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Afghanistan: “Verhandeln statt Schießen”

Von Otmar Steinbicker - Rede zur Antikriegstag-Veranstaltung am 1. September 2010 in Witten

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,

die Initiative, den 1. September als Antikriegstag zu begehen, ging vom DGB aus, der erstmals am 1. September 1957 unter dem Motto "Nie wieder Krieg" zu Aktionen aufrief. Auf dem Bundeskongress des DGB 1966 wurde ein Antrag angenommen "…alles Erdenkliche zu unternehmen, damit des 1. September in würdiger Form als eines Tages des Bekenntnisses für den Frieden und gegen den Krieg gedacht wird."

Damals hatten die Initiatoren die Hoffnung, dass es gelingen möge, nie wieder einen 1. September im Krieg erleben zu müssen.

Zu frisch waren noch die Erinnerungen an den 1. September 1939, den Tag des Überfalls Hitlerdeutschlands auf Polen, des Beginns des Zweiten Weltkriegs, der zuerst dem polnischen Volk, dann ganz Europa und der Welt enormes Leid zufügte - auch dem deutschen Volk.

Das tragische Schicksal von Siegmund Mühlhaus, dem jungen Soldaten aus Witten, der in den letzten Kriegstagen nicht mehr an die Front zurückgekehrt war und als Deserteur erschossen wurde, zeigt besonders eindrücklich das sinnlose Sterben im Krieg.

Wenn wir heute des 1. September gedenken, dann erleben wir Deutschland wieder in einem Krieg. In einen Krieg verwickelt in Afghanistan - tausende Kilometer entfernt - wo deutsche Soldaten töten und deutsche Soldaten sterben, sinnlos töten und sinnlos sterben.

Es ist ein verlorener Krieg. Die Militärs sagen uns seit langem, dass dieser Krieg militärisch nicht zu gewinnen ist. Ein Krieg, der militärisch nicht zu gewinnen ist, ist verloren.

Dieser Krieg war schon vor einem Jahr verloren, als am 4. September Oberst Klein den verhängnisvollen Befehl gab, zwei von Taliban entführte Tanklastwagen bombardieren zu lassen, die völlig bewegungsunfähig im Sand des Kunduz-Flussbettes feststeckten. Es war das folgenschwerste Bombardement, das ein deutscher Offizier seit dem Zweiten Weltkrieg befohlen hat. In den frühen Morgenstunden des 4. September 2009 warf ein F-15-Jet der US-Armee zwei 500-Pfund-Sprengkörper ab. In der Feuerhölle starben bis zu 142 Menschen, darunter eine Anzahl Kinder. Sie hatten versucht, sich ein wenig Treibstoff abzuzapfen, um im Winter etwas heizen zu können.

Spätestens der Schrecken dieses Bombardements hätte der Bundesregierung Anlass bieten müssen, gründlich über den gesamten Afghanistan-Einsatz nachzudenken und nach friedlichen Alternativen zur Lösung des Afghanistan-Konfliktes zu suchen. Stattdessen wurden die Truppen noch einmal aufgestockt und die Kampfhandlungen massiv ausgeweitet.

Die Bundeswehr hat noch Mitte diesen Monats entschieden, dass Oberst Klein bei dem Tanklaster-Bombardement vor einem Jahr nichts falsch gemacht habe. Er soll nicht einmal abgemahnt werden.

Dabei wäre ein anderer Weg möglich und sinnvoll gewesen.

Seit dem 4. September 2008 - auch ein 4. September! - hatten sich die Kooperation für den Frieden, der Zusammenschluss von mehr als 50 deutschen Friedensorganisationen, und die Nationale Friedens-Jirga Afghanistans, der mehr als 3000 afghanische Stammesführer angehören, um einen Dialog mit Aufständischen und Bundesregierung und um einen Waffenstillstand in der Region Kunduz bemüht. Im Frühjahr 2009 gab es erste Signale der Taliban aus der Region Kunduz, dass sie dazu bereit waren. Alle unsere Bemühungen, die Bundesregierung dafür zu interessieren, blieben leider erfolglos. Stattdessen mussten 2009 eine nicht gezählte Zahl von Afghanen und auch sechs deutsche Soldaten sinnlos sterben.

Nach den Bomben auf die Tanklaster gelang es der Nationalen Friedens-Jirga Afghanistans, die Taliban von Racheaktionen abzuhalten und sogar für einen einseitigen Waffenstillstand zu gewinnen, um guten Willen zu zeigen und Gespräche über einen beiderseitigen Waffenstillstand zu ermöglichen, der nach dem Vorschlag der deutschen und afghanischen Friedensbewegungen von Kunduz ausgehend, nach und nach auf ganz Afghanistan ausgeweitet werden sollte.

Doch auch dieser Versuch schlug fehl. Anfang November 2009 töteten US-Spezialeinheiten den Taliban-Kommandeur Qari Bashir, der den einseitigen Waffenstillstand angeordnet hatte und viele seiner Kämpfer.

Bashir war - wie wir heute wissen - zum Verhängnis geworden, dass er sich bereits im Mai 2009 auch auf eigene Faust um Friedensgespräche mit den verantwortlichen Bundeswehr-Offizieren in Kunduz bemüht hatte. Mittlerweile belegen die von Wikileaks veröffentlichten Dokumente, dass Qari Bashir, der der Bundeswehr den Frieden anbot, von der Bundeswehr - konkret von jenem Oberst Klein, der auch das Bombardement auf die Tanklaster befahl - auf jene Suchliste gesetzt wurde, die die US-Truppen tödlich abarbeiteten.

Als Folge der beharrlichen Verweigerung von Gesprächen über Waffenstillstand und Friedenslösungen durch Bundesregierung und Bundeswehr verloren in diesem Jahr 2010 eine weitere nicht gezählte Zahl von Afghanen und auch sieben deutsche Soldaten ihr Leben. Auch sie starben sinnlos.

Mittlerweile mehren sich die Zeichen auf westlicher Seite, dass die Erkenntnis wächst, dass es keine Alternative mehr gibt zu Verhandlungen mit den Taliban. Aber noch stehen realen, aber zögerlichen Signalen der Gesprächsbereitschaft massive Schläge der US-Spezialstreitkräfte gegenüber. Allein in den vergangenen drei Monaten eliminierten diese Eliteeinheiten nach eigenen Angaben 365 Kommandeure der Aufständischen.

Dennoch: Es gibt für Afghanistan keine sinnvolle Alternative zu Verhandlungen!

  • Verhandlungen zwischen den verschiedenen Spektren der afghanischen Gesellschaft - den politischen Parteien, den unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräften, den verschiedenen Stämmen und Nationalitäten. In diese Verhandlungen müssen auch die Taliban eingebunden sein. Afghanistan braucht eine politische Zukunft für alle seine Bürgerinnen und Bürger mit Chancen auf Bildung und Arbeit für Männer und Frauen, damit das Land einen gemeinsamen Weg aus 30 Jahren Krieg, Bürgerkrieg und Elend findet.
  • Verhandlungen zwischen NATO und Aufständischen, um schnell einen umfassenden Waffenstillstand zu vereinbaren, der die Voraussetzung sowohl für die sicherlich komplizierten innerafghanischen Verhandlungen als auch für einen schnellen und reibungslosen Abzug der internationalen Truppen bildet.
  • Verhandlungen schließlich auch zwischen Afghanistan, seinen Nachbarstaaten und den ständigen Mitgliedern des UNO-Sicherheitsrates. Das Beispiel der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa kann hier als Muster dienen, Friedenslösungen zu finden, die von allen Nachbarstaaten und ausländischen Mächten akzeptiert und garantiert werden. Überlegungen, wie sie derzeit in Washington angestellt werden, das Land in einen westlich orientierten Norden und einen von den Taliban beherrschten Süden aufzuteilen, würden mit tödlicher Sicherheit in einen neuen, verheerenden Bürgerkrieg führen.

Nur eine gesamt-afghanische Friedenslösung kann die nötige Stabilität bringen, damit massive Entwicklungs- und Wiederaufbauhilfe sinnvoll geleistet werden kann und mit geeigneten Projekten diejenigen erreicht werden, die ihrer bedürfen.

Für diese Ziele, meine Damen und Herren, bitte ich Sie, in ihrem Bekanntenkreis, in ihrem Umfeld, am Arbeitsplatz und überall dort, wo es Ihnen möglich ist, zu werben, damit dem sinnlosen Sterben von Zivilisten wie von Soldaten endlich ein Ende bereitet wird.

Otmar Steinbicker ist Herausgeber des Aachener Friedensmagazins aixpaix.de und Mitglied des Kooperationsrates der Kooperation für den Frieden

Veröffentlicht am

02. September 2010

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