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Unterlassene Hilfeleistung - Ein Siebtel der Menschheit ist unterernährt und hungert.

Der Schweizer Soziologe, Politiker und Buchautor Jean Ziegler gehört zu den bekanntesten Kritikern der neoliberalen Globalisierung. Bis 2008 war er UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung.

Interview mit Jean Ziegler

Sie sprechen in ihrem jüngsten Buch "Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der dritten Welt" von Hunger als einem organisierten Verbrechen. Sie benutzen Worte wie Massaker und Massenvernichtung. Wer sind die Täter?

Jean Ziegler: Täter sind die, die den Weltmarkt für Nahrungsmittel beherrschen. Alle 5 Sekunden verhungert ein Kind. Letztes Jahr sind 57.000 Menschen täglich an Hunger und Unterernährung gestorben. Fast eine Milliarde von sieben Milliarden Menschen sind permanent unterernährt. Das sind Zahlen aus dem Welternährungsbericht der FAO. In dem selben Bericht heißt es, dass die Weltlandwirtschaft problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren könnte. Es gibt zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit objektiv keinen Mangel an Nahrungsmitteln. Deshalb sage ich, dass ein Kind, das an Hunger stirbt, ermordet wird. Wir sind nicht die Täter, aber solange wir nichts unternehmen und zusehen, sind wir Komplizen.

Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten strukturellen Mechanismen, die verhindern, dass das Hungerproblem gelöst wird?

85 Prozent der weltweit gehandelten Nahrungsmittel werden von 10 Lebensmittelkonzernen kontrolliert. Darunter Nestlé, Cargill, Dreyfus. Cargill kontrolliert 31,8 Prozent allen gehandelten Getreides, Dreyfus 32 Prozent allen gehandelten Reises. Diese Firmen entscheiden durch ihre Marktmacht, wer hungert und stirbt, wer isst und lebt. Eine weitere Ursache für den Hunger ist die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel. Nach Ausbruch der Bankenkrise haben Hedgefonds und Großbanken sich auf die Rohstoffbörsen und da insbesondere auf die Nahrungsmittelbörsen begeben. Das hat dazu geführt, dass Preise für Grundnahrungsmittel explodiert sind. Und nun kommen noch die Agrartreibstoffe hinzu. Im vergangenen Jahr haben die Vereinigten Staaten 130 Millionen Tonnen Mais und mehrere Hundert Millionen Tonnen Getreide als Agrartreibstoff verbrannt. Wenn alle 5 Sekunden ein Kind an Hungerfolgen stirbt, dann ist das Verbrennen von Nahrungsmitteln ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Worin sehen Sie politische Handlungsmöglichkeiten, denn juristisch sind die Täter kaum zu belangen?

Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Deutschland ist die lebendigste Demokratie des europäischen Kontinents und die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Morgen früh könnte der Deutsche Bundestag die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel verbieten, wenn der Aufstand des Gewissens käme.

Manche wenden ein, dass die Agrarspekulation nichts mit dem Hunger in der Welt zu tun habe, sondern eine wirtschaftliche Notwendigkeit sei. Stimmt diese Argumentation?

Der Waren-Termin-Kontrakt hat ein spekulatives Element, ist legitim und nötig. Ein Großproduzent von Getreide in Argentinien und eine Großbäckerei in New York kommen zusammen durch einen Waren-Termin-Kontrakt. Sie legen auf ein bestimmtes Datum hin einen Preis fest. Der Preis ist natürlich spekulativ, weil er eine Projektion in die Zukunft ist. Aber er dient einem wirtschaftlich legitimen Interesse. Bei der Börsenspekulation handelt es sich um etwas ganz anderes. Die Hedgefonds kaufen Waren-Termin-Geschäfte auf, die dann zu autonomen Wertpapieren werden. Sie werden Hunderte Male wieder verkauft, verpfändet etc. So, wie jedes andere Wertpapier an der Börse. Sie produzieren nie eine Ware und sie liefern nie eine. Sie haben keine wirtschaftliche Legitimation. Im Juli 2012 lag der reine Spekulationsgewinn bei Reis, Getreide und Mais bei 37 Prozent. Das ist eine Berechnung des Chefökonomen der UNCTAD, Heiner Flaßbeck. Er hat für die UNO ein Modell ausgearbeitet, das morgen früh zu verwirklichen wäre. Es schließt alle Akteure vom Agrarrohstoffmarkt aus, die nicht verbrauchen und die nicht produzieren.

In Ihrem jüngsten Buch ist auch von Alternativen die Rede. Sie sprechen nach wie vor von der Notwendigkeit der Landreform und erwähnen auch die Weltbank, die marktgestützte Landreformen fördert. Hat die Weltbank aus der Vergangenheit gelernt?

Die Weltbank hat etwas gelernt, weil sie bis vor kurzem vor allem Industrieinfrastrukturen gefördert hat. Staudämme, Erdölförderung etc. Die Subsistenzlandwirtschaft vernachlässigte sie komplett, weil diese im kapitalistischen Sinn nicht rentabel ist. Mittlerweile vergibt die Weltbank Kredite für kleinbäuerliche Landwirtschaft und ländliche Kooperativen: für Saatgut, Bewässerungsanlagen etc. Darin liegt ein Fortschritt.

Aber es gibt auch einen großen Rückschritt. Denn die Weltbank fördert mit Krediten ebenfalls das weltweite Landgrabbing. Die Argumentation der Weltbank ist dabei pervers. Sie verdreht richtige Erkenntnisse zu falschen Schlussfolgerungen. Die Bauern in Niger, Mali und in anderen Ländern hätten eine zu niedrige Produktivität. Deshalb müssten ausländische Investoren Kapital und Know-how bringen. Mit dieser Begründung finanzieren die Weltbank, die Europäische Investitionsbank und die Afrikanische Entwicklungsbank diese zwangsweise Landnahme durch Hedgefonds, multinationale Gesellschaften, usw. Und so geschieht die Vertreibung der ländlichen Bevölkerung.

Damit einher geht die Zerstörung der Menschen, Familien und Kulturen. Das Produktivitätsargument stimmt. Aber der afrikanische Bauer ist nicht weniger arbeitsam oder kompetent als der deutsche Bauer. Er verfügt praktisch über keine Bewässerung. Südlich der Sahara bis zum Kap der Guten Hoffnung werden nur drei Prozent der Nutzfläche künstlich bewässert. Der Rest ist Regenlandwirtschaft wie vor eintausend Jahren. Weder die Bauern selbst noch die Regierungen haben die Mittel, Bewässerungssysteme zu errichten. Es gibt nur 240.000 Zugtiere, 80.000 Traktoren, wenig animalischen und keinen mineralischen Dünger im subsaharischen Afrika. Die Staaten haben aufgrund der Auslandsverschuldung keine Mittel, um die Familienlandwirtschaft zu fördern. Unabhängig davon, wie diese Regierungen regieren, allein deshalb ist objektiv keine Investition in die Subsistenzlandwirtschaft möglich. Die Schlussfolgerung müsste also sein: Entschuldung und massive Investition in afrikanische sowie südasiatische und lateinamerikanische Subsistenzlandwirtschaft. Dann würde die einheimische Produktivität rasant steigen.

Es heißt angesichts der hohen Rohstoffpreise, dass das afrikanische Jahrhundert vor der Tür steht. Sehen Sie darin eine Chance?

Die hohen Rohstoffpreise lösen nicht das Hungerproblem. In Afrika sind laut FAO 35,2 Prozent der Bevölkerung permanent unterernährt. Der Run auf Rohstoffe, auch ausgelöst durch die ökonomische Entwicklung der Schwellenländer, schlägt sich statistisch im BIP vieler afrikanischer Staaten als Wachstumszahl nieder. Das Hungerproblem hingegen kann nur mit der Entwicklung der Familienlandwirtschaft gelöst werden.

Sie führen in Ihrem Buch das Beispiel Niger an.

Laut den UN-Statistiken ist Niger das zweitärmste Land der Welt. Niger hat über 1 Million Quadratkilometer und 10 Millionen Einwohner. Ein wunderbares Land mit uralten Kulturen. Hier siedeln die Haussa, die Djerma, die Tuareg, die Peulh. Niger verfügt über die zweitgrößten Uranreserven der Welt. Diese Uranminen werden ausschließlich vom französischen Energieunternehmen Areva, das eine staatliche Aktienmehrheit hat, ausgebeutet. Die Minen sind für Frankreich von strategischer Bedeutung, denn 62 Prozent der Energie kommen aus Atommeilern. Niemand in Niger kennt die Verträge mit Areva. Greenpeace hat versucht, per Prozess Einsicht in die Konzession zu erlangen. Das ist bislang nicht geglückt. Das Uran wird zu niedrigsten Preisen abgegeben. Gleichzeitig wird Niger immer wieder von Hungersnöten heimgesucht. Von den Rohstoffeinnahmen haben die Menschen nichts. Niger wurde durch Weltbank und IWF zur totalen Liberalisierung gezwungen.

Dazu gehört die Auflösung des staatlichen Veterinäramtes, was bei vielen Menschen, die von der Viehzucht abhängig sind, katastrophale Folgen hatte. Nun geht eine Machbarkeitsstudie der Weltbank davon aus, dass man durch Kapilarbewässerung 440.000 Hektar Land zusätzlich für Agrarwirtschaft nutzbar machen könnte. Auf diesen riesigen Landmengen könnten drei Ernten im Jahr stattfinden. Bis jetzt werden nur 4 Prozent des nationalen Territoriums landwirtschaftlich genutzt. Wenn man diese zusätzlichen 440.000 Hektar durch Bewässerungssysteme urbar machen würde, wäre die Bevölkerung des Niger, selbst angesichts der Klimakatastrophe oder Heuschreckenplagen, gerüstet. Es gäbe nie mehr eine Hungersnot. Das würde etwa 1,2 Milliarden Dollar kosten. Der zweitgrößte Uranproduzent der Welt hat nicht einen Cent, um dieses Projekt umzusetzen. In Niger herrscht die Areva wie ein Kolonialherr im 19. Jahrhundert.

Aber doch mit Unterstützung der nigerischen Politiker?

Was heißt mit Unterstützung? Der jetzige Präsident ist ein ehemaliger Angestellter von Areva. Vorher gab es einen Militärdiktator. Der empfing den chinesischen Bergbauminister. Daraufhin stürzte ihn der französische Geheimdienst. Der französische Geheimdienst übt die totale Kontrolle über die Regierung in Niger aus. Warum hat Präsident Hollande am 11. Januar 2013 die Intervention in Mali angefangen? Die Beseitigung der Djihadisten, die furchtbar sind, ist nur ein Grund. Aber hinzu kommen noch andere Interessen. Areva hat den Zugriff auf die Uranvorkommen in Südmali. Frankreich sah den Zugriff auf das Uran und damit die eigene Energieversorgung gefährdet, wenn die Djihadisten in Mali die Oberhand gewonnen hätten. Ich halte die Intervention in Mali für einen Rohstoffkrieg. Auch wenn er mit der Bekämpfung der Islamisten, die eine Plage der Menschheit sind, eine Legitimität hat. Aber jetzt müsste Hollande im zweiten Schritt mit sozialen Maßnahmen beweisen, dass er ein Interesse an eigenständiger sozialer und ökonomischer Entwicklung der Region hat. Er müsste dafür Sorge tragen, dass Mali und Niger die Souveränität über ihre Rohstoffe zurück erhalten. Um die sozialen Probleme solcher Länder wie Mali und Niger zu lösen, müsste eine zweite Entkolonialisierung stattfinden, die sich an den Zugriffsrechten auf die Rohstoffe entscheidet. Da wird Frankreich aber wohl kaum von seiner Vormachtstellung abrücken. Denn da würde der Strompreis in Frankreich steigen.

Sie halten die Entwicklung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft für den Schlüssel zur Lösung des Hungerproblems. Die linksliberale Regierung in Brasilien hat hingegen auf Extraeinnahmen aus dem Agrarhandel gesetzt und finanziert sehr erfolgreich Sozialprogramme, die Millionen Menschen aus der Armut geholt haben.

Ich halte den brasilianischen Weg für falsch. 90 Millionen Hektar Land sind in Brasilien im Besitz von 2 Prozent der Bevölkerung. An einer Landreform führt kein Weg vorbei. Seit der Unabhängigkeit Brasiliens hat es keine Landreform gegeben. Mit der Rückkehr der Zuckerrohrplantagen für die Produktion von Bio-Ethanol (Brasilien ist der zweitgrößte Bio-Ethanolproduzent der Welt) ist die Landkonzentration sogar noch gestiegen. Das Lula-Modell kann nur funktionieren, wenn der Staat mit seinen Exportüberschüssen und einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 6 bis 7 Prozent genügend Lebensmittel importieren und subventionieren kann. Der Punkt kann doch sehr schnell kommen, dass das BIP nicht mehr so stark wächst oder die Exportüberschüsse sinken, dann bricht das Modell zusammen. Ohne eine Strukturänderung kann es keine nachhaltige Bekämpfung der Armut geben. Und Strukturänderung heißt hier Landreform. Lula sprach bei seiner Wahl von Sofortmaßnahmen, um das Elend zu bekämpfen. Aber aus den Sofortmaßnahmen ist eine strukturelle Politik geworden und das kritisiert die Landlosenbewegung MST zu recht als eine gefährliche Politik. Denn nur der Familienbetrieb mit gesichertem Landbesitz kann die Nahrungsmittelsouveränität Brasiliens garantieren.

Das Interview führte Katja Maurer

Jean Zieglers jüngstes Buch heißt "Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der dritten Welt" und ist 2012 bei Bertelsmann erschienen.

Quelle: medico international - medico-rundschreiben 1/2013.

Veröffentlicht am

20. Mai 2013

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