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Tunesien: Die Revolution verläuft im Sande

Die Regierung der Ennahda-Partei will die Gesellschaft islamisieren. Aber sie geht dabei geschickt vor. Die Gefahr eines Militärputsches wie in Ägypten ist gesunken

Von Sabine Kebir

Erst wurde am 25. Juli der Oppositionspolitiker Mohammed Brahmi ermordet, dann fielen zwei Tage später acht Soldaten in den südtunesischen Chaâmbi-Bergen einer seit Dezember 2012 operierenden islamistischen Guerilla zum Opfer. Gärt in Tunesien eine Staatskrise, wie sie Ägypten vor und nach dem Sturz von Präsident Mohammed Mursi erfasst hat und das Land zerreißt?

Die Frage erscheint berechtigt. Nicht allein in Tunis demonstrieren Tag für Tag Zehntausende gegen die vom islamistischen Premierminister Ali Laârayedh geführte Regierung, die nicht allein eine politische Polarisierung, sondern ebenso eine spürbar verschlechterte Sicherheitslage zu verantworten hat. In Kasserin - die Stadt liegt in der Nähe des Ortes, an dem die acht Soldaten massakriert wurden - stürmten aufgebrachte Bürger den Sitz der regierenden Ennahda-Partei. In Sidi-Bouzid - Geburtsort des ermordeten Mohammed Brahmi und Ausgangspunkt der im Januar 2011 ausgebrochenen tunesischen Revolution - übernahm mit dem Komitee des Nationalen Heils eine Bürgerunion die Macht, weil die regionale Administration nicht mehr anerkannt wird. Während der zuständige Gouverneur aus Angst vor Übergriffen seinen Arbeitsräumen fernbleibt, schützen Soldaten die Aktionen der Bürger. "Wir haben alle Verbindungen mit der nationalen Regierung abgebrochen", sagt der Gewerkschafter Lazhar Gharbi, "Sidi-Bouzid ist eine freie Stadt." Ein hochrangiger Militär, der anonym bleiben will, versichert: "Viele Ennahda-Funktionäre in der Provinz haben nur einen leeren Stuhl hinterlassen. Von der Armee wird zu Recht erwartet, dass sie dem tunesischen Volk hilft, wenn die Situation eskaliert."

Die Bürgerwut in Sidi-Bouzid ist darauf zurückzuführen, dass sich die Arbeitslosigkeit seit der Revolution nicht vermindert, sondern erhöht hat. Erst kürzlich schloss wieder ein Betrieb mit 200 Arbeitsplätzen, ohne dass die Regierung davon in irgendeiner Weise Notiz nahm.

Ausbildung im Sportcamp

Der ermordete Mohammed Brahmi war schon unter Diktator Ben Ali führendes Mitglied einer seinerzeit absolut illegalen linken "nasseristischen" Bewegung, die nach dem Umsturz vom Januar 2011 Teil der Volksfront wurde. Als Sammlungsbewegung verlangt sie von der Regierung, die möge endlich ein ökonomisches System reformieren, das mehr denn je von mafiösen Strukturen durchsetzt sei. Zugleich verteidigt die Volksfront gefährdete persönliche Freiheitsrechte, die sogar zur Zeit der autoritären Einparteienherrschaft Ben Alis garantiert waren.

Wie vor einem Monat in Ägypten wird auch in Tunesien der Wunsch lauter, die Armee möge die islamistische Regierung wenn nicht stürzen, so doch in die Schranken weisen. Angesichts dieser Stimmung hat sich Ennahda-Führer Rachid al-Ghannouchi zwar beeilt, die Morde an Brahmi und den acht Soldaten als "großes Unglück für Tunesien" zu bezeichnen, aber vermieden, von "Terrorismus" zu sprechen. Lazhar Akmi, Führungsmitglied der größten Oppositionspartei Nidaâ Tounes (auf Deutsch: Tunesiens Mobilisierung) vertritt die weitverbreitete Auffassung, Ghannouchi gaukle Mitgefühl, Dialog- und Kompromissbereitschaft nur vor, tatsächlich habe die von seiner Partei geführte Koalitionsregierung nichts getan, um Gruppen von selbst ernannten Revolutionswächtern zu verbieten, die in vielen Städten, aber auch auf dem Land die Bürger durch Drohungen und offene Gewalt zu einer islamischen Lebensführung drängen. Derartige Gruppen verfügten mittlerweile gar über offiziell zugelassene Ausbildungslager, die als "Sportcamps" bezeichnet würden. Eine allenthalben lauernde oder ausgeübte islamistische Gewalt solle die Menschen einschüchtern und die Opposition entmutigen.

Ghannouchi erweist sich in dieser Situation als geschickter Taktierer. Seine Regierung hat den Süden des Landes zur militärischen Kampfzone erklärt und den Außen- wie Verteidigungsminister ins Nachbarland Algerien entsandt, das um Beistand gebeten wurde. Es würden nun auch in Tunesien al-Qaida-Gruppen operieren, hieß es zur Begründung. Zudem gab Ghannouchi sogar dem Verlangen des säkularen Lagers nach, so rasch wie möglich Neuwahlen anzusetzen und bis dahin mit einer Regierung der Experten über die Runden zu kommen. Selbst die Position von Regierungschef Laârayedh beginnt zu wanken. Ouidad Bouchamaoui, die Präsidentin des Unternehmerverbandes, hat Ghannouchis Angebot, sich um das höchste Staatsamt zu bewerben, zwar abgelehnt, aber endgültig klang der Verzicht keineswegs. Nur ein Brückenschlag ins laizistische Lager war damit gescheitert - weitere Vorschläge dieses Kalibers sind zu erwarten.

Elemente der Scharia

Momentan winkt kein Umsturz nach ägyptischem Muster, auch wenn sich die Gegensätze immer mehr zuspitzen und längst nicht auf eine Konfrontation zwischen Demokraten und Islamisten zu reduzieren sind. Erstere müssen sich vorwerfen lassen, immer mehr Personal des alten Regimes angezogen zu haben. Auch klingt die Option einer Expertenregierung allzu sehr nach Restauration. Der Ennahda-Partei wiederum wird nicht zu Unrecht unterstellt, ihr strategisches Ziel, die Gesellschaft zu islamisieren, durch geschicktes Taktieren einstweilen verschleiert, aber keineswegs aufgegeben zu haben. Deshalb bleibt es der Nationalversammlung auch verwehrt, die neue Verfassung fertigzustellen, wozu sie die Wähler beauftragt hat. So schnell wie in Ägypten, dessen alte Magna Charta schon Elemente der Scharia enthielt, lassen sich bereits errungene Freiheiten in Tunesien nicht annullieren.

Warum, fragt man sich angesichts der Lage in beiden Ländern, ist es für Islamisten so schwer, die Persönlichkeitsrechte derer zu respektieren, die ihr Leben nicht nach ihren Regeln gestalten wollen? Dass der Glaube sie dazu verpflichte, ist ein Irrtum, zumal das theologisch leicht widerlegt werden kann. Niemand darf zum Glauben gezwungen werden - so ein Wort des Propheten. Tatsächlich steckt hinter der Offensive das Motiv, immense soziale Unterschiede zu verwischen, die alle islamischen Länder durchziehen, in denen moderne Produktionsprozesse stattfinden und ein großes Prekariat bestenfalls in informelle ökonomische Netze eingebunden ist. Für diese Unterprivilegierten stellt ein westlich wirkender Lebensstil, besonders bei Frauen, eine ungeheure Provokation dar.

Ein Ressentiment, das noch dadurch angefacht wird, dass im informellen, gleichwohl globalisierten Teil der Ökonomie die meisten Islamisten sowohl als Unternehmer wie als Ausgebeutete ein Auskommen suchen. Die hier üblichen krassen Formen der Ausbeutung und der fehlende Zugriff von Steuerbehörden führen dazu, dass dieser Sektor mit dem weltweiten Neoliberalismus kompatibel ist. Für islamistische Unternehmer bieten ja gerade die islamistischen Lebensregeln eine wirksame Form sozialer Kontrolle. Die bei ihnen abhängig Beschäftigten sollen möglichst viel freie Zeit in der Moschee verbringen und ihre Psyche ungelösten Fragen der Sexualität wie des bloßen Überlebens aussetzen. Ähnlich wie in faschistischen Regimes wird überdies versucht, ein schweres soziales Gefälle durch eine Einheitskleidung und das Verbergen von Luxus wenigstens aus der Fassade der Gesellschaft zu tilgen.

So wenig der zentrale Wert von Parlamentswahlen für eine Demokratie infrage zu stellen ist, so wenig lässt sich leugnen, dass sie nicht mehr als einer ihrer Bausteine sind. Dies gilt nicht nur deshalb, weil Minderheitenrechte wie die von Christen in säkularen Diktaturen islamischer Länder unter Umständen besser geschützt sind als unter Regierungen, die gewählt sind. Demokratie etabliert sich nicht allein durch "freie Wahlen", sondern ist das Ergebnis zivilisatorischer Metamorphosen. Die Perioden, die Ägypten und Tunesien jetzt durchlaufen, sind durchaus als Teil eines solchen, freilich schmerzhaften Prozesses zu deuten.

Quelle: der FREITAG   vom 05.09.2013. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

06. September 2013

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