Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Marias Revolte für das Leben

Die weibliche Botschaft der Weihnacht

Ob es am Ende dieses Jahrtausends noch eine Erde gibt, auf der ein Engel den Menschen Frieden verkünden kann, ist keineswegs gewiss. Fest steht, dass die von Männern gemachte und gelenkte Zivilisation das Überleben auf der Erde ernsthaft bedroht. Das Lied der Weihnacht ist kein süßer Schlafgesang, sondern ein weiblicher Aufstand gegen die Welt der Todesanbeter.

Von Peter Bürger

Die Unfruchtbarkeit einer ganzen Kultur bringt ein Prophetenbuch der Bibel so zur Sprache: "Wir waren schwanger und lagen in Wehen, / doch als wir gebaren, war es ein Wind. / Wir brachten dem Land keine Rettung, / kein Erdenbewohner wurde geboren." (Jesaja 26,18). Nicht weniger trostlos ist das Bild, das Peter Greenaway zu Beginn seines Films "Das Wunder von Mâcon" (1993) zeigt: "Die Ernte ist karg, / die Tiere sind unfruchtbar, / die Obstgärten mager, / das Gras verdorrt, / das Wasser knapp. / Männer und Frauen spielen nicht mehr - / im Bett. / Paarung ist eine ernste Sache, / und wenig entsteht / außer Siechtum und Traurigkeit." Ist es bloßer Zufall, dass auch das Endzeitkatastrophenkino der Gegenwart uns in "Children of Men" (2006) eine Welt ohne Geburten vor Augen hält?

Wie hoffnungsvoll und fern von jeder Angstmacherei beginnt dagegen die Weihnachtsgeschichte der Evangelien: Die Männer, Zacharias und Josef, verstummen, wollen sich davon machen oder müssen sich in nächtlichem Traumgeschehen darüber aufklären lassen, dass etwas Neues kommt, bei dem sie nicht die Drahtzieher sind. Elisabeth ist trotz ihres hohen Alters schwanger. Ihre Nichte, das junge unverheiratete Mädchen Maria, kommt über die Berge zu Besuch. Auch sie erwartet ein Kind. Im Bauch der schon betagten Elisabeth hüpft das neue Leben vor lauter Freude. Die junge Maria aber singt jetzt ein Lied, das von einer ganz neuen Ordnung der Weltdinge kündet: "Alles in mir, Herz und Geist, jubelt. Ich war eine niedrige Sklavin, aber Gott hat mich angeschaut und groß gemacht. Die Eingebildeten mit ihren stolzen Plänen fegt er hinweg. Die Mächtigen stürzt er vom Thron. Den Hungernden schenkt er reichlich zu essen. Die Reichen lässt er leer ausgehen. Seine Barmherzigkeit hat er unseren Vorfahren und allen, die nach uns geboren werden, zugesagt. Das ist kein leeres Versprechen." (vgl. Lukas-Evangelium 1,46-55)

Marias Kind ist noch gar nicht geboren. Doch die weihnachtliche Revolte, das neue Fühlen und Denken der Jesusbewegung, hat bereits begonnen. Die Alten, so erzählt Lukas wenige Abschnitte später, können sich jetzt getrost, ohne Sorge um das Schicksal der späteren Generationen, auf das Sterben vorbereiten. Mit den Worten eines Weihnachtsliedes von 1810: "Menschen, die ihr wart verloren, lebet auf und freuet euch …" Ich lasse an dieser Stelle die Klage über weihnachtlichen Konsumterror und Kommerzkitsch einmal beiseite. Stattdessen wollen wir darüber nachsinnen, was denn der berühmte Lobgesang der Maria für die Welt, in der wir leben, bedeutet.

Der von Männern beherrschte Weltapparat betrachtet Frauen vor allem als "niedrige Mägde". Er weiß herzlich wenig um die leibhaftigen Zusammenhänge des Lebens, um Geburt und Tod. Das Gebären erklärt er für etwas Unreines. Das Sterben will er unsichtbar machen und an Institutionen abschieben. Er lässt vor allem Frauen (und so genannte "Weicheier") an den Betten der Säuglinge und Alten wachen. Er meint, Kinder würden ganz von selbst sprechen lernen und Liebe sei ohnehin etwas Sentimentales. Alles, was der Versorgung von Hilfsbedürftigen und dem Wachstum der Kleinen dient, hält er für "unproduktiv". Bestenfalls gilt es als niedrige Dienstleistung, meistens jedoch will man es als unbezahlte Sklavenarbeit verrichtet wissen. Erst wenn der selbst gemachte Mann bei Krankheit in seiner eigenen Verdauung liegt, kommt er auf die Idee, dass Menschen aus Fleisch und Blut sind und einander brauchen. Bis zu diesem Zeitpunkt aber weiß er genau, wo die Gesellschaft "unnötige Ausgaben" einsparen kann: bei Kindergärten und Jugendeinrichtungen, bei der Bildung, im Gesundheitswesen, bei der Grundsicherung von Arbeitslosen, in der Altenpflege …

Schauen wir uns im Gegenzug an, was diese Welt der "Stolzen und Hochmütigen" (Lukas 1,51) unter "Produktivität" versteht. Anstelle von zwischenmenschlichem Wachstum und seelischen Reichtümern kennt sie nur "Wirtschaftswachstum": ein schier grenzenloses Industriewachstum, das sich um die endlichen Ressourcen der Erde nicht sorgt und merkwürdigerweise nur einem winzig kleinen Teil der Menschen zugute kommt. Im Zentrum steht aber eine Geldvermehrungsmaschine, die mit leibhaftigem Wirtschaften gar nichts mehr zu tun hat und tote Reichtümer als Selbstzeck anhäuft. Wenn die größenwahnsinnigen Zocker und deren Auftraggeber mit ihrem Geldroulette die Finanzwirtschaft in den Ruin geritten haben, darf die Allgemeinheit die großen Spielbanken wieder mit Milliardenbeträgen aufmöbeln - und das Kasinovergnügen geht weiter wie zuvor. Anders als die Normalsterblichen brauchen die Herren der Welt für ihr Tun und ihre Hirngespinste keine Verantwortung übernehmen. Wie hieß es doch bei Jesaja: "Doch als wir gebaren, war es ein Wind."

Im Loblied der Maria ist nun von einer ganz anderen Ökonomie die Rede, in der "die Hungrigen beschenkt werden und die Reichen leer ausgehen" (V. 1,53). "Öko-Nomie" heißt wörtlich übersetzt "Gesetz des Hauses". Das Gesetz des weiblichen Hauses besteht darin, dass ohne Ausnahme alle Hausbewohner zu essen haben und gut versorgt sind. Maßstab ist die jeweilige Bedürftigkeit (Apostelgeschichte 2,45). Was ein Mensch braucht, das zählt, nicht das, was einer auf Kosten anderer in seiner Geldschatulle bzw. dem Buchungskonto anhortet. Mit fiktiven Aktienkursen kann man hier keinen Eindruck schinden. Gesunde Ernährung und warme Kleider sind gefragt und hernach auch Zeiträume, in denen Menschen sich gegenseitig glücklicher machen oder trösten können. An erster Stelle steht ein Wachstum von Beziehungen: Mitsorge und Zärtlichkeit. Im weiblichen Welthaus weiß man, dass die Erde keinem gehört und genug für alle da ist, wenn Gerechtigkeit waltet.

Zum Haus der männlichen Ökonomie gehört ein Machtapparat. Von diesem hören wir im Lied Marias: "Gott stürzt die Mächtigen vom Thron und richtet die Unterdrückten auf." (V. 1,52) Die kranke Welt der Mächtigen kann kein einziges Leben gebären. Aber sie produziert Jahr für Jahr über 30 Millionen Hungertote und kann Erfindungen wie die Atombombe oder andere Kriegstechnologien hervorbringen, mit denen sich im Handumdrehen Millionen Leben auslöschen lassen. Mit ihrer Arroganz nennt sie Fortschritt, was in Wirklichkeit einem Selbstmordkommando der Menschenfamilie gleichkommt. Die wissenschaftliche Erforschung des Klimawandels ist längst über ein bloß hypothetisches Stadium hinaus. Noch in diesem Jahrhundert könnten gravierende Folgen der vom Menschen verursachten Erderwärmung eintreten, darunter der Untergang ganzer Inselstaaten, Umweltkatastrophen oder Völkerwanderungen im planetarischen Maßstab. Die gute Nachricht lautet: Uns stehen genügend geistige und materielle Gegenmittel zum Einlenken zur Verfügung. Die technologische Umstellung auf erneuerbare Energien ist keine Utopie. Es gäbe keinen Grund, Weltuntergangspanik zu verbreiten. Doch stattdessen müssen wir sehen, dass Konzerninteressen wichtiger sind als die Umsetzung dezentraler Energiemodelle. Noch immer werden herkömmlicher Industrialismus und quantitatives Wachstum wie Götzen angebetet.

In Kirche, Politik und Gesellschaft, im kleinsten Dorf und auf Weltebene brauchen wir Menschen, die einem radikal neuen Denken und einem gefühlten Eros für alles Lebendige folgen. Ein kaltes Machtsystem, das nicht um unser Eingebundensein in die Bedingungen des wunderbaren Lebens auf der Erde weiß, muss entthront werden. Die selbstherrliche Devise "Nach uns die Sintflut" dürfen wir nicht mehr dulden. Mariens Loblied nennt zum Schluss ausdrücklich die "Nachkommen für alle Zeiten". So müssen wir also die noch nicht geborenen Kinder stets vor Augen haben. Die Gaben dieser Erde gehören nicht uns, Menschen einer anderen Zeit wollen von ihnen wie wir leben.

Gegen den männlichen Apokalypsekurs kann im 3. Jahrtausend nur eine weibliche Revolte, die um Gebürtlichkeit und Sterblichkeit weiß, neue Perspektiven für die Weltgesellschaft eröffnen. Zu Marias Lied, dem wir hier nachgegangen sind, schreibt die Theologin und Philosophin Andrea Günter: "Der Barmherzigkeit soll gedacht werden. [Lukas 1,54] Im Hebräischen aber sind Barmherzigkeit und Gebärmutter ein und dasselbe Wort: Dem Gebären und Geborenwerden also soll gedacht werden." Wir schicken uns an, das Leben künstlich zu reproduzieren und mit gentechnologischem Design zu kontrollieren. Doch es bleibt die heilige Wahrheit des Christfestes, um das die Mütter, Väter und Hebammen wissen: "Das Leben wird geboren, es ist nicht gemacht." Angesichts der Geburt kann der männlicher Erzeuger- und Allmachtswahn nur schweigen und staunen. Das Leben ist Geschenk. Entsprechend heißt, wie auch Papst Benedikt in seiner Sozialenzyklika meint, ein wesentliches Prinzip für die Menschenwelt "Unentgeltlichkeit".

Von uns wird heute die kulturelle Leistung verlangt, das Überlebenswissen der von uns - durchaus geringschätzig - "primitiv" genannten Kulturen um die Unverfügbarkeit, Heiligkeit und Empathie des Lebenszusammenhangs wieder aufzunehmen. Ich denke hier an die Absage der weltweiten indigenen Gemeinschaften an das ihnen fremde westliche Eigentums- und Profitsystem: "Wir glauben, dass niemand besitzen kann, was in der Natur existiert. Ein menschliches Wesen kann nicht seine eigene Mutter besitzen. Die Menschheit ist Teil der Mutter Natur, wir haben nichts geschaffen und deshalb können wir auch in keiner Weise beanspruchen, die Besitzer von etwas zu sein, was uns nicht gehört."

Die Zivilisation, in der wir leben, ist eine Zivilisation der Ungeliebten. Nur die Ungeliebten müssen sich durch Besitzanhäufung, Machtausübung und erzwungene Geltung oder Gewalttat "wertvoll" machen. Von Jesus sagt die Bibel, das ewige Jawort sei mit ihm ein Mensch aus Fleisch und Blut geworden (Johannes-Ev. 1,14), und er habe dies bei seiner Taufe im Jordan auch gehört: "Du bist geliebt!" (Markus-Ev. 1,11) Zum Überleben brauchen wir weihnachtlich geborene Menschen: nicht nur einzelne Erlöste, sondern förmlich eine Zivilisation der Geliebten. Dann werden, wie es die schwangere Maria in ihrem Jubellied singt, andere Maßstäbe gelten als die herrschenden.

Peter Bürger ist Theologe, examinierter Krankenpfleger und arbeitet als freier Publizist in Düsseldorf. Sein letzter theologischer Buchtitel "Die fromme Revolte - Katholiken brechen auf" ist in der Publik-Forum Edition erschienen.

Abdruck des Beitrages aus dem Düsseldorfer Straßenmagazin "fiftyfifty" (Dezember 2011) mit freundlicher Genehmigung von asphalt e.V. http://www.fiftyfifty-galerie.de .

Veröffentlicht am

20. Dezember 2011

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