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Irakkrieg und -besatzung: Eine desaströse Bilanz

Von Andreas Zumach

Der Irak hat möglicherweise endlich eine handlungsfähige Regierung. Anfang Oktober, über sieben Monate nach der Parlamentswahl vom März dieses Jahres, sicherte sich der amtierende Ministerpräsident Nuri Al Maliki die Unterstützung des einflussreichen schiietischen Predigers Muktada al Sadr. Für eine regierungsfähige Mehrheit im Parlament benötigte Maliki noch die Stimmen einiger kurdischer Parteien, mit denen er bei Redaktionsschluss dieser Weltsichten-Ausgabe noch verhandelte.

Eine erfolgreiche Regierungsbildung in Bagdad wäre die zweite gute Nachricht aus Irak seit Beginn des anglo-amerikanischen Krieges Mitte März 2003. Die erste war die Meldung über den Sturz von Saddam Hussein, einem der übelsten Diktaturen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ein Diktator notabene, dessen Vorgeschichte auch in den zahlreichen Bilanzen anlässlich des offiziell erklärten "Endes der Besatzung" Iraks durch amerikanische Kampftruppen Ende Juli dieses Jahres wieder verschwiegen wurde: Bei Saddam Husseins Aufstieg an die Spitze der Macht in Bagdad Ende der 70er Jahre hatte Washington erhebliche Hilfestellung geleistet. Und in Reaktion auf die islamische Revolution im Nachbarland Iran 1979 unterstützten der Westen und die damalige Sowjetunion das tyrannische Regime in Bagdad gemeinsam politisch und wirtschaftlich und rüsteten es militärisch massiv auf. Die Produktionsanlagen, das Know How und die Grundstoffe für atomare und chemische Massenvernichtungswaffen, deren Besitz Saddam Hussein dann nach 1990 zum Vorwurf gemacht wurden, kamen aus Deutschland und den USA, die Kampfflugzeuge und Panzer aus Frankreich und Großbritannien, und die Scud-Raketen, die Irak im 2. Golfkrieg 1991 gegen Israel abfeuerte, hatte die Sowjetunion geliefert.

Und so sehr der Sturz einer blutigen Diktatur zu begrüßen ist, sei doch daran erinnert, dass dieser Sturz keineswegs das ursprüngliche Ziel des anglo-amerikanischen Krieges gegen Irak war. Der Sturz Saddam Husseins diente erst zur nachträglich Kriegsrechtfertigung, nachdem sich die ursprünglichen Behauptungen der Regierungen Busch und Blair, das Regime in Bagdad verfüge weiterhin über Massenvernichtungswaffen und kooperiere mit dem Al-Kaida-Terrornetzwerk als schamlose Lügen erwiesen hatten.

Abgesehen von den beiden guten Nachrichten fällt die Bilanz von siebeneinhalb Jahren Krieg und Besatzung im Irak ziemlich desaströs aus. Vor allem für die Irakerinnen und Iraker. Laut der Ende Juli veröffentlichten Bilanz der US-Regierung kamen seit Kriegsbeginn im Februar 2003 über irakische 108.000 Zivilisten ums Leben. Das sind allerdings nur die Menschen, die unmittelbar durch Kriegshandlungen und andere Gewaltakte getötet wurden. Nicht enthalten sind all jene, die starben, weil Wasserleitungen, Krankenhäuser und andere Infrastruktur zerstört wurden oder Medikamente und andere lebenswichtige Güter nicht zur Verfügung standen. Bereits im Oktober 2004 veröffentlichte die angesehene britische Medizinzeitschrift "Lancet" eine Untersuchung, wonach die Sterblichkeitsrate im Irak sich seit Beginn des Krieges mehr als verdoppelt hatte. Laut Lancet waren zwischen März 2003 und Oktober 2004 bereits rund 180.000 Iraker .ums Leben gekommenen - mehr als zehnmal so viele, wie die US-Besatzungsmacht damals angab.

Neben dem Leben hundertausender Menschen wurden auch die wichtigsten Kulturgüter des Landes unwiederbringlich zerstört. Darunter das Nationalmuseum mit seinen zum Teil über 5.000 Jahre alten Kunstschätzen.

Keines der zentralen politischen Probleme Iraks wurde heute gelöst. Die Verteilung der Einnahmen aus der Ölförderung ist vor allem zwischen der Zentralregierung in Bagdad und der autonomen Kurdenregion im Nordirak weiterhin heftig umstritten. Dasselbe gilt für den Grad der Autonomie, den Nordirak künftig haben soll. Die Kurden halten sich weiterhin die Option einer völligen Abspaltung "ihres" Territoriums offen. Innerhalb Nordiraks schwelen weiterhin die Spannungen zwischen der kurdischen Mehrheit und den Angehörigen der arabischen Minderheit, die unter Saddam Hussein in den Norden zwangsumgesiedelt wurden.

Irak ist heute Schauplatz offener Spannungen und Gewalttaten zwischen schiietischen und sunnitischen Muslimen, die es vor dem Krieg nicht gab. Als die Amerikaner und ihre Alliierten Saddam Hussein stürzten, beseitigten sie damit nicht nur eine brutale Diktatur, sie stellten auch die damaligen Machtverhältnisse auf den Kopf. Die Minderheit der arabischen Sunniten, die über Jahrhunderte den Staat dominiert hatten, verloren ihre Macht; die Schiiten, jahrzehntelang unterdrückt, holten sie sich. Schiitische Milizionäre beglichen alte Rechnungen, machten Jagd auf echte und vermeintliche Stützen des Regimes. Die Sunniten spekulierten auf eine Rückkehr zu den alten Verhältnissen und bekämpften die Neuordnung mit allen Mitteln und ebneten den Weg für das Terrornetzwerk al-Qaida in den Irak.

Spätestens 2006 tobte zwischen den beiden Konfessionen ein Religionskrieg, in dem es um weit mehr ging als den Irak, nämlich um das Machtverhältnis zwischen Schiiten und Sunniten in der arabischen Welt. Die US-Truppen bewirkten mit ihrer ab Anfang 2007 eingeschlagenen Strategie des "Surge", das jetzt auch als Vorbild für Afghanistan gilt, zwar einen Seitenwechsel der sunnitischen Untergrundkämpfer. Zehntausende von ihnen stellten sich in den Sold der Amerikaner, wurden von ihnen bewaffnet und dienten fortan als Bürgerwehr. Das führte am Ende dazu, dass auch die schiitischen Milizionäre die Waffen streckten. Mit hunderten von kleinen Projekten versuchten die Besatzer, Kleinbetriebe zu stärken und Arbeitsplätze zu schaffen, Scheichs zu besänftigen und gleichzeitig die Aussöhnung der Sunniten mit dem Staat voranzutreiben. Doch das ist, wenn überhaupt, nur oberflächlich gelungen.

Im Ergebnis dieser Strategie ist Bagdad heute eine weitgehend schiitische und eine geteilte Stadt. Der "Surge" hat nur zementiert, was die schiitischen Milizen mit der Vertreibung und Ermordung von Sunniten begonnen haben. Der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten ist nicht gelöst.

Seitdem die Amerikaner die Kontrolle an die schiitisch dominierte Regierung von Maliki übergaben, gärt es unter den sunnitischen Milizionären. Entgegen den Zusagen der Regierung erhielten nur wenige eine feste Anstellung. Wer einen Job hat, bekommt oft monatelang sein Gehalt nicht. Darüber hinaus fielen in den letzten Monaten zahlreiche Milizenchefs Mordanschlägen zum Opfer oder wanderten ins Gefängnis. Dass sich Regierungschef Nuri al-Maliki nach dem unklaren Ausgang der Parlamentswahl vom März eisern an seinen Posten klammert, anstatt die Regierungsbildung seinem laizistischen Konkurrenten Allawi zu überlassen, schürt unter Sunniten das ohnehin tief verwurzelte Misstrauen gegenüber den Schiiten. Das spielt der al-Qaida in die Hände, die nach wie vor nicht geschlagen ist. Die Strukturen der schiitischen Milizen sind ebenfalls weiterhin intakt. Angesichts von mehr als 2.600 Toten seit Jahresbeginn 2010 ist der Krieg im Irak noch nicht vorbei.

Dramatisch verschlechtert hat sich seit 2003 die Lage für die Christen im Irak. Sie leiden unter der Verfolgung und dem Terror islamistischer Extremisten. Von den über einer Millionen Angehörigen acht verschiedener christlicher Kirchen, die bis 2003 im Irak lebten - davon rund 80 Prozent Katholiken - haben nach Ende 2009 vorgelegten Erhebungen des Vatikans inzwischen über die Hälfte das Land verlassen.

Auch für die USA sind die Kosten von siebeneinhalb Jahren Krieg und Besatzung erheblich. Über 1,5 Millionen GI s sind seit März 2003 im Irak gewesen, 4.481 haben ihr Leben verloren. Darüber hinaus wurden zehntausende amerikanische Soldaten verwundet oder leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Die Versorgung dieser physisch und psychisch invaliden GIs wird die US-amerikanischen Steuerzahler in den kommenden Jahrzehnten noch viele Milliarden Dollar Kosten. Zusätzlich zu den bisherigen Ausgaben für Krieg und Besatzung. Sie belaufen sich auf rund eine Billion (1.000 Milliarden) US-Dollar, wie Präsident Barack Obama anlässlich des Abzuges der letzten US-Kampftruppen Ende Juli erklärte.. Zur Erinnerung: im Juli 2.003 bezifferte der damalige Vorsitzende des außenpolitischen Senatsausschusses in Washington die zu erwartenden Gesamtkosten für Krieg und Besatzung im Irak auf "maximal 74 Milliarden Dollar". Eine Summe, so der Senator damals, die "wir innerhalb von zwei Jahren durch erhöhte Einnahmen aus der irakischen Ölproduktion wieder reinholen werden".

Doch bis heute haben die USA selbst diese 74 Milliarden Dollar nicht wieder hereingeholt. Denn die irakische Öl-Förderquote liegt nach wie vor nur wenig über dem Niveau der letzten Jahre der Diktatur von Saddam Hussein. So haben die USA als Besatzungsmacht zwar die meisten der Verträge annulliert, die bis 2.003 zwischen Irak und russischen, chinesischen sowie französischen Ölfirmen bestanden. Doch einen materiellen Vorteil haben sie aus ihrer sieben Jahre währenden Kontrolle über das irakische Öl nicht ziehen können. Einen finanziellen Gewinn aus Krieg und Besatzung machten - neben einigen amerikanischen Rüstungsschmiden - lediglich Blackwater und andere private Sicherheits- und Söldnerfirmen sowie mit Wiederaufbaumaßnahmen beauftragte Logistikunternehmen wie Halliburton. Sie wurden von ihren Spezis in der Bush-Administration - an der Spitze Vizepräsident Richard Cheney - mit milliardenschweren Aufträgen versorgt.

Auch politisch haben die USA nichts gewonnen. Ihr Ansehen und ihre Einflussmöglichkeiten in der Region Naher/Mittlerer Osten und darüber hinaus in der islamischen Welt sind durch den Krieg, Besatzung und die dabei verübten Menschenrechtsverstöße (Abu xxx ) af einen historischen Tiefpunkt gesunken. Und durch die Beseitigung des Regimes von Saddam Husseins und zuvor des Taliban-Regierung in Afghanistan hat Washington die Einflussmöglichkeiten und Handlungsspielräume Irans in der Region Naher/Mittlerer Osten erweitert. Dieses Ergebnis steht im Gegensatz zu den bislang erklärten Zielen der amerikanischen Iranpolitik.

Zu den Kollateralschäden des Irakkrieges gehört das Völkerrecht. Der Krieg und Besatzung waren ein klarer Verstoß der USA und Großbritanniens gegen die UNO-Charta. Die Tatsache, dass der UNO-Sicherheitsrat unter massivem Druck Washingtons der Besatzung Iraks seit Mai 2003 durch mehrere Resolutionen einen quasi völkerrechtlichen Anstrich gab, ändert an diesem Völkerrechtsbruch nichts. Das Problem ist: dieser Völkerrechtsbruch wurde bis heute nicht offiziell festgestellt. In der UNO-Generalversammlung hätte mit Sicherheit eine große Mehrheit von über 170 der 192 Mitgliedsstaaten einer Resolution zur Feststellung und Verurteilung des Völkerrechtsbruchs gefunden. Doch keine Regierung wagte es, einen entsprechenden Resolutionsantrag einzubringen. Die Regierung Südafrikas, die einen solchen Schritt erwog, ließ unter massivem Druck der Bush-Administration von diesem Vorhaben ab.

Lediglich UNO-Generalsekretär Kofi Annan fand im September 2005 in einem Interview mit der BBC den Mut, den anglo-amerikanischen Verstoß in gegen die UNO-Charta einigermaßen klar beim Namen zu benennen.

So hat der anglo-amerikanische Völkerrechtsbruch auch keine juristischen Folgen. Zur einer Klage beim Internationalen Gerichtshof der UNO in Den Haag wäre lediglich die Regierung Iraks berechtigt gewesen. Und vor dem Internationalen Strafgerichtshof (ISTGH) sind Klagen wegen eines im Jahre 2.003 erfolgten Angriffskrieges nicht möglich. Denn die USA verhinderten bis Anfang 2.010 hatten, dass dieser Straftatbestand überhaupt vom ISTGH verfolgt werden kann.

Theoretisch wären Klagen gegen US-Präsidenten George Bush und den britischen Premierminister Tony Blair möglich gewesen. Denn als Oberkommandierende der Streitkräfte ihres Landes trugen sie die Verantwortung für den Völkerrechtsbruch sowie für die von amerikanischen und britischen Soldaten im Irak verübten Kriegsverbrechen und Verstößen gegen die Genfer Konventionen und andere Bestimmungen des humanitären Völkerrechts. Doch auch hier fanden sich bislang keine Kläger. Bis heute wurden einige niederrangige Soldaten für die in Abu Graib und anderswo verübten Kriegsverbrechen und schweren Menschenrechtsverletzungen verurteilt.

Der Krieg hat schließlich Folgen, die bis weit über Irak und die Region Naher/Mittlerer Osten hinausreichen. Er hat in den sicherheitspolitischen Eliten vieler Ländern die Fraktion derjenigen gestärkt, die für die Beschaffung von Atomwaffen plädieren als vermeintlich einzig verlässlicher Versicherung gegen einen Angriff von außen. "Hätte Saddam Hussein doch bloß die von Washington und London behaupteten Massenvernichtungswaffen gehabt. Dann wäre Irak niemals angegriffen worden". Dieser Satz ist heute nicht nur in Teheran und Pjönjang, sondern auch in vielen anderen Hauptstädten zu hören.

(Der Redaktionsschluss dieses Artikels - 15.10.2010 - lag vor der Wikileaks-Veröffentlichung der geheimen Pentagon-Dokumente zum Irakkrieg am 23.10.2010)

Veröffentlicht am

01. Dezember 2010

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