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Globale Katastrophen: Die Pflicht zum Schaudern

Wir verfügen heute über Technologien, deren Folgen kaum abzusehen sind - bis hin zur Weltzerstörung. Unser Handeln braucht einen neuen Imperativ

Von Ekkehart Krippendorff

Seit Wochen diskutiert das Land über den Umgang mit der Risikotechnologie Atomkraft. Die Ethikkommission hat lange beraten und vor Kurzem ihre Vorschläge unterbreitet, die Parteien debattieren ebenso wie die Bürger. Ein Philosoph spielt in dieser Debatte merkwürdigerweise kaum eine Rolle. Dabei hat er schon vor einiger Zeit sehr gründlich über den Umgang der Menschen mit Technologien nachgedacht - und sehr bemerkenswerte Vorschläge gemacht. Hans Jonas ist heute weitgehend vergessen, obwohl er 1987 immerhin mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde und damals von Politikern und der akademischen Elite als Gesprächspartner durchaus geschätzt wurde. Wir brauchen, so schrieb Hans Jonas bereits 1979, eine neue Ethik, die den mit der modernen Technologie qualitativ veränderten Bedingungen Rechnung trägt und ihnen angemessen ist.

Was damit gemeint ist, liegt auf der Hand: Wir verfügen heute über Technologien, Techniken und Instrumente von beispielloser Reichweite für unser Handeln. Die lokale Havarie eines Atomkraftwerks wie in Fukushima hat Auswirkungen auf die entlegensten Regionen des Globus. Die Bankenkrise eines mittelgroßen Landes stürzt weit entfernte Volkswirtschaften in Wirtschaftskrisen. Ein lokaler Konflikt um Rohstoffe, Grenzen oder auch nur Herrschaftsprivilegien kann sich zum überregionalen Krieg ausbreiten. Der inflationär gebrauchte Begriff Globalisierung trifft diese neue Qualität von lokalen Ursachen und weltweiten Folgen zwar ungenau, aber doch zutreffend. Die oft weitreichenden Auswirkungen technologischer Innovationen jenseits des unmittelbar beabsichtigten Zwecks sind unübersehbar geworden und entziehen sich oft der Kontrolle ihrer Verursacher.

Die Kategorie des Heiligen

Mit der dramatischen Potenzierung der Reichweite technologischen Fortschritts korrespondiert auch ein qualitativ neuer Zeithorizont: Ein vorgestern geplanter und gestern gebauter Staudamm kann heute die berechnete Menge Energie produzieren, aber morgen den gestauten Fluss versanden und die auf sein Wasser angewiesene Landwirtschaft zerstören. Wer hätte gedacht, dass die vergleichsweise harmlos-wohltätige Erfindung des FCKW-Kühlschranks oder die Blähungen südamerikanischer Rinderherden auf brandgerodetem tropischem Regenwald sowohl das Weltklima veränderten als auch das lebensgefährliche Ozonloch mitverursachen würden? Vor allem die Atomenergie mit ihren jahrzehntelang ignorierten Nebenfolgen ist zum Menetekel des technologischen Zeitalters geworden. Wenn uns beruhigend versichert wird, der zwischengelagerte Atommüll sei für mindestens tausend Jahre sicher, so genügt es, diese Zeit einmal historisch zurückzurechnen: Wenn ein wissenschaftlich besonders fortschrittlicher Herrscher wie der Hohenstauffen-Kaiser Friedrich II. (1194-1250) so argumentiert und gehandelt hätte, säßen wir heute auf einem teilweise irreversibel vergifteten Planeten.

Jonas entwickelt aus der Tatsache, dass dem Kant’schen Kategorischen Imperativ dieser Zeithorizont völlig fehlt, einen die neuartige Situation erfassenden Imperativ: "Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden." Oder einfach: "Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit auf Erden." Dass der Mensch technisch in der Lage ist, die Erde physisch zu zerstören, ist angesichts der Katastrophe von Fukushima nicht mehr Science-Fiction.

Eine neue Art von Demut

Jonas entwickelt seine Argumentation vor diesem Hintergrund: Der Zweck des Seins ist das Leben. Diesen Zweck zu erfüllen, ist in die Verantwortung des Menschen als integraler Bestandteil der Natur gestellt. Von dieser Einsicht her ergibt sich die Verantwortung des Menschen nicht nur für sich selbst und seinesgleichen - die Verantwortungsethik Kants -, sondern auch für die Natur und den Planeten. Daraus folgt, dass der Mensch zwar die Macht, nicht aber das Recht hat, die Natur als beliebig ausbeutbare Ressource zu behandeln und zu verbrauchen. Um seiner selbst willen muss er sie pfleglich behandeln, darf sie sich nicht unterwerfen und seinen Interessen anpassen - zum Beispiel mit der von ihm in Kauf genommenen Artenvernichtung, die immer schneller voranschreitet. Für Jonas ist "das Urbild aller Verantwortung die von Menschen für Menschen". Genauer: "Die Ur-Verantwortung der elterlichen Fürsorge" für ihre zunächst hilflos heranwachsenden Kinder. Aber eben damit auch die Verantwortung für das Sein der Natur mit ihrem Selbstzweck: Leben. Sie verlangt unter den Bedingungen des mit hoher Geschwindigkeit voranschreitenden technologischen Fortschritts "wegen der exzessiven Größe der Macht eine neue Art von Demut."

Das Unwissen, so Jonas, über die Konsequenzen für morgen aus unseren Handlungen von heute müsse zu einer "verantwortlichen Zurückhaltung" gegenüber allen strukturellen Eingriffen in den Haushalt der Natur führen und könne nicht, um den Preis der Selbstzerstörung, der "Marktwildernis" überantwortet werden. "Es ist die Frage, ob wir ohne die Wiederherstellung der Kategorie des Heiligen, die am gründlichsten durch die wissenschaftliche Aufklärung zerstört wurde, eine Ethik haben können, die die extremen Kräfte zügeln kann, die wir heute besitzen und dauernd hinzuerwerben und auszuüben beinahe gezwungen sind."

Der lange Arm des Wissens

Diese "verantwortliche Zurückhaltung" ergibt sich notwendig aus der Unberechenbarkeit zukünftiger und topografisch weit entfernter Begleit- und Folgeerscheinungen technologisch vorangetriebenen Handelns. In der zurückliegenden Geschichte "verlangte der kurze Arm menschlicher Macht keinen langen Arm vorhersagenden Wissens," standen Handeln und Folge in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang und bedurften solchen Wissens nicht, das heute zwingender Bestandteil zweckorientierten Handelns werden muss: Der Arm ist für technologisch betriebene Entscheidungen geradezu unendlich lang geworden und ein Endziel in vielen Fällen überhaupt nicht abzusehen: Jedes Resultat gebiert ein neues Projekt. Zu den immensen Größenordnungen kommt oft auch ihre Unumkehrbarkeit, weil die Natur mit der Machtergreifung der Technologie ständig selbst verändert wird. So haben wir es heute mit prozesshaften Handlungen zu tun, "die eine beispiellose kausale Reichweite in die Zukunft haben." Wo aber nicht garantiert werden kann, ein angestrebtes Ziel ohne Risiken und Nebenwirkungen zu erreichen, da darf nicht gehandelt werden. Kategorisch formuliert Jonas: "Jedes selbstmörderische Spielen mit der menschlichen Existenz ist kategorisch verboten, und technische Wagnisse, bei denen auch nur im Entferntesten dies der Einsatz ist, sind von vornherein auszuschließen."

J. Robert Oppenheimer notierte sich am 16. Juli 1945, am Abend bevor die erste Atombombe in der Wüste von Nevada gezündet werden sollte, dass jetzt drei Möglichkeiten bestünden. Die erste: Es passiert überhaupt nichts, es kommt zu keiner Zündung. Die zweite: Es verläuft alles nach Wunsch, es gibt eine atomare Explosion - die Bombe kann gebaut werden. Drittens: Die Kettenreaktion lässt sich nach der Zündung nicht mehr aufhalten und zerstört alles Leben auf dem Planeten. Trotz dieser Möglichkeit haben er und seine Mitarbeiter die Zündung gewagt und ihr Risikospiel kurzfristig gewonnen.

Fürchten als erste Pflicht

Wir haben es, so hat uns jüngst leider erneut die Katastrophe von Fukushima gelehrt, immer wieder mit technischen Zukünften zu tun, mit denen wir nicht sicher umgehen können. Und auf die reagieren wir dann mit einer, wie Jonas es nennt, "Furcht geistiger Art". Laut Jonas ist "Unheilsprophezeiung mehr Gehör zu geben als der Heilsprophezeiung" - also genau das Gegenteil des üblichen Herunterspielens von möglichen Gefahren, wie es beispielsweise die Lobbyisten von Energiekonzernen oder die der Bahn im Fall von Stuttgart 21 praktizieren.

Jonas argumentiert dabei nicht für eine weltfremde Abstinenz von jeglichem riskanten, zukunftsoffenen Handeln. Aber der verantwortlich Handelnde sollte immer das mögliche Schicksal späterer Generationen mitdenken und damit "für das Unbekannte im Voraus mithaften". Es geht um eine Haltung der Sorge, indem man "das Fürchten zur ersten präliminaren Pflicht einer Ethik geschichtlicher Verantwortung" macht. "Die begründete Furcht zur Pflicht erklären", so schließt er, bedeutet "Ehrfurcht und Schaudern wieder zu lernen, dass sie uns vor Irrwegen unserer Macht schützen."

Es ist die Ehrfurcht, die uns ein "Heiliges" enthüllt, das unter keinen Umständen zu verletzen und dass "das Schaudern der Menschheit bestes Teil" sei, schrieb einst Goethe, dem Jonas’ großangelegte Kosmologie einer Naturethik durchaus geistesverwandt ist. Ein "Zurückschaudern vor dem, was der Mensch werden könnte und uns als diese Möglichkeit aus der vorgedachten Zukunft anstarrt", verlangt auch die aberwitzige Zukunftsvision des Faust-Schlusses, über die Mephisto das unheimliche Urteil spricht: "Die Elemente sind mit uns verschworen, und auf Vernichtung läufts hinaus." Eine Politik, der diese Haltung einer Pflicht zur Furcht (nicht zu verwechseln mit Zaghaftigkeit) und zur Angst (nicht zu verwechseln mit Ängstlichkeit) abgeht, der ist unser Schicksal nicht anzuvertrauen.

Ekkehart Krippendorff ist Politikwissenschaftler und Goethe-Liebhaber

Quelle: der FREITAG vom 20.06.2011. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Ekkehart Krippendorff und des Verlags.

Veröffentlicht am

13. Juli 2011

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