemäß leben wird: Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich erschaffen sind.

Ich habe den Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.

Ich habe einen Traum, dass eines Tages selbst der Staat Mississippi, ein Staat, der in der Hitze der Ungerechtigkeit und in der Hitze der Unterdrückung verschmachtet, sich in eine Oase der Freiheit und Gerechtigkeit verwandelt.

Ich habe den Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilten wird.

I have a dream!"

Ich bin zwanzig Jahre später auf Einladung der United Church of Christ - der amerikanischen Partnerkirche der Evangelischen Kirche der Union - vier Wochen durch die USA gereist und habe an mehreren Orten als Friedensforscher Vorträge gehalten und gelegentlich sogar gepredigt. Man studiert in den USA zwar auch Theologie, aber die Amerikaner zeigten - in ein Weltkind wie mich - erstaunliches, urchristliches Vertrauen in das Wirken des Heiligen Geistes.

Die amerikanischen Gastgeber haben mir nicht nur ihr Land gezeigt, sondern mich auch mit bildenden Künstlern - Malern und Bilderhauern - bekannt gemacht. Und in einer Ausstellung habe ich ganz spontan eine farbig gefasste Holzplastik erworben, in der ich eine witzige Realisierung von Kings Traum des Tisches der Brüderlichkeit auf den roten Hügeln von Georgia erblickte. Der aus Kuba stammende Künstler ist sogar noch einen Schritt weiter gegangen als King: Er hat die Szene von den Hügeln Georgias an den Strand von Cape Cod verlegt und hat aus den Brüdern einen weißen Mann und eine schwarze Frau gemacht, ein Paar, in dem gewissermaßen die Frau die Hose anhat und es sich schmecken lässt, während er etwas missmutig die Schnute nach unten zieht, was nicht bedeuten muss, dass die beiden unglücklich sind, aber doch dass zu Amerika nicht nur die Arroganz der Macht, sondern auch Selbstironie und ein Schuss Humor gehören. Am 22. Oktober 1982 schrieb ich dazu an meine Familie: "Nach dem Mittagessen, das hier in der Regel nur aus einem Sandwich und Salat besteht, holte mich dann Peter Kingsbury, der Leiter des örtlichen Friedenskomitees ab. Er unterrichtet Kunst an der wohlbetuchten Oberschule von New Canaan. Das Angebot ist fabelhaft: gezeichnet, gemalt und kollagiert wird in großen Formaten, Hell- und Dunkel-Studien, in Pastell, mit Ölfarben auf Leinwand. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. In der Eingangshalle hängen Bilder von Absolventen der Schule, welche die Schule mit Geldern aus einer Stiftung angekauft hat. Einige sind jetzt schon bekannte Maler. Peter unterrichtet neben Zeichnen vor allem künstlerisches Fotografieren und Filmen. Er nahm mich dann auch noch mit in eine private Fotoschule, das Hobby des Erfinders der Spraydosen. Dort stellte ein bekannter Fotograf aus. In Amerika werden handsignierte Fotos regelrecht auf dem Markt gehandelt. Das sei berechtigt, weil das Kopieren künstlerischer Fotos außerordentlich schwer sei. Da kommt man sich als normaler Knipser ganz klein vor.
Zum Höhepunkt des Ausflugs wurde dann der Besuch einer Ausstellung amerikanischer Volkskunst im Silvermine Guild Center for the Arts. Bei den Amerikanern gibt es eine natürlichere Verbrüderung zwischen akademischer Kunst und Volkskunst. Der akademische Künstler greift auch typische Themen der Volkskunst auf. Wie bei uns gibt es aber auch hier gestelzte Naivität und den Kitsch der aufgemotzten Farben und manirierten Formen. Ich bilde mir ein, allmählich Kunst von Kitsch und bravem Handwerk unterscheiden zu können.
Ich schreibe dies, um mir selbst etwas Mut zu machen. Ich muss etwas gestehen. Auf dieser Ausstellung habe ich eine bemalte Holzplastik erstanden, deren Dimensionen uns beim Einpacken dann doch einiges Kopfzerbrechen bereitete. Sie füllte den Kofferraum des VW-Golf vollständig aus. Das tut aber der Begeisterung von Peter und mir keinen Abbruch. Ich hatte die Plastik zuerst nur zu fotografieren versucht - ein ziemlich aussichtsloses Unternehmen mit der Pocketkamera - und war dann immer wieder zu ihr zurückgekommen. Sie gefiel mir von Mal zu Mal besser. Doch an einen Ankauf wagte ich zunächst kaum zu denken. Es war eine laufende Ausstellung. Ich konnte nicht annehmen, dass ich die Plastik gleich mitnehmen dürfte. Und wie sollte ich sie später holen? Glücklicherweise war eine der Hauptverantwortlichen des Kunstvereins da. Ihr war es wichtig, dass ein solches Beispiel amerikanischer Volkskunst mal nach Europa kommt.
Mich erinnerte die Plastik an Martin Luther Kings Traum, dass einmal die weißen und die schwarzen Kinder gemeinsam auf den roten Hügeln von Georgia sitzen werden. Also, nun stellt Euch vor, diese Kinder werden älter, geraten etwas außer Form und fahren an die Küste zum Baden. Und da sitzt nun so ein Paar Rücken an Rücken. Sie ist schwarz, eine kolossale Erscheinung und mampft selbstsicher einen Kuchen; er ist weiß, ein schmächtiges Bürschlein und etwas verdrießlich. Stilistisch ähnelt das Paar polnischen Holzplastiken. Der Künstler heißt Pucho Odio, wurde 1928 in Kuba geboren, war zunächst Handwerker und arbeitet jetzt in New York, gehört jedoch nicht zu den Arrivierten. Das Ding kostete $ 850, was natürlich für uns viel Geld ist, aber verglichen mit den sonstigen Preisen für Drucke, die ziemlich hohe Auflagen haben, doch sehr moderat. Trotzdem hat mich der Kauf in dieser Nacht doch nicht gerade ruhig schlafen lassen, da ich nicht einfach annehmen darf, dass Ihr meine Begeisterung teilen werdet. Eine gewisse Hilfe war für mich, dass Peter ohne jedes Zögern mich voll darin unterstützte, diesen Schritt zu tun. Na, Ihr werdet ja sehen!
Das Transportproblem hat sich dann gottseidank am selben Tag auch noch gelöst. Ich war zum Abendessen zu Bx und Barbara Burgess eingeladen - auf die Halbinsel am Strand, wo ich am Tag vorher spazieren gegangen war. Um aufs Meer blicken zu können, ist ihr Haus, das eine ganz geringe Grundfläche hat, raffiniert über mehrere Stockwerke hochgezogen. Das Wohnzimmer ist 5 m hoch, aber auf einem Zwischenstock steht der Flügel. Ein merkwürdiges Paar: er ist eine Art Arbeiterpriester und sie ist Hauswirtschaftslehrerin und sehr kunstbegeistert. Auch ganz großflächige Makrameearbeiten und Indianerschmuck hängen an der Wand und sie hat auch sehr feine Stücke afrikanischer Plastik gesammelt. Als ich von dem Paar am Strand berichtete und meine Transportschwierigkeiten gestand, haben Barbara und Bx mir sogleich angeboten, das Paket beim Rückflug an den Kennedy-Airport zu bringen. Das Ganze ist schon etwas abenteuerlich, aber ich denke doch, dass alles klappt."

Man hat den Vertretern der deutschen Friedensbewegung gelegentlich Antiamerikanismus vorgeworfen, aber das ist in meinem Falle wirklich Quatsch. Ich habe einige liebe amerikanische Freunde und ich weiß, dass sie humanitäre Träume wahr machen wollen und an einigen Stellen auch können. Und was mich daran jetzt immer mahnt, ist dieses schwarz-weiße Paar am Strand, das ich in unser Schlafzimmer platziert habe, weil meine Frau meint, dass es auf das Sideboard eines deutschen Wohnzimmers doch nicht so richtig passe.

Doch nun im Ernst: Worum ist es beim Marsch in Washington und in den folgenden Jahren - bis zur Ermordung Kings im Jahre 1968 - denn gegangen? Es ging nicht nur um die Überwindung der Rassendiskriminierung, sondern vor allem um soziale Gerechtigkeit und die Überwindung der Armut und Arbeitslosigkeit, von der in dem superreichen Amerika zwar vor allem die schwarzen, aber auch viele Weiße und Einwanderer aus Mexiko betroffen waren - und heute noch sind. Und King wusste von seinen - eher vergeblichen - Einsätzen in Chicago, dass die ökonomische Diskriminierung noch schwerer zu bekämpfen ist als die rassische. Es ist bezeichnend, dass King bei seinem solidarischen Einsatz für streikende Müllarbeiter erschossen worden ist.

Die gesellschaftspolitischen Ziele Kings

Nach 1963 hat King etwas gemacht, das noch viel anstößiger war als sein Kampf gegen die Rassendiskriminierung. Zum Entsetzen konservativer Bürgerrechtsorganisationen hat er sich auf die Seite der Gegner des amerikanischen militärischen Imperialismus geschlagen. Er machte das, was die Quäker bezeichneten als "to speak truth to power", das heißt, King hat den Regierenden die Wahrheit ins Gesicht gesagt und die Parole Woodrow Wilsons, dass es die amerikanische Mission sei, "to make the world safe for democracy" als die Ideologie ziemlich skrupelloser Geschäftemacher entlarvt.

Für Edgar Hoover, den langjährigen Chef des FBI - und meines Erachtens mächtigsten Mann in den USA - war der Baptistenpfarrer aus Atlanta damit ein Kommunist, den unschädlich zu machen, alles erlaubt war. FBI-Chef Hoover und Stasi-Chef Mielke unterschieden sich in ihren Methoden kaum. Es ist allerdings nicht bekannt, dass auch Hoover ein leidenschaftlicher Abknaller von Rehböcken und Hirschen gewesen wäre.

Wenn man hört, dass Hoover zur Zeit des Marsches in Washington bei Kennedy durchsetzte, dass Kings Telefongespräche abgehört und seine Wohnung und die Hotelzimmer verwanzt wurden, dann darf es einen nicht wundern, wenn dieselbe Behörde jetzt auch das Internet kontrolliert und global Freund und Feind abhört und überwacht. Wenn der amerikanische Präsident heute sagt, dass seine Familienmitglieder gegen Militärschläge in Syrien seien, dann sagt er allenfalls der Welt etwas Neues. Der größere Bruder des schmächtigen Barack hat wahrscheinlich bereits mitgehört.

King ist heute in den USA ein Nationalheld - wie Gandhi in Indien, aber eine Behörde der Regierung hat ihn abgehört und seine außerehelichen Affären als Druckmittel gegen ihn einzusetzen versucht. Man wollte ihn davon abhalten, den Friedensnobelpreis entgegenzunehmen, und diese angeblichen Antiterrorkämpfer haben den Schutz vor Attentätern absichtlich von King abgezogen und ihn damit zum Abschuss frei gegeben. In ihrem Hass auf die Kommunisten oder aus Angst vor ihnen, waren Hoover und seine Gesinnungsgenossen zu allem bereit. Daran muss man sich erinnern, wenn deutsche Innenminister jetzt davon reden, dass wir die Überwachungsmaßnahmen und die Kooperation mit den amerikanischen Behörden zur Terrorabwehr benötigen.

Die Gefahr für die Demokratie, die vom ungebremsten Zugriff dieser Behörden auf die Bürger ausgeht, ist größer als die Gefahr, die von einzelnen Terroristen ausgehen kann. Nach dem Terroranschlag gegen die Twin-Towers und die über 3000 Opfer von 9/11 haben unsere Beschützer so getan, als ob überall die sogenannten Schläfer lauern, um auf Befehl der Al Quaida vergleichbare Anschläge durchzuführen. Diese Schläfer gab es nicht oder nur ganz vereinzelt. Doch die Überwachungsmaßnahmen eskalierten. Terroranschläge sind scheußlich und die Opfer müssen uns leid tun, aber mit Terroranschlägen im Stile von Al Quaida ist die amerikanische und die deutsche Volkswirtschaft nicht wirklich zu gefährden. Im Großen und Ganzen betrachtet sind dies für die Volkswirtschaft und das staatliche Leben nur Mückenstiche, mehr nicht.

Wirklich gefährlich sind Überreaktionen wie die militärische Intervention in Afghanistan, an der sich die Deutschen in "uneingeschränkter Solidarität", wie Gerhard Schröder in seiner Vasallentreue, um nicht zu sagen, -torheit es formulierte, beteiligt haben. Als dann bei Kunduz durch einen Bombenangriff auf den Befehl des deutschen Oberst Klein über hundert Zivilisten getötet wurden, als sie Benzin aus zwei entführten Militärlastern, die im Flusssand stecken geblieben waren, abzapften, haben wir (hoffentlich!) begriffen, welch unmögliche Rolle wir in Afghanistan an der Seite der USA spielen. Wenn es nach der CDU und Angela Merkel gegangen wäre, dann hätten wir uns ja in der "Koalition der Willigen" auch am Irak-Krieg beteiligt.

Ich mache diese Bemerkungen, um nun auf Martin Luther Kings Begründung für seine Ablehnung der Intervention in Vietnam zurück zu kommen.

King hat am 4. April 1967, ein Jahr vor seiner Ermordung, in der Riverside Church in New York seine wichtigste Rede zur Verklammerung von amerikanischer Innen- und Außenpolitik gehalten. Er gab ihr den Titel "Beyond Vietnam" (Jenseits von Vietnam). Ich zitiere sie ausführlich, weil sie die Grundlage bildet für die Beantwortung der Frage: Wie würde King in der heutigen Lage reagieren, wenn er als 84jähriger noch öffentlich auftreten könnte:Vollständig dokumentiert in: https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/001713.html ).

"Ich bin davon überzeugt, dass unser Volk eine radikale Revolution der Werte vornehmen muss, wenn es sich auf die richtige Seite der Weltrevolution stellen will. Wir müssen schnell damit anfangen, von einer ‘sachorientierten’ Gesellschaft zu einer ‘personorientierten’ Gesellschaft zu kommen. Wenn Maschinen und Computer, Profitstreben und Eigentumsrechte für wichtiger gehalten werden als die Menschen, dann wird die schreckliche Allianz von Rassenwahn, Materialismus und Militarismus nicht mehr besiegt werden können.

Eine echte Revolution der Werte wird den schreienden Gegensatz von Armut und Reichtum sehr bald mit großer Unruhe betrachten. Sie wird nach Übersee blicken und mit gerechter Empörung darauf hinweisen, dass einzelne Kapitalisten des Westens riesige Geldbeträge in Asien, Afrika und Lateinamerika investieren, nur um zu verdienen und ohne Interesse an sozialen Fortschritten in jenen Ländern, und sie wird ausrufen: ‘Das ist ungerecht.’

Eine Revolution der Werte wird unser Bündnis mit den Großgrundbesitzern in Lateinamerika durchschauen und feststellen: ‘Das ist ungerecht.’ Ungerecht ist auch die westliche Überheblichkeit, die meint, dass sie den anderen alles beibringen kann und von ihnen nichts zu lernen hat.

Eine wirkliche Revolution der Werte wird den Status quo selbst beseitigen und vom Kriege sagen: ‘Dieser Weg zur Lösung von Spannungen ist nicht recht.’ Diese Art von Beschäftigung, menschliche Wesen mit Napalm zu verbrennen, die Häuser unserer Nation mit Waisen und Witwen zu füllen, giftigen Hass in die Adern von Menschen zu spritzen, die normalerweise sich ganz menschlich verhalten, Männer von finsteren und blutigen Schlachtfeldern, körperlich verkrüppelt und seelisch aus dem Gleichgewicht gebracht, nach Hause zu senden, diese Beschäftigung kann nie und nimmer mit Weisheit, Gerechtigkeit und Liebe in Einklang gebracht werden.

Ein Volk, das seit Jahren mehr Geld für militärische Verteidigung als für den Ausbau sozialer Reformen ausgibt, gerät in die Nähe des geistlichen Todes.

Amerika, das reichste und mächtigste Land der Welt, könnte bei dieser Revolution der Werte durchaus führend sein. Nichts, außer dem unseligen Wunsch nach Selbstvernichtung, könnte uns an einer Neuordnung unserer Prioritäten hindern, welche eben die Vorbereitung auf den Frieden über die Vorbereitung auf den Krieg stellt. Nichts kann uns davon abhalten, die widerspenstigen Verhältnisse so lange mit unseren wunden Händen umzuformen, bis wir ihnen die Gestalt der Geschwisterlichkeit gegeben haben."

Diese Ansprache in der Riverside Church war die Predigt eines Propheten. Wir finden Entsprechendes im Alten und Neuen Testament. Das Besondere an King ist jedoch, dass er diese Predigten mit Handlungen in Gruppen verband. Im Verbund mit einem grassroot movement griffen sie in die Verhältnisse verändernd ein. Und wenn es dann Rückschläge gab, wenn Mitstreiter ermordet wurden und Depressionen um sich griffen, dann wusste King seine Freunde bei der Stange - man könnte auch sagen, beim Kreuz - zu halten. Er tat es auf seine ganz spezifische Weise. Er hat seine dann fälligen Ansprachen etwas despektierlich als peptalks bezeichnet. Aufmunternd. Pep wie Pepsicola.

King lebte gerne. Er war kein Asket und Miesepeter. Nicht alles, was er tat, war vorbildlich. Er konnte dann auch öffentlich bereuen. Was er seiner lieben Frau Coretta mit anderen Frauen angetan, hat er mal in einer Predigt in seiner Heimatkirche in Atlanta thematisiert. Da ist der Gemeinde das Halleluja-Rufen vergangen. Doch Coretta konnte diese Seite seines Lebens nach seinem Tode in ihren Erinnerungen schweigend übergehen. Sein Freund Ralph Abernathy hat aber in seinen Erinnerungen von Mann zu Mann, von Freund zu Freund Tacheles geredet.Ralph David Abernathy: And the Wall Came Tumbling Down. An Autobiography, New York 1989. King war kein Heiliger Antonius, aber diese Groupies, die King auf ihre Weise verfolgten, waren auch etwas eigenartige Engel der Bedrängten. Leider gehören auch diese Peinlichkeiten zum Bild.

Doch damit genug. Mich hat als Politikwissenschaftler beim Schreiben meiner Dissertation zum Thema "Gewaltfreier Aufstand - Alternative zum Bürgerkrieg" interessiert, welche Strategie King in der Bürgerrechtsbewegung verfolgte und wie er die Bergpredigt mit gewaltfreien, direkten Aktionen verband.

Das will ich jetzt in einem zweiten Teil noch behandeln und was ich jetzt sage ist nicht mehr feuilletonistisch, sondern ein bisschen lehrbuchhaft, professoral, aber es ist wichtig, weil grundlegend für den Erfolg versprechenden Gebrauch gewaltfreier Aktionen.

Direkte Aktionen

Gewaltfreie, direkte Aktionen waren für Martin Luther King griffige Instrumente der Aufklärung und der Ausübung von Gegenmacht. Er sprach von "power from below", Macht von unten. Dabei verstand er Macht als die Fähigkeit, andere Menschen zu bestimmten Handlungen zu motivieren. In seinem berühmten Offenen Brief aus dem Gefängnis von Birmingham schrieb er am 16. April 1963: "Die gewaltfreien, direkten Aktionen sollen die Gesellschaft zwingen, den Tatsachen ins Auge zu blicken. Die direkte Aktion soll eine Streitfrage so dramatisieren, dass sie nicht länger ignoriert werden kann."

King war sich darüber im klaren, dass immer dann, wenn demokratische, legale Wege zur Änderung der sozialen Verhältnisse fehlen oder nur in unzureichendem Maße offen sind, die bloße Mahnung zu Friedfertigkeit und Gewaltverzicht zur Ideologie wird, die objektiv im Dienst der Herrschenden steht. Mit seinen direkten Aktionen hoffte er, einen Ausweg aus dem Dilemma - Gegengewalt oder Resignation - gefunden zu haben. In seinem ersten Buch, dem Bericht über den Busboykott in Montgomery im Jahre 1956, schrieb er: "Wie in der Synthese der Hegelschen Philosophie, muss es das Prinzip des gewaltfreien Widerstandes sein, die Gegensätze - Ergebung und Gewalt - in Einklang zu bringen, indem er das Extreme und das Unmoralische, das beiden anhaftet, vermeidet. Der Anhänger des gewaltfreien Widerstandes ist mit dem, der sich in sein Schicksal ergibt, einer Meinung, dass man nicht gewalttätig (violent, also verletzend) gegen einen Gegner vorgehen soll. Andererseits ist er aber auch mit dem, der für Gewalt ist, einig, dass man dem Bösen Widerstand leisten muss. Er vermeidet die Widerstandslosigkeit des ersteren und den gewaltsamen Widerstand des letzteren. Wer gewaltfreien Widerstand leistet, braucht sich weder als Einzelperson noch als Gruppe irgendwelchem Unrecht zu beugen: er braucht aber auch nicht zur Gewalt zu greifen, um sich Recht zu verschaffen."

In den Jahren 1956 bis 1964 haben die christlichen, die gewerkschaftlichen und die studentischen Bürgerrechtsorganisationen in den Südstaaten der USA mit diesen gewaltfreien, direkten Aktionen gearbeitet. Die wichtigsten Methoden waren der Boykott rassengetrennter Omnibusse, die Sit-in-Aktionen in Restaurants, die keine Schwarzen bedienen wollten, die "Freiheitsfahrten" integrierter Omnibusse in die Südstaaten, der Käuferboykott von Geschäften und Markenfirmen, die für ihre Rassendiskriminierung bekannt waren, und das Aufstellen von Boykottposten (Picket-Linien) in den Einkaufszentren der Städte, die Durchführung von Massenmärschen trotz des Verbots der Behörden und vereinzelt auch der Sitzprotest oder das Niederknien zum Gebet auf den Straßen oder in den Empfangshallen von Behörden.

Kalkuliertes Leiden

Kennzeichnend für all diese Aktionen war, dass die Demonstranten sich auch gegen brutale Angriffe nicht zur Wehr setzten, dass sie bereit waren, für ihre Ziele ins Gefängnis zu gehen, und dass sie - und dies war die Voraussetzung für ihre Selbstdisziplin - sich sorgfältig in Schulungskursen und Informationsveranstaltungen auf die direkten Aktionen vorbereitet hatten. Die Bürgerrechtsorganisationen rechneten damit, dass sie allein mit rationalen Argumenten und mit sozialkritischen Hinweisen gegen jahrhundertealte Rassenvorurteile und wirtschaftliche Interessen nicht ankämpfen und nicht obsiegen könnten. Durch ihre Opferbereitschaft, durch ihr freiwilliges Leiden unter den Schlägen der Rassisten, durch ihr Ausharren im Gefängnis suchten sie die gefühlsmäßigen Voraussetzungen für eine Bereitschaft zum rationalen, sozialen Wandel zu schaffen. Ihre Leidensbereitschaft ging auf ein psychologisches Kalkül - und auf den christlichen Glauben an die Wandlungsfähigkeit jedes Menschen - zurück.

Martin Luther King war nicht nur Machtpolitiker; er war immer auch Seelsorger. Schon 1956, zu Beginn seiner politischen Laufbahn, betonte er: "Wenn der Unterdrücker diese dynamische Einheit, diese erstaunliche Selbstachtung und Leidensbereitschaft der Neger [das war damals der übliche Ausdruck] sieht, wird ihm seine eigene Barbarei zum Ekel werden." Im Jahre 1964 hat er dann auch die politische Deutung des Abschlusses seines Lebens vorweggenommen: "Wenn physischer Tod der Preis ist, den ich zahlen muss, um meine weißen Brüder und Schwestern von dem permanenten Tod des Geistes zu befreien, dann kann nichts erlösender sein als dies."

King wollte durch diese freiwillige Leidensbereitschaft die Weißen davon überzeugen, dass die Schwarzen ihnen die ungeheure Schuld nicht aufrechnen wollten, welche sie seit dem Import von Negersklaven auf sich geladen hatten. Die Schwarzen mussten die Weißen von ihrer Schuld und ihrer Furcht befreien, bevor diese es wagen konnten, sich auf radikale soziale Reformen einzulassen und Änderungen in der Herrschaftsstruktur des Landes vorzunehmen.

Die Übertragung dieser christlichen Überzeugungen in die Tagespolitik gelang King, indem er sich die Erfahrungen Mohandas K. Gandhis im indischen Freiheitskampf zunutze machte. Im Übrigen beschränkte er sich wie dieser nicht auf dramatische Agitationsformen, sondern verband diese mit weniger spektakulären, aber nicht minder wirksamen wirtschaftlichen Kampfmaßnahmen und dem Aufbau einer Substruktur von radikaldemokratischen Bürgerrechtsorganisationen, welche mit den Behörden verhandeln, in eigener Regie direkte Aktionen organisieren und auch in lokale Wahlen aufklärend eingreifen konnten.

Eine Strategie für die Gettos?

Die gewaltfreien, direkten Aktionen der Bürgerrechtsorganisationen waren, wenn man an die verhältnismäßig wenigen Mitarbeiter und an die - verglichen mit gewaltsamen Aufständen - geringen Opfer denkt, erstaunlich, wenn auch noch nicht hinreichend erfolgreich. Die sichtbaren Erfolge blieben jedoch auf die Südstaaten beschränkt. In den Slums der Großstädte, in den Gettos des Nordens verbesserte sich die soziale Lage der Farbigen nicht spürbar. Was die Bürgerrechtsbewegung dort erzielte, war nicht der soziale Wandel, sondern nur die Mobilisierung der sozialen Erwartungen.

Im Jahre 1965 verlegte die Southern Christian Leadership Conference (SCLC) ihr Hauptquartier nach Chicago. 1967 musste King jedoch nach den verheerenden Gettorevolten in Newark und Detroit eingestehen: "Wir haben in den Südstaaten zehn Jahre lang neue Taktiken der gewaltfreien Aktion erprobt, und wir hatten Erfolge zu verzeichnen. Aber für die Städte des Nordens ist es uns nicht gelungen, schöpferische Arbeitsmethoden zu entwickeln."

Welche Kampftechniken eigneten sich für die Gettos, die schwarzen Viertel in der unmittelbaren Nähe der City? King hatte es wie in Birmingham und Selma 1966 auch in Chicago - neben der Organisation von Nachbarschaften - mit einem Massenmarsch versucht, aber er musste in der Wirkung deutliche Unterschiede feststellen: "Wenn Neger in den Straßen der Südstaaten demonstrierten, bedeutete dies Rebellion. In den Städten des Nordens wirken Märsche weniger beunruhigend; man sieht in ihnen keine rebellische Aktion, und sie werden von der normalen Turbulenz des Großstadtlebens absorbiert."

Die Southern Christian Leadership Conference stieß in den Gettos auf neue soziale Probleme. Die Schwarzen im Baumwollgürtel der USA waren zwar meist noch ärmer und rechtloser als die Gettobewohner, aber sie waren weder sozial entwurzelt, noch in ihrem Denken orientierungslos gewesen. Traditionelle soziale Gruppierungen und vor allem die großen Negergemeinden boten die Rekrutierungsbasis für die gewaltfreien Kampagnen. In den Gettos des Nordens fehlten diese Voraussetzungen weitgehend.

Die Misere der Gettos im Norden beruht nur zum Teil auf der Rassendiskriminierung. Diese übervölkerten Slums sind eine Konsequenz des raschen Industrialisierungsprozesses auf kapitalistischer Grundlage. Ihr Hauptproblem ist die Arbeitslosigkeit der Farbigen, die doppelt so hoch ist wie die der Weißen.

Es fehlt nicht an pragmatischen Vorschlägen für ein Wohnungssanierungs-, Bildungs- und Arbeitsbeschaffungsprogramm. Auch Barack Obama hat sich nach seinem juristischen Examen auf diesen Gebieten in Chicago vorbildlich engagiert. Er schildert dies in seiner Autobiographie recht überzeugend.Barack Obama: Ein amerikanischer Traum. Die Geschichte meiner Familie. München 2008. Man hatte Grund von diesem Präsidenten viel zu erwarten. Im Blick auf die allgemeine Krankenversicherung hat er mehr fertig gebracht als frühere Präsidenten. Das hätte Martin Luther King sicher gefallen. Bei der Verleihung des Friedensnobelpreises an Obama war auf Seiten des Komitees dann sicher Wunschdenken im Spiel. Auf den Umgang mit den Geheimdiensten und dem Militärapparat war Obama nicht ausreichend vorbereitet. Auf diesem Felde hat auch Martin Luther King im Laufe der Jahre hinzu gelernt und man darf nicht vergessen, Martin Luther King hat Gandhis Schriften intensiv studiert. Dasselbe ist von Obama nicht bekannt.

Außenpolitische Konsequenzen

Bis Anfang 1967 operierte die Southern Christian Leadership Conference als ob das Bürgerrechtsproblem eine rein innenpolitische Angelegenheit sei. Die entscheidende Wendung kam, als Martin Luther King sich trotz des dringenden Abratens gemäßigter Bürgerrechtsorganisationen entschloss, an der "Frühjahrs-Mobilisierung" gegen den Vietnamkrieg teilzunehmen. Damit verknüpfte er die Zukunft der Bewegung der amerikanischen Schwarzen mit den antiimperialistischen Aufständen in den damals der Dritten Welt zugerechneten Ländern.

Die Southern Christian Leadership Conference forderte die jungen Amerikaner zur Kriegsdienstverweigerung und ihre älteren Mitbürger zum zivilen Ungehorsam gegen die amerikanischen Kriegsanstrengungen auf. Sie wollte sich aber auch nicht kritiklos Che Guevaras Forderungen nach zwei, drei, vielen Vietnams anschließen. Aus dem Stab der SCLC reisten Rev. James Bevel nach Sambia und Rev. Metz Rollins (zusammen mit Danilo Dolci und dem Ehepaar Goss-Mayr) nach Brasilien, um in Zusammenarbeit mit einheimischen Organisationen zu prüfen, ob das zweite Vietnam nicht ein gewaltfreier Aufstand sein könnte.

Anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises in Oslo hatte King schon deutlich gemacht, dass er die gewaltfreie, direkte Aktion nicht als eine südstaatliche Spezialität verstanden wissen wolle: "Ich empfehle Ihnen, die Philosophie und Strategie der Gewaltfreiheit umgehend zu einem Gegenstand des Studiums und ernsthafter Experimente in allen Gebieten menschlicher Konflikte zu machen, und ich nehme hiervon die Beziehungen zwischen Nationen nicht aus." Dies bedeutete, dass King mit den amerikanischen Quäkern darin übereinstimmte, dass der Schutz einer Nation vor Staatsstreichen und Invasionen nicht auf einer Armee und Notstandsgesetzen, sondern auf der Bereitschaft der Bürger zum gewaltfreien Widerstand zu beruhen habe. Diese radikalen Aspekte seiner politischen Theorie sind in den Nachrufen auf ihn gewöhnlich nicht erwähnt worden, als sich das Establishment beeilte, ihn als "Apostel der Gewaltlosigkeit" zu einem Schutzpatron von Ruhe und Ordnung zu machen.

Durch zivilen Ungehorsam zur Macht des kleinen Mannes

Man hat in den Nachrufen auf King zu Recht darauf hingewiesen, dass ihm der Ausdruck "Schwarze Macht" (Black Power) missfallen habe,- er meinte, darin Untertöne der Gewaltsamkeit, des Hasses und des umgekehrten Rassismus mitschwingen zu hören. Verschwiegen wurde jedoch meist, dass King die Notwendigkeit der Machtentfaltung bejahte und dass er nur statt der "Schwarzen Macht" die gewaltfreie "Macht des kleinen Mannes" (Poor People’s Power) anstrebte. Er wollte unbedingt verhindern, dass vom sozialen Abstieg bedrohte arme Weiße sich gegen die armen Schwarzen ausspielen ließen und dadurch ein faschistisches Potential entstünde.

In einer seiner letzten großen Reden über die "Krise in unseren Städten"In: Theodor Ebert u. Hans-Jürgen Benedict (Hrsg.): Macht von unten. Bürgerrechtsbewegung, außerparlamentarische Opposition und Kirchenreform. Hamburg: Furche Verlag, 1968, S. 36-45. empfahl er als einschneidend neue Kampfmaßnahme für die Gettos den zivilen Ungehorsam von Massen Arbeitsloser, Unterbeschäftigter und Umschulungsbedürftiger. Diese Aktion sollte am 28. April 1968 in Washington beginnen.

King dachte in erster Linie an die Blockierung der Stadtzentren durch Tausende von Sitzstreikenden, Sit-ins vor und innerhalb von Fabriktoren und an ein großes Lager von arbeitslosen Farbigen in Washington. Zur Begründung dieser Maßnahmen sagte er: "Als Kampfmittel kommen für uns weder die bewaffnete Erhebung noch nutzlose Bitten an eine harthörige Regierung in Frage… Wir müssen zum zivilen Ungehorsam greifen. Eine Stadt am Funktionieren zu hindern, ohne sie zu zerstören, kann wirkungsvoller sein als ein Aufruhr, weil der zivile Ungehorsam sich länger durchhalten lässt, und zwar kostspielig, aber nicht blind zerstörerisch ist. Außerdem ist es schwieriger für eine Regierung, gegen zivilen Ungehorsam mit überlegenen Gewaltmitteln vorzugehen. Ziviler Ungehorsam auf Massenbasis kann auch den Zorn als konstruktive und schöpferische Kraft benutzen. Es ist nutzlos, den Negern zu empfehlen, nicht zornig zu sein, wenn sie es tatsächlich sein sollten. Es ist sogar für die Psyche eines Menschen gesünder, wenn er seinen Zorn nicht unterdrückt, sondern seine Energie in einer konstruktiven und friedlichen, aber kraftvollen Weise nutzt, um eine repressive Stadt an ihrem normalen Funktionieren zu hindern."

Der Stab der Southern Christian Leadership Conference wusste, dass es sehr schwierig sein würde, den zivilen Ungehorsam auf Massenbasis zu organisieren. Gandhi hatte 1922 seine erste Kampagne des zivilen Ungehorsams abbrechen müssen, weil erregte Inder in Chauri Chaura mehrere Polizisten erschlugen. Anschließend definierte er das "zivile" Verhalten präzise als "höflich, wahrheitsliebend, bescheiden, klug, hartnäckig, doch wohlwollend, nie verbrecherisch und haßerfüllt". Unter diesen Bedingungen konnte eine Bewegung des zivilen Ungehorsams nach Ansicht Kings, "ohne dass ein Streichholz angezündet würde und dass ein Schuß abgefeuert würde, erdbebenartige Proportionen annehmen".

Der zivile Ungehorsam sollte aber nicht zu einer Polarisation der Gesellschaft, das heißt zu einer Sammlung um die extremen Flügel führen. Opferbereiter, wirklich "ziviler" Ungehorsam sollte moralischen und materiellen Druck ausüben, ohne den Konservativen Impulse zu einem Schutz- und Trutzbündnis zu geben. Solch ziviler Ungehorsam würde dann auch "Koalitionspolitik (gemeint sind politische Absprachen mit weißen Liberalen - Th. E.) nicht ausschließen, sondern vielmehr unterstützen".

Die SCLC wollte nach der Ermordung Kings an ihren Aktionsplänen festhalten, aber mit dem zivilen Ungehorsam auf Massenbasis konnte sie nicht beginnen, bevor die gewaltsamen Gettorevolten nicht abgeebbt waren. Das Einüben und Durchhalten von gewaltfreiem, zivilem Ungehorsam ist schwierig bis unmöglich, solange Extremisten Plünderungen und Gegengewalt billigen. Einzelne Gewaltakte sind dann in der Lage weit größer angelegte gewaltfreie Kampagnen in der Wirkung zu beeinträchtigen oder umzufunktionieren. Das ist eines der ganz großen Probleme des gewaltfreien Widerstands. Und die gewalttätigen Draufgänger und Sprüchemacher gibt es immer und sie diffamieren dann die gewaltfreien Akteure als Softies.

Der syrische Aufstand gegen das Assad-Regime hat mit Sitzprotesten nach den Freitagsgebeten begonnen, und als dann rücksichtslos dagegen eingeschritten wurde, sprachen einige Unterstützer zunächst von bewaffnetem Selbstschutz. Diese - nach Aussage der deutschen Unterstützer in der Vereinigung "Adopt a Revolution" - zunächst nur defensiven Maßnahmen sind immer weiter eskaliert, bis dann ein Bürgerkrieg unter Einsatz aller Mittel im Gange war. Jetzt werden die Opfer immer größer, und es gibt auf Seiten der Opposition keine Autorität, die den bewaffneten Kampf abbrechen, und mit gewaltfreien Methoden den Aufstand neu entwickeln könnte. Es fehlen Figuren wie Gandhi und King, welche dieser Eigendynamik der gewaltsamen Konfliktaustragung begegnen könnten.

Gegenmacht lässt sich schwer entfalten, wenn Heißsporne durch unbedachte Gewaltakte oder auch regelrechte Netzwerke von Terroristen den Regierenden immer wieder eine Handhabe geben, sich bei der Bevölkerung als Beschützer aufzuspielen und die Sorge vor einem neuen, noch schlimmeren Terrorregime zu beschwören. In einer solchen Situation muss mit konstruktiven Aktionen in den Nachbarschaften Basisarbeit geleistet werden, bevor man wieder zu offenem, gewaltfreiem Widerstand übergehen kann.Zum Problem des Aufbaus von Widerstand in besonders repressiven Diktaturen siehe: Was tun gegen Diktaturen. Nachwort zu Rolf Italiaander (Hrsg.): Diktaturen im Nacken, München: Delp’sche Verlagsbuchhandlung, 1971, S. 331-351. Gandhi hat dies sehr drastisch formuliert, als er im Blick auf die Schwierigkeiten bei der internen Kontrolle des Zivilen Ungehorsams sagte: "Ziviler Ungehorsam ohne konstruktive Aktion ist schlimmer als nutzlos."

Dies soll hier nicht mein letztes Wort sein. Gewaltfreie Graswurzelarbeit ist immer möglich. Es kommt darauf an, die Toleranzschwelle des Regimes richtig zu taxieren und Nischen auszumachen. Die Regime wollen zwar alles kontrollieren und neigen dazu, Begeisterung zu erzwingen und sei diese auch geheuchelt. Doch dies kann immer nur unvollständig gelingen. Es gilt unterhalb der Toleranzschwelle Verbindungen herzustellen und eventuell sogar vom Regime angebotene Einrichtungen für diese Kontakte zu nutzen. Die scheinbar Manipulierten können es lernen, außerhalb der direkten Kontrolle des Regimes zu kooperieren und sich auszutauschen. Daraus können dann auch im passenden Moment systemtransformierende Widerstandsmaßnahmen erwachsen.

Wenn die Absichten der selbständig gewaltfrei Agierenden vom Establishment berechnet werden können und die Regierenden sich persönlich nicht existentiell bedroht fühlen müssen, besteht die Chance, dass Reformer sich durchsetzen und die Hardliner abtreten müssen. Solche Prozesse haben das Ende der Apartheid in Südafrika vorbereitet. Eine wichtige Voraussetzung war, dass der African National Congress - unter der Anleitung Nelson Mandelas - praktisch von den Methoden des Guerillakampfes Abstand genommen hat, auf eine Verfolgung der Verbrechen des Apartheidregimes weitgehend verzichtet und dass das Aufarbeiten der Vergangenheit der christlich angeleiteten "Wahrheitskommission" Bischof Tutus überlassen wurde. Das gehört auch zu einem gewaltfreien Aufstand. Davon spüre ich im Nahen Osten wenig. Die Selbstgerechtigkeit der Kontrahenten ist wirklich hanebüchen. Und das gilt auch für die amerikanische und die deutsche Regierung. Die USA haben mit den Diktatoren und den Reichen zusammen gearbeitet, und die Deutschen liefern ihnen noch heute Waffen zur Unterdrückung von Aufständen. Hauptsache, die Wirtschaft brummt, und Mutti Merkel verschafft uns ein gutes Gewissen.

Die Bundesrepublik steht glänzend da, aber es ist etwas faul in dieser Republik. In einem offenen Brief von prominenten Christen zur Bundestagswahl wird "der Verlust des Politischen" beklagt.Aus bürgerrechtlicher Perspektive werden zentrale Punkte deutscher Außen- und Innenpolitik kritisiert. Almuth Berger, Volkmar Deile, Heino Falcke, Joachim Garstecki, Heiko Lietz, Ruth und Hans Misselwitz, Konrad Raiser, Gerhard Rein und Hans-Jochen Tschiche wollen eine andere Berliner Republik. Ihr Brief im Wortlaut dokumentiert unter https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/008078.html . Dieser Brief ist ein Pendant zu Martin Luther Kings Rede "Beyond Vietnam" in der Riverside Church. Diesen Brief müsste ich hier seitenlang zitieren. Ich bin sicher, dass King ihn unterzeichnet hätte, wäre er ein Deutscher wie Kennedy ein Berliner - und würde er noch leben. Das wäre mein Traum. Und wie steht’s? Yes, we can?

Fußnoten

Veröffentlicht am

19. September 2013

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