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Militärschlag: Die Interventionslüge der US-Regierung

"Die USA haben Freiheit und Demokratie immer verteidigt": Deshalb stimmt der Sprecher des US-Repräsentantenhauses Präsident Obamas Plänen zu. Was ist davon zu halten?

Von Michael Jäger

Der amerikanische Präsident zeigt sich weiter zur militärischen Intervention in Syrien entschlossen, hat aber faktisch durch seine überraschende Wendung, erst den Kongress befragen zu wollen, ein Moratorium zugestanden: Die Intervention wird wenn überhaupt, dann nicht in den nächsten zwei Wochen erfolgen. Während dieser Zeit tagt auch der G 20-Gipfel, so dass Barak Obama nichts übrigbleiben wird, als sich auch face to face mit den Argumenten des russischen Präsidenten Wladimir Putin auseinanderzusetzen. Der wird ihn fragen - er hat es schon getan -, warum die syrische Regierung einen Chemiewaffenangriff zu einem Zeitpunkt angeordnet haben soll, wo ihre Truppen mit konventionellen Waffen auf dem Vormarsch waren. Zudem noch wenige Tage, nachdem UN-Inspektoren ins Land gelassen worden waren, die den Auftrag hatten, den Vorwurf früherer Chemieangriffe zu prüfen. Sonst wird in Fällen, wo man auf Plausibilitätserwägungen angewiesen ist, da Urheberketten nicht nachweisbar sind, "Cui bono?" ("Wem nützt es?") gefragt. Warum nicht auch hier?

So wichtig die Frage ist, ist sie jedoch nicht grundsätzlich genug. Denn nach wie vor steht das Recht der militärischen Intervention überhaupt auf dem Prüfstand, das der Westen sich anmaßt, auch wenn die UNO ihn nicht ermächtigt. Selbst wenn die amerikanische Regierung ausschließen könnte, dass die Al Qaida-nahe Oppositionsfraktion hinter dem Angriff vom 21. August steht - sei es, dass sie tatsächlich über Raketen verfügt, oder sei es, dass Selbstmordattentäter ausgesandt wurden -, wäre das doch noch lange kein Grund, jene Selbstermächtigungsdoktrin, die seit zwanzig Jahren heftig umstritten ist, jetzt auf einmal zu akzeptieren. Wir haben im Gegenteil allen Anlass, sie gerade vor dem Hintergrund der syrischen Ereignisse mit noch größerer Entschiedenheit als bisher zurückzuweisen. Dazu müssen wir diese Ereignisse in die Geschichte des "arabischen Frühlings" einordnen, aus dem inzwischen eine Eiszeit geworden ist.

Am Anfang glaubten nicht nur westliche Regierungen, sondern auch etwa die Occupy-Bewegung, in der arabischen Welt bahne sich ein Übergang zu westlichen Demokratieformen an. Der Grund war, dass in vielen arabischen Ländern gefordert wurde, autokratische Regierungen sollten durch welche ersetzt werden, die sich auf eine in freien Wahlen ermittelte Mehrheit der jeweiligen Bevölkerung stützten. Zu diesem Zeitpunkt wußte man schon, dass aus solchen Wahlen die Hamas im Gaza-Streifen siegreich hervorgegangen war, die der Westen doch keineswegs als demokratischen Partner anerkennt. Man hoffte aber, es in Ägypten, Tunesien oder Libyen mit gemäßigteren islamistischen Parteien zu tun zu haben. Dass diese überall in Wahlen die Mehrheit erlangen würden, war jedenfalls klar. Wir wissen inzwischen, die Hoffnung ist enttäuscht worden: Die Regierung der ägyptischen Muslim-Brüder hat versucht, die Scharia zur Grundlage des ägyptischen Rechts zu machen. Das war nicht gemäßigt und das war erkennbar undemokratisch. Aus diesem Grund zögert die amerikanische Regierung bis heute, den Putsch des ägyptischen Militärs gegen die islamistische Regierung als solchen zu benennen.

Denn sie weiß genau, Demokratie ist nicht schon dann vorhanden, wenn sich eine Regierung auf die gesellschaftliche Mehrheit stützt. Es war gewiss verständlich, wenn am Anfang der Entwicklung nur aus der Freude heraus westliche Politik gemacht wurde, dass es die Forderung der Mehrheitsherrschaft gab. Doch darüber nach allem, was geschah, nicht hinauszudenken, war und ist fahrlässig. Den Amerikanern wird doch ihre eigene Verfassung als Muster der Demokratie vorschweben. Diese wurde seinerzeit auf der Grundlage einer Argumentation beschlossen, die man in den "Federalist Papers" nachlesen kann: einer Sammlung von Zeitungsartikeln, die heute als unmittelbare Rechtsquelle gilt. Es ist geradezu das Hauptanliegen der Verfasser dieser Artikel, die Annahme zu verneinen, dass Mehrheitsherrschaft schon Demokratie sei. Dabei haben sie vor Augen, dass eine Mehrheit die Enteignung von Vermögen beschließen könnte. Das schließen sie aus: Eigentum darf auch von einer Mehrheit nicht angetastet werden. Die allgemeine Maxime, die sie damit bewusst anwenden, kann man so formulieren: Volksherrschaft ist Herrschaft des ganzen Volkes und nicht nur seiner Mehrheit. Dies kommt dadurch zur Geltung, dass alle Teile des Volkes über gewisse in der Verfassung niedergelegte Grundwerte einig sind, bevor auf solcher Grundlage Mehrheiten gebildet werden.

Über den Fall, dass sich die Einigkeit nicht herstellen lässt, brauchten die "Federalists" nicht nachzudenken. Sie konnten im Gegenteil mit gutem Grund auf die Homogenität des amerikanischen Volkes verweisen. Und das war die letzte Voraussetzung ihrer Argumentation, die dadurch erst schlüssig wurde: Nur ein homogenes Volk kann sich auf Grundwerte einigen; nur in einem Volk, das sich auf Grundwerte einigen kann, ist Mehrheitsherrschaft demokratisch, weil eine so eingebettete Mehrheit nicht dazu neigen wird, die Minderheit zu unterdrücken oder gar zu vernichten. Dass aber beide Voraussetzungen schon in Ägypten nicht gegeben sind, hat man gesehen. Die Muslimbrüder haben versucht, eine "Verfassung" im Alleingang zu errichten. Wären sie erfolgreich gewesen, hätten sie mit der Scharia die beträchtliche Minderheit der Säkularen ihrer Identität beraubt. Die Muslimbrüder sind daher keine Demokraten. Allgemeiner heißt das, Ägypten ist noch nicht homogen genug, sich auf eine Demokratie einigen zu können. Die Feindschaft von Islamisten und Säkularen ist zur Zeit noch unüberwindlich.

Die Lage in Syrien ist aber noch krasser. Dort stehen nicht nur Islamisten und Säkulare gegeneinander, sondern es gibt einen gefährlichen Gegensatz zwischen muslimischen Konfessionen. Die auf fünf bis zehn Prozent geschätzte Minderheit der Alawiten wird von der sunnitischen Mehrheit für "häretisch" gehalten. Da es in einer solchen Mehrheit immer Extremisten gibt, die sich mit der puren Existenz der "Häretiker" nicht abfinden, waren diese schon bisher hoch gefährdet, wurden aber dadurch geschützt, dass das alawitische Assad-Regime an der Macht ist. Auch die sunnitische Mehrheit war geschützt, denn das Regime konnte natürlich nicht wagen, einer 90 Prozent-Mehrheit die Konfession streitig zu machen. Es musste sich mit der Bekämpfung der Extremisten begnügen. Wie aber sähe es aus, wenn die Mehrheit herrschen könnte? Würden die Extremisten dann auch noch an die Kette gelegt werden? Werden sie im Irak an die Kette gelegt? Dort gab und gibt es einen vergleichbaren und annähernd ebenso gefährlichen Gegensatz von Konfessionen, der sunnitischen und schiitischen in diesem Fall, und wie man weiß, entlädt er sich in beständigen Mordanschlägen.

Es würde sich doch einmal lohnen, darüber nachzudenken, ob es nur "verbrecherisch" war, dass in Ägypten, Syrien und dem Irak autokratische Regimes geherrscht haben, die jedesmal eine Diktatur der gesellschaftlichen Minderheit über die Mehrheit bedeuteten. In Ägypten waren die Säkularen, in Syrien die Alawiten und im Irak die Sunniten in der Minderheit. Durch ihre Diktatur selber geschützt, waren sie immer auch gezwungen, die Konfession der jeweiligen Mehrheit anzuerkennen. Infolgedessen waren diese Gesellschaften lange stabil, auf Kosten der Demokratie freilich. Heute bricht in ihnen die Ordnung zusammen, ohne dass sie demokratisch würden. Aus diesem Befund muss man doch Schlüsse zu ziehen versuchen. Die "Federalists" haben geschlossen, ein homogenes Volk könne sich auf eine Demokratie einigen. Sollte der Umkehrschluss gelten, dass ein inhomogenes Volk wenn überhaupt, dann nur autokratisch regiert werden kann? Das würde ja nicht bedeuten, dass man sich mit der Autokratie dann abfinden müsste. Aber es wäre klar, worin in einem solchen Fall die demokratische Intervention von außen bestünde. Nicht darin nämlich, dass man Aufständische mit Waffen versorgt und, wenn das nicht zum "Erfolg" führt, selber militärisch eingreift, sondern darin, dass man die Homogenität der Kräfte des Volkes herbeizuführen, ihre Todfeindschaft in faire Gegnerschaft zu überführen versucht.

Wer hat denn mehr Erfahrung darin als gerade der Westen? Es gäbe ihn gar nicht, wenn er sie nicht hätte. Denn auch im Westen wurden zunächst Religionskriege ausgefochten, bevor sich die Parteien auf einen "Westfälischen Frieden" einigten, der langfristig die Demokratie ermöglichte. Dass sie ihre Geburt in den Vereinigten Staaten hatte, setzte voraus, dass ihre Träger aus England auswanderten, wo sie ihrer konfessionellen Identität, der "puritanischen", beraubt worden waren. Das alles ist der Regierung der heutigen USA bekannt. Warum rechtfertigt sie dann ihre Militärinterventionen mit einem Begriff von Demokratie, an den sie selber nicht glaubt? Man muss allerdings hinzufügen, dass sie gar nicht immer eingreift, wenn eine Gesellschaft undemokratisch regiert wird. Siehe Saudi-Arabien. Sie hat sich bisher darauf beschränkt, Machthaber auszuschalten, die sie für Sozialisten hält: Milosevic, Saddam, Gaddafi und jetzt Assad.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung vom 04.09.2008. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

05. September 2013

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