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Johan Galtung: Rationale Konfliktlösung: Was steht ihr im Weg?

Von Johan Galtung, Basel, World Peace Academy, Mai 2012Einige meiner vor kurzem gemachten Äußerungen, die in der Presse aus dem Zusammenhang gerissen zitiert worden sind, haben gewisse Gefühle verletzt. Das tut mir leid! Einer dieser Zusammenhänge war das Gerichtsverfahren gegen Anders Breivik in Norwegen mit seinen zahlreichen Konsequenzen. Den tieferen Zusammenhang zeigen die hier besprochenen Konflikte.

Ein Thema, vier Konflikte in der Gegenwart, einer in der Vergangenheit und einer in der Zukunft. Konflikt ist eine Beziehung zwischen Parteien oder Akteuren, deren Ziele miteinander unvereinbar sind. Konflikt ist keineswegs die Eigenschaft einer Partei. Konflikt bedeutet die Gefahr von Gewaltanwendung und gleichzeitig die Herausforderung zum Schaffen einer neuen Realität. Wenn man also die Schoah verstehen will, kann man weder auf die Erzählungen von den unaussprechlichen Schreckenstaten der Deutschen noch auf die Erzählungen vom unendlichen Leid der Juden verzichten. Aber wir brauchen auch die Erzählung von den Beziehungen zwischen Deutschen und Juden, zwischen Deutschen und anderen und zwischen Juden und anderen. Wenn wir die nicht kennen, kommen wir nicht weiter: Wenn der Konflikt in der Beziehung liegt, dann ist die Lösung eine neue Art der Beziehung. Damit tadeln wir durchaus nicht die Opfer. Es kommt vor allem auf die Beziehung an!

Erster Fall: USA versus Lateinamerika und Karibik

Die Abstimmung bei der vor Kurzem zusammengetretenen Versammlung der Organization of American States endete mit 32 gegen 1, die USA. Die 32 wollten, dass Kuba wieder aufgenommen würde, und die Entkriminalisierung von Marihuana. Obama legte gegen beides sein Veto ein. Die Beziehung: ein Skandal, von einem Sex-Skandal überschattet.

Lösung: Die USA gibt in beiden Punkten den Regeln der Demokratie nach, handelt eine Zeit für den Übergang aus und führt eine Klausel zur Überprüfung nach 5 Jahren ein. Die USA sind auch mit CELAC - der Organisation der lateinamerikanischen und karibischen Staaten ohne USA und Kanada - einverstanden. OAS wird zum Treffpunkt für gleiche und freundschaftliche Nord-Süd-Beziehungen. CELAC und die gesamte Welt würde Washington mit offenen Armen aufnehmen! Ein Seufzer der Erleichterung. Und dann würde die Welt den Kampf gegen den weitaus schädlicheren Tabakgebrauch fortsetzen.

Was steht dem im Weg? Ein im Niedergang befindliches Imperium, das sich an die Vergangenheit klammert, seine Angst, es könnte schwach wirken, Wahlen, große Probleme, z. B. Wirtschaftskrise und soziale Desintegration: vgl. die Bücher Charles Murray, Coming Apart: The State of White America, 1960-2010, und Timothy Noah, The Great Divergence. America’s Growing Inequality Crisis and What We Can Do about It (2012). Hinterhofbehandlung des US-Hinterhofs.

Zweiter Fall: Israel versus Iran, das Thema Atomkraft, Krieg oder nicht

Uri Avnery: "In unserem Land erleben wir jetzt eine Art verbalen Aufstands gegen die gewählten Politiker. Die Aufständischen sind eine Gruppe gegenwärtiger und ehemaliger Armee-Generäle und Chefs des Auslands-Geheimdienstes, [Dagan, ehemaliger Chef des Mossad] und Inlands-Sicherheitsdienstes [Diskin, ehemaliger Chef des Shin Beth]. Alle verurteilen die Drohung der Regierung, einen Krieg gegen den Iran anzuzetteln, und einige verurteilen, dass die Regierung es unterlässt, mit den Palästinensern einen Frieden auszuhandeln."

"Diskin zufolge […] wird Israel jetzt von zwei inkompetenten Politikern mit messianischen Wahnvorstellungen und wenig Sinn für Realität regiert. Ihr Plan, den Iran anzugreifen, ist im Begriff, zu einer weltweiten Katastrophe zu führen. Er wird nicht nur die Herstellung einer iranischen Atombombe nicht verhindern, sondern er wird im Gegenteil die Bemühungen darum beschleunigen - dieses Mal mit Unterstützung der Weltgemeinschaft."

Uri Avnery über die nicht ganz dialogische - talmudische Reaktion:

"Sie taten das, was Israelis fast immer tun, sobald sie mit ernsthaften Problemen oder schwerwiegenden Argumenten konfrontiert werden: Sie nahmen nicht die Sache an sich in Angriff, sondern sie suchten sich irgendein winziges Detail heraus und ritten endlos darauf herum. So gut wie niemand versuchte wirklich, die Behauptungen der Offiziere zu widerlegen, weder die über den vorgeschlagenen Angriff auf den Iran noch die über die Angelegenheiten der Palästinenser. Sie konzentrierten sich auf die Sprecher, nicht auf das, was sie gesagt hatten. Sowohl Dagan als auch Diskin […] seien verbittert, weil ihre Dienstzeit nicht verlängert worden sei. Sie fühlten sich gedemütigt. Sie gäben ihrer persönlichen Frustration Ausdruck."

Dann hat laut Avnery Diskin über Netanjahu gesagt: "ein vom Gedanken an Holocaust besessener Fantast ohne Kontakt zur Realität, der allen Gojim misstraut und der in die Fußstapfen seines rigiden und extremistischen Vaters zu treten versucht. Das alles zusammen macht Benjamin Netanjahu zu einem Mann, der als Führer einer Nation während einer realen Krise eine Gefahr darstellt."

Lösung: Eine kernwaffenfreie Zone im Nahen Osten. 64 Prozent der Israelis sind dafür, ebenso Iran, vorausgesetzt Israel ist es. Das könnte auch der koreanischen Halbinsel als Vorbild dienen. Wenn die Beteiligten einen Versuch vereinbaren würden, würde ein Seufzer der Erleichterung durch die Welt gehen und beide Länder würden mit offenen Armen aufgenommen.

Ein paar Fragen bleiben offen: Unter wessen Schirmherrschaft und wessen Überwachung soll das geschehen? Wie steht es mit Pakistan und Ali Bhuttos "islamischer Bombe"? Unmöglich ohne Indien, das die Denuklearisierung der Supermächte zur Bedingung macht. Darauf gibt es Antworten. Sie alle sind es wert, in aller Tiefe und mit Ernst diskutiert zu werden.

Israel vergeudet seine Zeit. Es gibt eine wunderbare talmudische Tradition: die kostbare Freiheit des Ausdrucks. Gewöhnlich verfügt Ha’aretz darüber, aber leider wird sie jetzt dazu missbraucht, Menschen zu beschimpfen, statt dass sie für die Lösung sehr realer Krisen eingesetzt würde. Vgl. die Bücher Peter Beinart, The Crisis of Zionism and Gershom Gorenberg, The Unmaking of Israel (2011).

Was steht dem im Weg? Dass die Schrecken der Vergangenheit den Diskurs bestimmen. So wie einige Iraker das Massaker in Bagdad von 1258 benutzen, so benutzen die Israelis den Holocaust als Rahmen für die Weltereignisse. Sie sind blind für die Unterschiede und es fällt ihnen nicht ein, sie könnten sich überlegen, was damals hätte getan werden können. Viele lassen das durchgehen, um die Gefühle der Israelis und der übrigen Juden nicht zu verletzen, oder aus Angst, als Antisemiten oder Holocaust-Leugner bezeichnet zu werden. Anders dagegen Dagan, Diskin und einige Generäle, dazu wahre Freunde, die nach Lösungen suchen. Sie sind keine Antisemiten noch Holocaustleugner noch Gefangene der Vergangenheit.

Dritter Fall: Israel versus Palästina

Seit 1971 bringe ich Gründe für das Folgende vor: eine Nahost-Gemeinschaft von Israel mit seinen fünf arabischen Nachbarn, Anerkennung Palästinas nach dem Völkerrecht, die Grenzen von 1967 mit Austausch von Gebieten, israelische Kantone in der Westbank und palästinensische Kantone im Nordwesten Israels.

Lösung: Ein 2-Saaten-Israel-Palästina-Kern innerhalb dieser Gemeinschaft aus 6 Staaten innerhalb einer Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten (oder Westasien). Vorbild: Deutschland-Frankreich 1950, + EEC wie vom 1. Januar 1958, + OSCE seit 1990. Offene Grenzen, ein Ministerrat, eine Wasser-Kommission, Grenzpatrouillen, Wirtschaft, Hauptstädte in den beiden Jerusalems, auch für Palästinenser das Recht zur Rückkehr. Die Zahlen seien zu verhandeln, betonte Arafat.

Was steht dem im Weg? Die wichtigsten israelischen und arabischen Gegenargumente: "Da wir von feindlichen Arabern umgeben sind, können wir sie nicht so nahe an uns heranlassen, sie übertreffen uns zahlenmäßig, sie stoßen uns ins Meer", sagt die eine Seite. "Die Juden penetrieren uns wirtschaftlich und übernehmen unsere Wirtschaft", sagt die andere Seite.

Darauf gibt es Antworten: Entscheidungen sollten im Konsens getroffen werden. Ein langsamer Anfang mit freiem Verkehr von Waren, Menschen, Dienstleistungen und Ideen - Ansiedelungen und Investitionen folgen dann vielleicht später. Vertrauen aufbauen. Die Verwandlung der Beziehung, die auf schlimme Weise durch naqba zerbrochen wurde, in eine friedliche, sich entwickelnde Beziehung.

Vierter Fall: Ein Rezept für eine Katastrophe

Minderheiten und Außenseiter besetzen wichtige Nischen in Wirtschaft und Kultur: Türken versus Armenier, Hutus versus Tutsis, Indonesier versus Chinesen. Nicht jedoch Malaien versus Chinesen dank Mahathirs Entscheidung zugunsten der Mehrheit. (Israel würde dabei gewinnen, wenn es die Araber aus der jetzt herrschenden sozialen Ungleichheit im Rang heraufheben würde.) Das war auch in Deutschland das Muster. Dazu kamen die Demütigung durch den Versailler Vertrag, Hitler und willige Henker.

Lösung? Wenn der Versailler Vertrag 1924 außer Kraft gesetzt und die Mehrheit der Deutschen durch Bildung und Beschäftigung auf den gleichen Stand gebracht worden wäre, dann hätten wir den Zweiten Weltkrieg in Europa vielleicht vermieden. Worin besteht Rationalität? Nicht im Rechtfertigen, sondern im Erklären, Verstehen und im Beseitigen der Ursachen!

Was stand dem im Weg? Nur wenige sind auf diese Gedanken gekommen.

So viel zu einem großen Konflikt in der Vergangenheit.

Fünfter Fall: USA und Israel in der Krise versus grassierenden Sündenbock-Antisemitismus in den USA

Sie schaffen es nicht, die nächstliegenden Lösungen zu ergreifen. Beide Länder verlieren sich in der Vergangenheit: das eine im Ruhm, das andere im Trauma. Dabei verlieren die USA sogar noch mehr: Sie verlieren die Unterstützung durch die Verbündeten. Der Zauber, außergewöhnlich, unbesiegbar und unentbehrlich zu sein, ist dahin. Das Land ist zwischen Elend am Boden der Gesellschaft und unglaublichen Reichtümern an der Spitze zerrissen. Der Dollar ist nicht mehr die Weltreservewährung usw. Eine reale Furcht ist jetzt der grassierende Antisemitismus in den USA. Damit muss man konstruktiv umgehen, nicht indem man am laufenden Band Antisemitismus-Zertifikate produziert und nicht indem man die Mitglieder des US-Kongresses davon abschreckt, Israel in Frage zu stellen, und damit die Demokratie in den USA in Gefahr bringt. Der Wendepunkt zwischen christlichem Zionismus zu einem Antisemitismus gegen Israel, die Wall Street und die amerikanischen Juden im Allgemeinen ist vielleicht nahe.

Lösung: Die Mainstream-Medien in den USA werden pluralistischer, weniger eintönig. Sie öffnen sich für eine Reihe von Diskursen und Lösungen. Es genügt nicht, Israel und die Wall Street zu kritisieren, sondern dringend notwendig sind konstruktive Lösungen. Eine Lösungs-Kultur und keine Tadel-Kultur wird gebraucht. Die oben für USA versus CELAC, Israel versus Iran, Israel versus Arabische Staaten geäußerten Ideen sind auch hier anzuwenden. Also nichts Extremes, Absonderliches, sondern viel Stoff für Gespräche.

In den USA sind in den Mainstream-Medien konstruktive Gespräche selten. Da müssen Hunderte von Aussagen gemacht werden, so wie es einmal war, als Europa sich aus den Ruinen des Zweiten Weltkrieges erhob. Zwei brillante Franzosen setzten Deutschland nicht herab und demütigten es nicht, sondern sie luden es in die Familie ein (die jetzt so ihre Probleme hat). Tausende gute Ideen sollen blühen! Es ist zu viel vom Sex-Skandal in Cartagena die Rede und zu wenig davon, wie man die Würde der Ärmsten der Armen in den USA anheben und die immer stärker zunehmende Ungleichheit, die die US-Wirtschaft verwüstet, verringern kann.

Was steht dem im Weg? Festhalten an der Vergangenheit, Eigeninteressen, die Kriegsindustrie, eine Kultur des Tadelns statt einer Kultur der Lösungen. Aber die großen Mehrheiten und neue und alte Medien sollten dazu fähig sein, das alles zu überwinden.

Sechster Fall: eng damit verbunden ist die Schuldknechtschaft

China, Japan und EU versus USA, Deutschland versus Griechenland, Italien, Portugal, Spanien und Irland (GIPSI), die Weltbank versus die Dritte Welt. Das Buch von John Perkins Confessions of an Economic Hitman, deutsch: Bekenntnisse eines Economic Hit Man [Auftragsmörders] (2005) ist eine grausige Veranschaulichung.

Ja, ich habe das Machwerk der russischen Geheimpolizei, die Protokolle - eine Verschwörung, die vor langer Zeit aufgedeckt wurde - erwähnt. Aber ebenso wenig wie im Fall von Mein Kampf genügt es, das Buch zu verdammen, ohne zu wissen, was darin steht. Besser ist es, wenn man weiß, wovon man redet. Die Protokolle lesen sich wie eine Anleitung dazu, andere in Schuldknechtschaft zu bringen. Das beginnt damit, dass man den Arbeitern weismacht, sie könnten besser bezahlt werden, und wie diese Ansprüche - so werden sie in der Debatte in den USA genannt - die Armen im Land in die Knechtschaft stoßen können. Die erste Reaktion auf einen Kredit ist ein Seufzer der Erleichterung, die zweite ist, dass man nicht weiß, wie man seine Ausgaben kürzen oder sein Einkommen vergrößern kann, um den Kredit zu bedienen. Die dritte ist Hass, der alte Traumata wiederbelebt - vgl. Griechenland und Deutschland.

Lösung: Schuldenerlass und niedrigere Schulden vereinbaren. Der Zeithorizont kann variieren und er muss von der Mobilisierung aller inneren Ressourcen begleitet werden, um den Boden der Gesellschaft vom Leiden zu befreien und diesen Menschen zu ermöglichen, etwas zu erwerben. Dazu könnte man das Land mit Landwirtschafts-Kooperativen verjüngen - Handel zwischen den GIPSI-Ländern ankurbeln. Die Bedrohung der EU ist zurzeit nicht nur die, dass es eine einzige Währung ohne ein gemeinsames Finanzministerium gibt, sondern dass es in der Gemeinschaft - sie sollte viel egalitärer sein - ein Schuldengefälle gibt. Besser wäre es gewesen, wenn der Euro als allgemeine Währung neben den Landeswährungen eingeführt worden wäre. Das ist der Stoff, aus dem Aggressionen gemacht werden. In Deutschlands Interesse im Verhältnis zur EU-Peripherie wäre nicht nur Schuldenerlass, sondern auch Ankurbelung der Wirtschaft. Dasselbe gilt für China in seiner Beziehung zu den USA (vielleicht mit einer vereinbarten Verringerung der Rüstungsausgaben beider Länder verbunden) und zur Weltbank im Allgemeinen.

Was steht dem im Weg? Ein Übermaß an neo-liberaler Markt-Ideologie, ein Mangel an Eklektizismus und an jeglichen guten Ideen für alternative Wirtschaften.

Schlussfolgerung

Die Menschheit hat einen großen Schatz an positiven und negativen Erfahrungen. Wir sollten gemeinsam auf ihnen aufbauen, ganz gleich, wo wir sie finden können.

Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler.

Johan Galtung gilt als der Begründer der akademischen Disziplin der Friedensforschung. Er ist Rektor der 1992 von ihm gegründeten TRANSCEND International Peace University und Mitglied des TRANSCEND-Netzwerks für Frieden, Entwicklung und Umwelt; zudem ist er Ehrenpräsident des aus diesem Netzwerk entstandenen Galtung-Institutes für Friedenstheorie und -praxis in Grenzach-Wyhlen (Baden-Württemberg). Er ist weltweit als Vermittler in Konflikten tätig. Im Dezember 2011 ist sein Buch "Lösungsszenarien für 100 Konflikte in aller Welt - Der Diagnose-Prognose-Therapie-Ansatz" im Marburger Tectum-Wissenschaftsverlag erschienen.

 

Fußnoten

Veröffentlicht am

18. Mai 2012

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