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Afghanistan: Kultur der Niederlage

Der Westen müsste aus seinem Scheitern lernen, um für Afghanistan eine Perspektive zu entwickeln

Von Thomas Gebauer

Seit über 30 Jahren bestimmen Krieg und Gewalt das Leben in Afghanistan. Heute, zehn Jahre nach dem Einmarsch von NATO-Truppen, ist die Lage komplizierter denn je. Das Land am Hindukusch steht vor einer ungewissen, einer beunruhigenden Zukunft.

Aus einem Militärschlag gegen Terroristen ist ein Krieg geworden, der längst über die Grenzen von Afghanistan hinaus geführt wird. Immer mehr Zivilisten fallen ihm heute zum Opfer, und immer schwerer fällt es, die Hoffnung auf soziale Entwicklung aufrecht zu halten. Das Engagement der "Internationalen Schutztruppen" (ISAF), an der auch 5.000 Bundeswehrsoldaten beteiligt sind, ist politisch und militärisch gescheitert. Selbst die notorischen Schönredner unter den deutschen Politikern, die das unselige Geschehen lange Zeit verharmlost haben, suchen nun - die Niederlage vor Augen - nach Auswegen.

Zug um Zug sollen bis 2014 die Soldaten abgezogen und die Sicherheitsverantwortung an die afghanische Regierung übergeben werden. "Transition" lautet das Zauberwort, das unterdessen von Konferenz zu Konferenz eilt, aber bei näherer Betrachtung doch nur den alten Zweckoptimismus erkennen lässt. Denn nichts spricht dafür, dass sich die Lage der Menschen in Afghanistan nachhaltig verbessern könnte. Auf diese düsteren Perspektiven Afghanistans haben zuletzt mit Citha Maaß und Thomas Ruttig ausgewiesene Kenner der afghanischen Verhältnisse in einer Analyse für die "Stiftung Wissenschaft und Politik" hingewiesen.

Bereits eine simple Rechenoperation macht das klar: Um die Verantwortung übergeben zu können, plant die NATO eine Aufstockung der afghanischen Sicherheitskräfte auf sage und schreibe 350.000 Mann. Für den Unterhalt einer Truppe von solcher Stärke würden pro Jahr ca. 6 Mrd. $ benötigt. Zum Vergleich: das Bruttoinlandsprodukt Afghanistans betrug zuletzt 14 Mrd. $, die Gesamteinnahmen der Regierung gerade mal 5 Mrd. $. Schon jetzt steht fest, dass die Rechnung, die den Afghaninnen und Afghanen in einigen Jahren aufgemacht werden wird, gewaltig ausfallen dürfte. Gerade kürzlich haben republikanische Abgeordnete im US-Kongress gezeigt, wie das geht: ernsthaft verlangten sie vom Irak eine rückwirkende Beteiligung an den Kosten, die den USA mit der Bombardierung des Landes entstanden sind.

Es sind viele Unwägbarkeiten, die den Übergangsprozess zu einer für die afghanische Bevölkerung hochriskanten Angelegenheit machen. Da in Afghanistan in den zurückliegenden Jahren alles von militärischer Logik dominiert war, konnten sich weder ein ziviles Leben entfalten noch jene gesellschaftlichen Institutionen entstehen, die den Rechten der Menschen verpflichtet sind. Weder gibt es heute ein funktionierendes Justizwesen noch unabhängige Medien und auch keine politischen Kräfte, die dem Machtgeschacher der Warlords, Regionalfürsten und ehemaligen Mujaheddin-Führer wirkungsvoll entgegentreten könnten. Vom Aufbau einer unabhängigen Justiz und zivilgesellschaftlicher Organisationen war zwar oft die Rede, getan aber wurde dafür viel zu wenig.

Erstarkte Oligarchie

Mit Unterstützung der Interventionskräfte ist stattdessen wieder die alte Machtoligarchie erstarkt, die - bei aller Zerstrittenheit - das Interesse eint, sich gegenseitig die Pfründe zuzuspielen. Vornehmliches Ziel sind die Profite aus dem, was im Zuge der Invasion an Wirtschaft entstanden ist: aus der Drogenökonomie, der Bau- und Immobilienspekulation, den Geschäften mit der internationalen Hilfe und der Besatzung selbst. Wenn den Akteuren zur Wahrung ihrer Interessen eine Neuordnung des Machtgefüges opportun erscheint, sind Absprachen selbst unter bisherigen Gegnern möglich. Dabei kann es dann auch zur Beteiligung der Taliban und anderer Aufständischer kommen. Informell, indem ihnen die Herrschaft über einen Großteil der ländlichen Gebiete überlassen bleibt; formell, indem sie Teil des Regierungsapparates werden.

Für die Bevölkerung ergibt sich aus beiden Möglichkeiten nichts Gutes: sie würde Opfer bleiben von anhaltender Korruption, Willkür und eines schwelenden Machtkonfliktes, der jederzeit in einen offenen Bürgerkrieg umschlagen kann. Die anderen Szenarien allerdings sind nicht besser - im Gegenteil. Gerade weil das Land nun im Eiltempo mit Soldaten und Waffen hochgerüstet wird, nimmt die Gefahr der Rückkehr in den Bürgerkrieg zu. Schon heute zeugen die hohe Desertionsrate und all die Anschläge, die aus Reihen der afghanischen Sicherheitskräfte selbst verübt werden, von einem Sicherheitsapparat, der für den Fall, dass die bestehende fragile Machtbalance ins Wanken kommen sollte, schnell wieder zerfallen könnte. Eine Entwicklung wie im heutigen Somalia ist dann nicht auszuschließen.

Die zurückliegenden zehn Jahre waren für die Menschen in Afghanistan weitgehend verschenkte Jahre. Da zu keiner Zeit die strukturellen Ursachen des Konfliktes, die sozialen und wirtschaftlichen Nöte der Bevölkerung, die himmelschreiende Armut und all das Unrecht angegangen wurden, verbinden die Leute mit dem Datum 2014, wenn von den 130.000 Soldaten nur noch ein paar westliche Militärausbilder und die Truppen auf den US-Militärbasen geblieben sein werden, nicht den Beginn des Friedens, sondern nur die Fortsetzung von Gewalt und Unterdrückung. Etwa 2 Billionen $ wird der Afghanistan-Einsatz dann verschlungen haben, wovon Deutschland zwischen 26 und 46 Mrd. $ beigesteuert haben wird. Zu Recht wird schon heute die Frage laut, was mit all dem Geld hätte geschehen können, wenn es bei der Entscheidung um das Afghanistan-Engagement wirklich um die Förderung von sozialer Entwicklung und Demokratie gegangen wäre.

Schneidiger Kasinoton

Das Scheitern, das heute in Afghanistan unverkennbar ist, könnte aber wenigstens für eines gut sein. Dafür nämlich, um aus den Fehlern zu lernen. Das freilich würde eine "Kultur der Niederlage" voraussetzen und endlich Schluss machen mit der unseligen Vorstellung, Konflikte immer und überall mit militärischen Mitteln lösen zu können. Die Idee der "internationalen Schutzverantwortung" (responsibility to protect) bleibt solange nur Alibi für die Sicherung von westlicher Vormacht, wie nicht auch die notwendigen Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Ohne demokratisch legitimierte internationale Institutionen, die über militärisches Handeln zum Schutz universeller Menschenrechte jenseits von hegemonialen Interessen entscheiden könnten, und ohne Aufwertung des UN-Wirtschafts- und Sozialrates (ECOSOC), der 1948 mit dem Ziel gegründet wurde, durch Förderung von sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung Konflikten vorzubeugen, mit anderen Worten: ohne andere globale Verhältnisse, spielt die Idee der "internationalen Schutzverantwortung" in die Hände derer, die für das Elend der Welt Verantwortung tragen.

Zu den vordringlichsten Schlüssen, die heute aus dem Scheitern in Afghanistan zu ziehen sind, zählen deshalb die Erkenntnis, wie falsch die Ausrichtung von Politik an Sicherheitsstrategien ist, und dass der schneidige Kasinoton, der zuletzt selbst in die Überlegungen von europäischen Intellektuellen Einzug gehalten hat, nur in die Irre führt. Für Afghanistan heißt das heute, auf eine langfristige Strategie zu setzen: auf die Förderung von politischen Gegenkräften, auf unabhängige Medien und demokratische Basisorganisationen, auf Menschenrechtsaktivisten, Selbsthilfegruppen und Initiativen, die sich um die Opfer von Gewalt und Unterdrückung kümmern. Sie alle werden künftig noch mehr Beistand nötig haben.

Thomas Gebauer ist Geschäftsführer von medico international

Quelle: medico international - medico-rundschreiben 4/2011.

Veröffentlicht am

04. Januar 2012

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