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Gewaltfreiheit: Kunst des Lassens

Vortrag von Ullrich Hahn, Präsident des Internationalen Versöhnungsbundes, Deutscher Zweig, gehalten auf dem Sommertreffen von "gewaltfrei handeln e.V." am 27.08.2011 in Imshausen

1.

Es geht um die Bedeutung und die Kunst des Lassens in der Tradition gewaltfreien Lebens und Handelns.

Handeln ist hier nicht nur zu verstehen als Tun, sondern als ein bewusstes Verhalten oder eine Haltung, die sich auch in einem Unterlassen ausdrücken kann.

In dieser Tradition gab und gibt es einerseits vernünftige Gründe, dem Lassen eine hohe Bedeutung beizumessen; zum anderen gab und gibt es aber auch eine spirituelle Seite oder Tiefe, die das Lassen haben kann. Diese wurde insbesondere von religiösen Lehrern hervorgehoben, gilt aber nicht nur denen, die an Gott glauben.

2.

In der gewaltfreien Bewegung insbesondere bei Gandhi, lassen sich vier Handlungsebenen unterscheiden:

a) Selbst kein Unrecht tun - etwa im Sinne der zehn Gebote oder der "goldenen Regel";

b) mit dem Unrecht (unrechten Strukturen) nicht zusammenarbeiten, sie nicht legitimieren oder auf andere Weise unterstützen (z.B. Konsumverzicht gegen die Teilhabe an Ausbeutung und Unterdrückung, Zerstörung der Lebensbedingungen; Verweigerung von Steuern, Verzicht auf Zinsen, bewusste Wahl von Energieformen und Verkehrsmitteln);

c) Widerstand leisten gegen das Unrecht.

Dies beginnt mit dem - in der Regel noch legalen - Widerspruch und dem Dialog bis hin zur bewussten Übertretung von Gesetzen und Regeln, dem zivilen Ungehorsam.

Dabei haben gewaltfreie Aktionen in der Regel nicht das Ziel, das Unrecht auf direktem Weg zu überwinden. Sie wollen vielmehr die öffentliche Aufmerksamkeit erregen und eine Meinungsbildung in Richtung auf eine Änderung politischer oder wirtschaftlicher Entscheidungen in Gang setzen (z.B. Blockaden bei Castor-Transporten oder vor Raketenstandorten; Aufruf zum Boykott bestimmter Waren etc.).

d) Modellhaft Formen gerechten Lebens entwickeln (in Bezug auf Energie, Verkehr, Geldrücklagen, Verbindung von Produzenten und Konsumenten im Bemühen um einen gerechten Preis, "fairer Handel", Nachhaltigkeit im Bezug auf die Umwelt, Integration der Schwachen, Fremden und schuldig Gewordenen).

3.

In diesen Handlungs-und Lebenszusammenhängen besitzt das Unterlassen nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ Vorrang vor dem Tun:

Wir können viel mehr unterlassen als wir tun können. Wir können zumeist nur eine Sache tun, aber vieles gleichzeitig unterlassen, letzteres sogar Tag und Nacht.

Es gibt gute Gründe zur Annahme, dass auch unser Gewissen uns nur gebietet, Unrecht zu unterlassen, und uns in Bezug auf das Tun einen breiten Raum offen lässt, den wir in großer Freiheit entsprechend unserer Zeit und Kraft ausfüllen können.

4.

Bei der Analyse gesellschaftlichen Unrechts als Voraussetzung für gewaltfreie Gegenstrategien verwendete Hildegard Goss-Mayr oft das Bild eines auf der Spitze stehenden Dreiecks, das nur durch äußere Stützen in seiner labilen Lage gehalten werden kann. Zu diesen Stützen einer unrechten Situation gehören regelmäßig auch wir selbst mit unserer Zusammenarbeit, der vielgestaltigen Legitimation und Nutznießung.

Noch bevor wir etwas tun und an manchen Stützen rütteln, können wir aufhören, selbst Stützen des Unrechts zu sein.

5.

Der Vorrang des Lassens hindert uns nicht am nötigen Tun, sondern gibt uns vielmehr die nötige Freiheit und den Raum dazu.

Je mehr wir noch selbst mit dem Unrecht verstrickt sind, mit den Drahtziehern in einem Boot sitzen, Nutznießer des Unrechts sind (in der Teilhabe an der Rendite ihrer Geldanlagen, dem billigen Preis der auf Kosten der Armut hergestellten Güter und des ungerechten Welthandels) besitzen wir gar nicht die Handlungsfreiheit und die moralische Kraft zum Widerstand.

6.

Neben der praktisch nachvollziehbaren hat das Loslassen aber auch eine spirituelle Seite, die die äußere Praxis unterstützt und das Handeln zu einem Lebensvollzug erweitert.

Das Lassen, Loslassen, Unterlassen, der Verzicht ist wie ein Ausatmen nach langer Anstrengung, Befreiung der Seele, Sabbat für den Körper, Gelassenheit für den Geist.

Die uns überlieferten Väter der Gewaltfreiheit haben alle keinen gestressten Eindruck vermittelt, obwohl sie überaus wirkungsvoll waren:

Sokrates hat Gespräche geführt, Fragen gestellt. Er hat es nicht einmal für nötig befunden ein Buch zu schreiben. Als er auf einem Markt stand, soll er gesagt haben:"Wie viele Dinge gibt es doch, die ich alle nicht brauche."

Jesus ist Menschen auf seinem Weg begegnet, hat mit ihnen gesprochen und einige geheilt. Er war nie in Eile, verzichtete ausdrücklich auf die ihm angebotenen Möglichkeiten politischer Macht und Herrschaft und starb verspottet am Kreuz, konsequent bis in den Tod, der für diejenigen, die mit ihm gelebt hatten, zum Beginn einer neuen Lehre wurde, ähnlich wie bei Sokrates.

Henry David Thoureau hat nichts Großes getan. Er hat Tagebuch geschrieben über seine Beobachtungen von Natur und Gesellschaft der unmittelbaren Umgebung seiner Heimat.

Eine Nacht hatte er im Gefängnis verbracht, weil er dem Staat, der Krieg führte, keine Steuer bezahlt hat. Sein kleiner Aufsatz, den er nach diesem kurzen Erlebnis verfasste, "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat", hat aber Generationen nach ihm ermutigt, gleichfalls ihrem Gewissen zu folgen und die Mitwirkung an staatlichem Unrecht zu unterlassen.

Gandhi hat ein paar wenige, dafür sehr berühmt gewordene politische Kampagnen initiiert. Aber die meiste Zeit hat er in seinem Ashram gelebt, wollte modellhaft zeigen, was eine gerechte Gesellschaft ausmacht: Verzicht auf ungerechten Luxus, Gleichheit von Mann und Frau, Respekt vor fremden Religionen, die Würde auch der einfachen Arbeit, für die er sich nie zu schade war.

Für den wichtigen Führer eines Volkes von mehreren Millionen Menschen war es auffällig, wie viele Stunden er tagtäglich am Spinnrad saß - eine aus unserer Sicht merkwürdig uneffektive Art, seine wertvolle Zeit einzusetzen.

7.

Nach Meister Eckhard, den mittelalterlichen Mönch, und ihm folgend für Erich Fromm geht es mit dem Lassen um die grundlegende Änderung unseres Handlungs-und Lebenszieles: vom Haben zum Sein.

Eckhard: "Die Leute brauchten nicht soviel nachzudenken, was sie tun; sie sollten vielmehr bedenken, was sie wären. Wären nun aber die Leute gut und ihre Weise, so könnten ihre Werke hell leuchten. Bist du gerecht, so sind auch deine Werke gerecht. Nicht gedenkt man Heiligkeit zu gründen auf ein Tun; man soll Heiligkeit vielmehr gründen auf ein Sein, denn die Werke heiligen nicht uns, sondern wir sollen die Werke heiligen."

Wir sollen frei werden von den Dingen, dem "dies und das", was unseren Geist gefangen hält (u.a. die Fülle der Information, die seltsamerweise zu einer Verdummung auf hohem Niveau führen kann), damit wir in Freiheit bei den Dingen stehen und uns den Menschen zuwenden können, die uns brauchen.

Für Eckhard führt das Lassen und Leerwerden zu einer Haltung der "Abgeschiedenheit", die uns nicht ins Abseits führt, sondern zur Standhaftigkeit in der Auseinandersetzung mit und in der Welt:

"Dazu nimm einen Vergleich: eine Tür geht in einer Angel auf und zu. Nun vergleiche ich das äußere Brett der Tür dem äußeren Menschen, die Angel aber setze ich dem inneren Menschen gleich. Wenn nun die Tür auf-und zugeht, so bewegt sich das äußere Brett hin und her, und doch bleibt die Angel unbeweglich an ihrer Stelle und wird deshalb niemals verändert. Ebenso ist es auch hier, wenn du es recht verstehst."

8.

Für Eckhard ist der Weg vom Haben zum Sein kein Weg zur Selbstverwirklichung des modernen Menschen, sondern der Weg zur Einheit mit Gott.

In dem Maß, wie wir loslassen und leer werden, werden wir frei zur Gottesbegegnung, zur "Gottesgeburt in der Seele".

"Du musst wissen, dass sich noch nie ein Mensch in diesem Leben so weit weitgehend gelassen hat, dass er nicht gefunden hätte, er müsse sich noch mehr lassen. Der Menschen gibt es wenige, die das recht beachten und darin beständig sind. Es ist ein gleichwertiger Austausch und ein gerechter Handel: soweit du ausgehst aus allen Dingen, so weit, nicht weniger und nicht mehr, geht Gott ein mit all dem Seinen, dafern du in allen Dingen dich des deinen völlig entäußerst. Damit heb an und lass dich dies alles kosten, was du aufzubringen vermagst. Da findest du wahren Frieden und nirgends sonst."
"Wo ich nichts für mich will, da will Gott für mich….."

9.

Im Loslassen werden wir demütig, nicht unterwürfig, sondern bescheiden auch in der realistischen Wahrnehmung unserer Grenzen und Unvollkommenheit. Gleichzeitig werde ich dankbar für so viele mir auch fremde Menschen, die das Nötige tun, zu dem ich selbst nicht in der Lage bin.

Entscheidend ist nicht die von uns abhängige Vollendung, sondern das rechte Wollen, sind die rechten Anfänge, die Bereitschaft, immer wieder zu beginnen, "und wenn wir Wenige sind, werden wir klein beginnen" (Gustav Landauer).

Für Eckhard ergibt sich aus dem "Sein" eine innere Haltung, wie die Schwerkraft eines Steines, die immer geneigt sein wird, auch das Rechte zu tun, wo es nötig ist.

Ganz ähnlich versteht später als Eckhard, aber geistig mit ihm verwandt, Immanuel Kant das Wollen:

"Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille."

10.

In der Annährung zum Sein durch das Lassen könne wir unser "Leben ohne warum" führen.

Eckhard:"Fragte einer das Leben tausend Jahre lang: warum lebst du? - Es würde antworten, wenn es sprechen könnte: Ich lebe darum, dass ich lebe. Es kommt daher, dass das Leben aus seinem eigenen Grund lebt und aus sich selber quillt. Darum lebt es ohne warum eben darin, dass es sich selber lebt. Wenn einer einen tätigen Menschen, der aus seinem eigenen Grund wirkte, fragte, warum wirkst du deine Werke, dann spräche dieser, sollte er genau antworten: ich wirke darum dass ich wirke."

Dies bedeutet, das Unrecht unterlassen, weil es Unrecht ist, das Rechte tun, weil es recht ist, arbeiten, ohne auf den Erfolg zu schielen Leonhard Ragaz: "Schiele nicht auf den Erfolg, arbeite, der Erfolg ist Gottes."

Es bedeutet, Partei ergreifen für die Schwachen und Geschlagenen, auf der Seite derer stehen, die ohne Waffen sind, unabhängig von der Frage, "ob es was bringt".

Es geht darum, den Weg des Gewaltverzichts zu gehen und dem Ziel im Weg gegenwärtig sein.

Veröffentlicht am

02. September 2011

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