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Atomstrom auf Abruf: Wann, wenn nicht jetzt?

Unglaublich, wie in Japan die vorhandenen Alternativen zu nuklear-fossilen Energieträgern bisher ignoriert wurden. Eine Kehrtwende in kurzer Zeit wird kaum möglich sein

Udo Ernst Simonis

Wie lernt der Mensch, wie lernt ein Volk? Lester Brown, der langjährige und welterfahrene Präsident des Worldwatch-Instituts gebraucht dazu in seinen Büchern zum Plan B drei strategische Metaphern: "Sandwich", "Berlin Wall" oder "Pearl Habour". Das heißt: Lernen durch Kooperation, durch Interessenausgleich oder durch die Katastrophe.

Japan erlebt derzeit die Folgen eines multiplen Desasters: das Erdbeben der Stärke 9,0 Mw mit riesigem Tsunami in der Region Tohoku am 11. März und die anhaltende Kernschmelze im Atomkraftwerk Fukushima-Daiichi. Bei einem so lernwilligen Volk wie den Japanern wird - das lässt sich getrost unterstellen - ein Lernen-Wollen aus dieser Katastrophe groß sein. Es gibt dafür bereits viele Anzeichen. Das Erdbeben hat ein bewegendes Beispiel gemeinsamer Trauer und ein beeindruckendes Maß an sozialer Hilfsbereitschaft ausgelöst. Dass der Tsunami zu außergewöhnlichen Anstrengungen des Wiederaufbaus führt, so wie es in anderen Fällen historisch vielfach belegt ist, steht außer Zweifel. Doch was wird die unglückliche Verkettung von natürlichem und Menschen-gemachtem Desaster an Lerneffekten bewirken? Dürfen wir mit einem "Wunder der Erneuerung" rechnen, wie das nach dem Beben von Yokohama und Tokio 1923, nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki 1945 oder nach den schweren Erdstößen von Kobe 1995 der Fall war?

Helfern droht Krankheit und Tod

Die Kernschmelze in Fukushima wird - besonders wenn sie länger anhält und auf andere Reaktoren übergreift (der Super-GAU) - ökonomisch wie ökologisch gigantische Kosten und unermessliches menschliches und gesellschaftliches Leid zur Folge haben. Sie hat bereits zu einer Opferbereitschaft der anderswo kaum denkbaren Art geführt: einem Einsatz von freiwilligen Helfern, der mit Krankheit und Tod beglichen wird. Doch bewirkt Fukushima auch, dass Japan zügig und konsequent aus dem Atomzeitalter aus- und ins Solarzeitalter einsteigt?

Viele können es nicht begreifen - und ich gehöre dazu -, dass ein Volk, das die tödliche Gewalt der Atombombe erleiden musste, jemals in die so genannte friedliche Nutzung der Atomtechnik einsteigen konnte. Warum wurden zahlreiche Kernkraftwerke in geologisch superaktiven Regionen gebaut, ohne dass die Bevölkerung aufstand oder der Oberste Gerichtshof des Landes Einhalt gebot?

Man muss daran erinnern, dass die japanische Umwelt- und Energiepolitik von Anfang an durch ein Auf und Ab geprägt war. Einerseits wurde eine überdurchschnittlich hohe allgemeine Energieeffizienz erreicht - andererseits war dies mit einer höchst einseitigen Energiestruktur erkauft. Einerseits wurden bei gravierenden Konfliktfällen in Rekordzeit technische Substitutionen vorgenommen, wurde eine Umkehr der Beweislast verfügt - andererseits wurden in großer Trägheit und entgegen aller sozialen und ökonomischen Flexibilitätserfahrung unflexible Strukturen zementiert.

Sträflich vernachlässigt

Als sich zu Beginn der siebziger Jahre die Luft in Tokio und anderen Metropolen des Landes als lebensgefährlich versmogt erwies, wurde in kürzester Zeit von Kohle und schmutzigem Öl auf Gas und relativ sauberes Öl umgestellt. Der Einbau von Katalysatoren in Fahrzeugen wurde in Japan zur Pflicht, als die deutsche Automobilindustrie diese Technik noch boykottierte. Als die Belastung von Luft, Wasser, Böden und Nahrungsmitteln ungewohnte gesundheitliche Schäden hervorrief, wie das Yokkaichi-Asthma, die Minamata- und die Itai-itai-Krankheit, wurden japanische Richter zu radikalen Umweltschützern.

Es waren dann aber der enorme Energiehunger einer expandierenden Ökonomie und die vermeintliche Ressourcen-Armut, die eine verkrustete Energiestruktur mit einer nahezu totalen Verengung des Energie-Mix auf fossil-nukleare Energieträger zu rechtfertigen schienen. Selbst das Naheliegende fand sich vernachlässigt: Man unterließ es, die Erdwärme in Regionen zu nutzen, in denen es überall sprudelt und die Badekultur mit Ofuro und Sento historisch hoch entwickelt ist. Man verzichtete auf einen effizienten Umgang mit der Gezeitenenergie in einem Inselreich, das rundum von Meer umgeben ist. Es entfiel die sich anbietende Nutzung der Sonnenenergie im "Land der aufgehenden Sonne"! Von der Nutzung des Windes, der kräftig, gelegentlich gewaltig bläst, ebenso zu schweigen wie vom Gebrauch der Biomasse, die in der Land- und Forstwirtschaft wie bei Industrieabfällen in großem Maße anfällt. Und dann die andere, die eklatante technische Flaute: Wie konnte es passieren, dass eine Wirtschaft, der etwa 30 Prozent der Weltproduktion an Halbleitern und mehr als 40 Prozent aller Technologiekomponenten für High-Tech-Geräte zu verdanken sind, dieses Potenzial nicht allerorten einsetzt, wo es um Diversifizierung der heimischen wie globalen Energieversorgung gehen könnte - in der Photovoltaik?

Der Weg in eine strikten Nachhaltigkeitskriterien unterworfene Energieversorgung ist lang - und er wird länger sein als vielen lieb ist. Insofern wird ein Ausstieg Japans aus der Atomtechnik Zeit brauchen. Er müsste aber nicht so lange dauern wie etwa in Frankreich - dem Mekka der Kernenergie. Was nichts daran ändert, dass Japan derzeit mit 55 Atomkraftwerken und gut 30 Prozent an nuklearer Stromversorgung in der Falle sitzt. Und dies so unausweichlich, dass an Sofortausstieg nicht zu denken ist, während die Kernschmelze von Fukushima in einigen, vielleicht sogar in vielen der 32 Atomstrom-Länder das atomare Zeitalter definitiv beenden könnte. Was aber wird, was kann in Japan geschehen? Führt die Erfahrung mit Fukushima zu der Einsicht, dass Atomtechnik grundsätzlich problematisch ist - oder dass die Technologie einfach nur verbessert werden muss?

Strategische Trias

So makaber es auch klingt: Die japanische Energiepolitik nach Fukushima dürfte vorrangig vom Ausmaß der Katastrophe selbst abhängen. Zwar wird es ein Weiter-So auch in einem so Risiko-aversen Land nicht geben. Doch die energetische Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft hängt nicht nur vom Lernen-Wollen ab - sie hat sehr viel mit Lernen-Können zu tun!

Wo eine tatkräftige Anti-Atom-Bewegung nicht oder erst rudimentär existiert, müsste sie erst einmal entstehen. Wo politische Hierarchien traditionell stark und resistent sind, wo die Zivilgesellschaft gegenüber der Politikerklasse schwach ist, haben es dezentrale ökonomische und technische Innovationen schwer. Dennoch sollten die drei zentralen, in allen theoretischen Traktaten über Zukunftsfähigkeit wie nachhaltige Entwicklung postulierten Strategien jetzt zum Zuge kommen, auch und gerade in einem Land wie Japan - Effizienz, Suffizienz und Konsistenz. Konkret heißt das: Alles besser machen, als es derzeit gemacht wird; vieles bescheidener angehen, als bisher gewohnt oder über Jahrzehnte angewöhnt ("Besser statt Mehr"); die Nachhaltigkeit des industriellen Stoffwechsels auskosten ("Industrielle Ökologie"). Diese strategische Trias könnte zu einem attraktiven Wohlstandsmodell in einem Land mit stolzer Geschichte und großer Leidensfähigkeit führen.

Nur was lässt die politökonomische Betrachtung der Energiefrage in Japan wirklich erwarten? Wie steht es um die konkreten Randbedingungen, die erfüllt sein müssen, damit die drei "E" allzeit relevant bleiben: dass Energieeinsparung zur höchsten Priorität, eine gesteigerte Energieeffizienz zum allgemeinen Paradigma und der Ausbau der erneuerbaren Energien zum zentralen Auftrag von Politik werden?

In jüngster Zeit haben mehrere Studien für Deutschland wie Europa gezeigt - eine radikale "Energiewende" in relativ kurzer Zeit ist technisch möglich. Sie haben allerdings auch zu verstehen gegeben, dass dazu nicht nur erhebliche finanzielle Investitionen, sondern ebenso ein radikaler Bewusstseinswandel und ein durchgreifender Politikwechsel gebraucht werden. Politik darf sich nicht scheuen, ambitionierte quantitative Ziele vorzugeben, ungewohnt drastische Maßnahmen zu ergreifen und neuartige, schlagkräftige Institutionen einzuführen. Sie muss zugeben, dass die Grundfrage nach dem Verhältnis von Technik, Natur und Gesellschaft nichts als ehrliche Antworten verdient.

Diese grundlegende Erkenntnis gilt auch für eine Energiewende in Japan - für ein Exit aus der Atomtechnik. Ob also die technisch wie ökonomisch bedingte Katastrophe von Fukushima zu einer sozial und ökologisch grundierten Erneuerung des Landes, einer zukunftsfähigen Energieversorgung, einer "grünen Transformation" führt? Wann, wenn nicht jetzt? Zeigen, dass es geht! Nichts könnte eine angemessenere Würdigung der Opfer dieses Infernos sein.

Udo E. Simonis ist emeritierter Professor für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB)

Quelle: der FREITAG   vom 11.04.2011. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

12. April 2011

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