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Uri Avnery: Das System

Von Uri Avnery, 3. November 2012

FÜR EINEN Ausländer wie mich sieht das Wahlsystem der USA etwas komisch aus.

Der Präsident wird von einem "Wahlausschuss" gewählt, der nicht notwendigerweise den Willen des Volkes reflektiert. Dieses System, das in den Realitäten des 18. Jahrhunderts seinen Ursprung hat, hat keine Verbindung mit der Wirklichkeit von heute. Es führt leicht zu der Wahl eines Präsidenten, der nur die Stimmen einer Minderheit gewonnen hat und so die Mehrheit ihrer demokratischen Rechte beraubt.

Wegen dieses archaischen Systems sind die letzten drei Tage der Kampagne nur den "swing states" gewidmet, den Staaten, deren Wahlausschuss-Stimmen noch ungewiss sind.

Bestenfalls eine seltsame Art und Weise, den Führer der stärksten Macht der Welt zu wählen.

Das System, Gouverneure, Senatoren und Vertreter zu wählen, ist auch sehr fragwürdig, soweit es eine Demokratie betrifft. Es ist das alte britische System des "der Gewinner kriegt alles"? Dies bedeutet, dass es überhaupt keine Chance für ideologische oder sektiererische Minderheiten gibt, im ganzen politischen System vertreten zu sein. Neue und kontroverse Ideen haben fast keine Chance.

Die Philosophie hinter solch einem System ist, dass Stabilität wichtiger ist als volle Demokratie, Wandel und Neuerungen werden verzögert oder überhaupt verhindert. Es ist typisch für eine konservative Aristokratie.

Es scheint, dass keine ernst zu nehmenden Stimmen in den USA (sich für) einen Wandel des Systems engagieren. Wenn Präsident Obama oder Präsident Romney in dieser Woche von einer winzigen Mehrheit in Ohio gewählt wird, so sei es. Schließlich hat das System seit mehr als 200 Jahren gut genug funktioniert, warum also jetzt daran herumpfuschen?

BEI DEN israelischen Wahlen dagegen sprechen mehrere Parteien unaufhörlich über "das System". "Das System ist schlecht". "Das System muss geändert werden." "Stimme für mich, weil ich das System verändern kann!".

Welches System genau? Nun das hängt von Dir, dem Wähler, ab. Du kannst hineinlesen, was immer du wünschst (oder besser, was Du nicht wünschst.) Die Wahlen. Die Wirtschaft. Das Gerichtswesen. Demokratie. Religion. Du nennst es.

Offen gesagt, wann immer ein Politiker damit anfängt, über "Das System" zu reden, bekomme ich eine Gänsehaut. Übersetze diese beiden Wörter ins Deutsche, und du erhältst "Das System".

"Das System" war während seines 13-jährigen Kampfes um die Macht das Hauptziel der Propaganda Adolf Hitlers. Es war unglaublich wirksam (am zweitwirksamsten war seine Verurteilung der "November- Verbrecher", die den Waffenstillstand nach der Niederlage Deutschlands im 1. Weltkrieg unterzeichneten. Unsere eigenen Faschisten sprechen jetzt von den "Oslo-Verbrechern").

Was meinten die Nazis, als sie über "das System" wetterten? Alles und gar nichts. Was immer ihre Zuhörer in diesem besonderen Augenblick hassten: Die Wirtschaft, die Millionen zu Arbeitslosigkeit und Elend verdammten. Die Republik, die verantwortlich für die Wirtschaftspolitik war. Die Demokratie, die die Republik gründete. Ganz sicherlich die Juden, die die Demokratie erfanden und die Republik regierten. Die politischen Parteien, die den Juden dienten. Und so weiter.

WENN ISRAELISCHE Politiker gegen "Das System" donnern, meinen sie gewöhnlich das Wahlsystem.

Dies begann gleich von Anfang an. David Ben-Gurion war ein Demokrat, aber auch ein Autokrat. Er wollte mehr Macht. Er war verstimmt, als sich die politischen Parteien vermehrten, die ihn zwangen, schwerfällige Koalitionen zu bilden. Wer braucht das?

Der Staat Israel war nur eine Fortsetzung der zionistischen Bewegung, die immer eine Art Wahlen hatte. Diese waren streng proportional. Jede Gruppe stellte ihre eigene Partei auf, jede Partei war im Zionistischen Kongress vertreten, entsprechend der Zahl ihrer Wähler. Einfach und demokratisch.

Als der israelische Staat 1948 gegründet wurde, wurde dieses System automatisch von ihm adoptiert. Es hat sich bis heute nicht verändert, außer der "Minimum-Klausel", die von ein Prozent auf zwei Prozent anstieg. Bei den letzten Wahlen waren 33 Parteien im Wettbewerb; 12 überschritten die 2%-Schwelle und sind in der Knesset vertreten, die sich gerade entschieden hat, sich selbst aufzulösen.

Im Großen und Ganzen arbeitete dieses System ziemlich gut. Es sicherte ab, dass alle Gesellschaftsgruppen - die nationalen, die ethnischen, die konfessionellen und sozio-ökonomischen etc. vertreten waren und sich als zugehörig fühlen konnten. Neue Ideen konnten politischen Ausdruck finden. Ich wurde dreimal gewählt.

Das ist eine der Erklärungen für das Wunder, dass Israel eine Demokratie war - ein Phänomen , das nahezu unerklärlich ist, wenn man bedenkt, dass fast alle Israelis aus äußerst anti-demokratischen Ländern kamen - aus dem Russland der Zaren und Kommissare, aus Marokko, dem Irak und dem Iran der autoritären Könige, aus dem Polen von Joszef Pilsudski und seinen Erben und natürlich Juden und Araber, die im ottomanischen und britischen Palästina geboren wurden.

Aber der Gründer der zionistischen Bewegung, Theodor Herzl, war ein Bewunderer des kaiserlichen Deutschlands, in dem die Demokratie sich bis zu einem gewissen Grad entwickelte, und auch Großbritanniens. Die Gründungsväter, die aus Russland kamen, wollten wie die westlichen Europäer fortschrittlich sein.

Deswegen hielt Israel eine Demokratie aufrecht, die wenigstens am Anfang so gut wie möglich Gleichberechtigung für alle vertrat. Der Slogan "Die einzige Demokratie im Nahen Osten" war noch nicht ein Witz. Sie sorgte für eine stabile Regierung, die sich auf sich verändernde Koalitionen gründete.

Ben Gurion hasste das Wahlsystem. Seine Attacken gegen dieses wurden von der allgemeinen Öffentlichkeit, einschließlich seiner eigenen Wähler, als eine persönliche Marotte angesehen. 1977 gewann eine neue Partei mit Namen Dash 15 Sitze mit dem einzigen Programmpunkt, das Wahlsystem zu verändern, das an allen Übeln des Landes schuld wäre. Die Partei verschwand bei den nächsten Wahlen.

DER RECHTMÄSSIGE Erbe dieser dahingegangenen Partei ist jetzt die neue Partei von Yair Lapid: "Es gibt eine Zukunft", die den "Wandel des Systems", einschließlich des Wahlsystems, wünscht.

In welcher Richtung? Bis heute ist dies überhaupt nicht klar. Ein Präsidialsystem nach amerikanischer Art ? Ein britisches Wahlbezirkssystem, bei dem der Sieger alles bekommt. Das nachkriegsdeutsche System (das ich vorziehen würde), bei dem die Hälfte des Parlaments bei landesweiten Verhältniswahlen gewählt wird und die andere Hälfte in Wahlbezirken?

Was wünscht Lapid noch zu ändern? Er war lobenswerter Weise der einzige, der das Palästina-Problem vorbrachte, als er erklärte, er werde an keiner Regierung teilnehmen, die nicht Gespräche mit den Palästinensern aufnehmen will. Das heißt nicht sehr viel, da Gespräche endlos weitergehen und nirgendwo hinführen können - wie die Vergangenheit gezeigt hat. Er erwähnte kein einziges Mal das Wort "Frieden". Er versprach auch, dass Jerusalem nicht geteilt werden wird - ein Versprechen, das garantiert jede Verhandlung unmöglich macht. Er gab seine Erklärung in Ariel ab, der Hauptstadt der Siedler, die von der ganzen Friedensbewegung boykottiert wird.

DOCH DER Hauptfeind des "Systems" ist Avigdor Liebermann. In seinem Mund bekommen die beiden Wörter ihren ursprünglichen faschistischen Unterton zurück.

In der vergangenen Woche ließ Binjamin Netanjahu eine Bombe fallen: der Likud und Liebermans "Israel-unser-Heim"-Partei werden eine gemeinsame Wahlliste aufstellen - und brachte so die Schaffung einer gemeinsamen Partei in Gang. Die Liste wird "Likud Beitenu" genannt werden (Likud-Unser-Heim). Er setzte in seiner zögerlichen Partei seinen Willen leicht durch - obwohl keiner die Details des Abkommens kannte.

Aber die Hauptteile der mündlichen Abmachung sind schon durchgesickert: Lieberman will die Nummer Zwei auf der Liste und in der Lage sein, eine der drei Hauptministerien in der nächsten Regierung zu bekommen: das Verteidigungs-, Finanz- oder das Außen-Ministerium.

Da kann es nicht den leisesten Zweifel geben, dass Liebermann das Verteidigungsministerium wählen wird , obwohl er der Öffentlichkeit weis zu machen versucht, dass er das Außenministerium vorziehen würde, sein gegenwärtiger Job, in dem er von den meisten wichtigen Führern der Welt boykottiert wird.

Das eigentlich Gemeinte der Abmachung ist, dass die beiden Parteien bald eine Partei werden, dass Lieberman Netanjahu als Führer des ganzen rechten Flügels beerben wird und dass wir ihn in ein paar Wochen als den allmächtigen Verteidigungsminister sehen werden - mit seinem Finger auf den Abzugsknöpfen für konventionelle und nukleare Waffen und, was noch erschreckender ist, als einziger Gouverneur der besetzten palästinensischen Gebiete.

Viele Israelis schaudert es bei diesen Gedanken. Vor nur ein paar Jahren wäre solch ein Gedanke unmöglich gewesen. Obwohl Lieberman schon vor 30 Jahren nach Israel kam, blieb er im Wesentlichen ein "russischer Immigrant. Tatsächlich kam er aus Sowjet-Moldawien.

Es ist etwas Unheimliches um seine Erscheinung, den Gesichtsausdruck, seine verschlagenen Augen und seine Körpersprache. Sein Akzent im Hebräischen ist noch stark russisch, seine Ausdrucksweise ungehobelt und drückt im brutalsten Sinne eine hemmungslose Machtgier aus.

Sein engster (und vielleicht einziger) Freund im Ausland ist Alexander Lukaschenko, Präsident von Weißrussland und der letzte verbliebene Diktator in Europa. Sein Hauptobjekt der Bewunderung ist Vladimir Putin.

Liebermans schamloses Credo ist die ethnische Säuberung, einen "araber-reinen" jüdischen Staat zu schaffen. Aus der Sowjetunion hat er eine abgrundtiefe Verachtung für die Demokratie und einen Glauben an eine "starke" Regierung mitgebracht.

Vor Jahren prägte ich die Gleichung "Bolschewismus minus Marxismus = Faschismus".

In seiner zwei Minuten langen Rede an die Nation, die Fusion betreffend, benützte Netanjahu 13 Mal das Wort "stark" (starke Regierung, starker Likud, starkes Ego), mächtig (mächtiges Israel, mächtiger Likud) und "Regierbarkeit", ein neues hebräisches Wort, das von Lieberman und Netanjahu geliebt wird. (Mehrere Kommentatoren benützten in dieser Woche den Namen, den ich vor Jahren prägte: Bieberman).

Wenn Bieberman diese Wahlen gewinnt, wird es tatsächlich das Ende des "Systems" sein - und der Beginn eines furchterregenden neuen Kapitels in der Geschichte unserer Nation.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert.

Weblinks:

Veröffentlicht am

04. November 2012

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