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NATO: Der eigenen Natur gehorchen

Der Lissabonner Gipfel verabschiedet ein neues Konzept des Nordatlantikpaktes. Auf diese Weise versorgt sich eine Wirtschaftsordnung mit der passenden Militärstrategie

Von Lutz Herden

Kurz vor dem Lissabonner NATO-Gipfel war der deutsche Verteidigungsminister NATO-Generalsekretär Rasmussen mit einer gedanklichen Handreichung zu Gefallen. Zu Guttenberg meinte: "Die Sicherung der Handelswege und der Rohstoffquellen ist ohne Zweifel unter militärischen und globalstrategischen Gesichtspunkten zu betrachten." Besser hätte sich das neue Strategische Konzept der NATO, das in Lissabon absegnet wird, nicht rechtfertigen lassen. Künftige Kriege werden auf den Boden der Tatsachen geholt, ihres moralischen Blendwerks beraubt, stattdessen ins eiskalte Wasser des merkantilen Zwecks gestoßen. Jetzt dürfen Panzer rollen, ohne dass ihnen die rückwärtigen Dienste den westlichen Wertecontainer hinterher tragen. Minister zu Guttenberg will Tempo aufnehmen und nicht länger durch den Morast der Moral waten.

Auch ein Bundespräsident hatte dem zu entrinnen versucht und war unversehens in den Morast der Politik geraten. Horst Köhler gab ausgerechnet auf dem Rückflug von der Afghanistan-Front zu bedenken, "dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren." Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, auch andere haben Interessen und allen Grund, Rohstoffquellen als nationale Entwicklungsgarantie, Handelswege als Wohlstandskatalysator, Erdgastrassen als Faustpfand gegen Interventionsdrohungen oder den Raub von Schiffen als Kompensation für den Raub von Fischfang zu betrachten.

Und sei es imperial

Die westliche Allianz betrieb nach dem Kalten Krieg eine Osterweiterung, um befriedigende Zuwachsraten vorzuweisen und existenziellen Fragen auszuweichen. Nun winkt ihr dank des Strategischen Konzepts NATO 2020 eine Metamorphose, mit der sich bequem durch ein Jahrhundert - wenn nicht Zeitalter - kommen lässt. Das Bündnis mutiert zum globalen Militärdienstleister, der keine Grenzen mehr verteidigt, sondern Interessen, die an Bündnisgrenzen nicht enden. Da in vielen NATO-Ländern der Drang zum Berufsheer wie zur Kooperation mit privaten Sicherheitsdiensten unaufhaltsam ist, gewinnen Anfänge einer internationalen Fremdenlegion an Kontur, die im Auftrag Europas und Nordamerikas steht und stirbt. Krieg ist dann - in Anlehnung an Carl von Clausewitz - nicht mehr Fortsetzung von Politik, sondern Fortsetzung von Ökonomie mit anderen Mitteln.

Der Kapitalismus bedarf keiner vaterländischen, idealistischen, religiösen oder gesinnungsethischen Schrullen mehr, um das Schwert zu ziehen. Er darf seiner Natur gehorchen und sein, wie er ist. Warum nicht imperial? Wie den Prekarier als industrielle, hält er sich den Legionär als militärische Reservearmee. Das mag kein zivilisatorischer Fortschritt sein, marktförmig ist es allemal. Die NATO weiß, was sie tut, wenn sie mit dem neuen Konzept vorhandene globale Risiken zu globalen Bedrohungen befördert: Von schwindsüchtigen Rohstoff-Ressourcen, über internationale Piraterie und den Gebrauch der Kernenergie durch einstige Nicht-Atom-Mächte (Iran, Nordkorea) bis zu Cyber-Attacks. Wer diese Szenarien heraufbeschwört, sorgt in den Wohlstandszitadellen des Nordens für eine steigende Nachfrage nach Gefahrenabwehr. Der Dienstleister rast mit seinem Sortiment über den ganzen Erdball, um allen - nicht zuletzt von ihm selbst - geweckten Bedürfnissen gerecht zu werden. Wie Kunstgegenstände ein kunstsinniges Publikum schaffen jemenitische Paketbomben ein angsterfülltes und die Dämonisierung des iranischen Atomprogramms ein kriegswilliges.

Schon die im April 1999 beschlossene NATO-Strategie las sich wie ein angebotsorientierter Katalog "neuer Bedrohungen". "Sicherheitsinteressen des Bündnisses", hieß es im damaligen Strategischen Konzept, "können von anderen Risiken umfassenderer Natur berührt werden, einschließlich Akte des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen." Von der NATO 2000 bis zur NATO 2020 ist es nur wenige Atemzüge weit. Und doch bleibt ein bohrendes Unbehagen, getränkt von der Gewissheit - auch andere - siehe oben - haben Interessen.

Aus dem Herzen gesprochen

Bei einem Maximum an imperialem Anspruch soll es daher ein Minimum an eigener Verwundbarkeit geben. Kein Wunder, dass die NATO in diesem Augenblick eine schon von der Bush-Administration erwogene Raketenabwehr als Bündnissache recycelt und dafür einen politischen Preis zahlt: Mehr Nähe zu Russland. Sehr zum Leidwesen der östlichen Vorposten des Westens, denen die Maginotlinie abhanden kommt. Eine strategische Partnerschaft NATO-Russland kostet Polen und den baltischen Ländern das Frontstaaten-Privileg und beschert eine wenig komfortable Mittellage. Bisher gepflegte Bedrohungssyndrome verlieren an Glaubwürdigkeit. Doch wie kann es anders sein, wenn die Allianz ein Jahrzehnt verabschiedet, in dem es galt, mit dem Osten Europas die Ernte des schnellen Sieges von 1990 einzufahren? Das war gestern, heute sind die Scheuern gut gefüllt und wollen gehalten werden.

Die westliche Allianz verändert sich als NATO 2020 bis zur Kenntlichkeit. Besaß sie je ein Handlungstableau, das einem Wirtschaftssystem so sehr aus dem Herzen sprach, weil es dessen Herzensangelegenheiten so unverblümt diente? Die Kongruenz zwischen ökonomischer Ordnung und Militärstrategie könnte perfekter kaum sein. Ihr Prinzip lautet: Wenn es sein muss - ewiger Krieg für unseren ewigen Frieden.

Quelle: der FREITAG vom 18.11.2010. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

19. November 2010

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