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Afghanistan-Dossier: Bestürzende Gesamtschau

Auf den ersten Blick bieten die Afghanistan-Protokolle wenig Neues. Doch auch für den Krieg am Hindukusch gilt: Es gibt einen Unterschied zwischen Vermutung und Beleg

Von Ulrike Winkelmann

Das größte Datenleck der Geschichte kommt zunächst einmal nicht wie die neueste Nachricht der Geschichte daher. Dass die Bundeswehr unvorbereitet in den Afghanistaneinsatz stolperte und nicht verhindern konnte, dass dieser sich auch im zunächst ruhigen Norden zu einem Krieg entwickelte, dass Drohnen bisweilen abstürzen und der pakistanische Geheimdienst mit den Taliban zusammenarbeitet, kann niemanden überraschen, der in den vergangenen Jahren Zeitung gelesen hat.

In der Tat ist speziell der "deutsche" Anteil der 92.000 Protokollnotizen, die nunmehr via Wikileaks, Guardian, New York Times und Spiegel zugänglich gemacht wurden, nicht besonders sensationell - jedenfalls auf den ersten und zweiten Blick. Nur wer wirklich meinte, die Bundesrepublik sei treibende Kriegskraft am Hindukusch, wird nun enttäuscht sein zu lesen, dass der Bundeswehr anhand des durchgestochenen Materials weder Gewaltexzesse noch illegale Geheimoperationen nachzuweisen sind. In dieser Hinsicht belastender ist das Material eher für britische und besonders für die US-Truppen, die offenbar noch mehr Attacken mit unnötigen und zivilen Opfern verschuldet haben, als die Chroniken bislang verzeichnen.

Dass aber auch im Regionalkommando Nord, wo die Deutschen offiziell das Sagen haben, längst Special Forces auf Talibanjagd unterwegs sind, kommt als Hinweis in jeder Bundeswehr-Reportage vor. Die mediale Aufklärungsarbeit nach dem Luftangriff vom 4. September 2009 mit etwa 100 Toten, der für Deutschland der größte und folgenschwerste Angriff war -, hat die Existenz von "Todeslisten" längst bekannt gemacht. Es war der stern, der im Februar dieses Jahres recht ausführlich über die JPEL-Listen (Joint Priority Effects List/Gemeinsame Wirkungsvorrangliste) berichtete, die auch in Nordafghanistan "abgearbeitet" würden. Das deutsche Kommando Spezialkräfte (KSK) ist daran offenbar insofern beteiligt, als es bei der Erstellung der Listen mitarbeitet.

Auch Anfragen im Bundestag - insbesondere des Grünen-Abgeordneten Christian Ströbele - haben bereits viele Einzelangaben zu Operationen zu Tage befördert, die irgendwie nie in das Gesamtbild zu passen schienen, das die Bundesregierung vom Einsatz ablieferte. Wesentlich häufiger musste die Bundeswehr im Norden demnach etwa die Unterstützung durch US-Kampfflugzeuge anfordern, als bis zum 4. September 2009 zu vermuten stand. Es wurde anhand solcher kleinen Einzelmeldungen auch oft deutlich, dass die afghanischen Truppen und die afghanische Polizei stets sehr große Opferzahlen verzeichneten, wo die Bundeswehr unbehelligt herausgekommen ist: eine Schieflage, die in der deutschen Öffentlichkeit gern verdrängt wird.

Dennoch aber enthalten die nun aufbereiteten Militärprotokolle wichtige Informationen, die das öffentliche Bild des Afghanistan-Kriegs mit prägen werden. Es lohnt sich, das auf den ersten Blick schier unlesbare Militär-Abkürzungs-Kauderwelsch einmal im Original (etwa bei der New York Times, deren Aufbereitung im Internet besonders gelungen ist, insgesamt mehr Dokumente hat allerdings der Guardian in eine interaktive Karte eingearbeitet) zu lesen. Die Gesamtschau muss bestürzen. Denn auch für die Bewertung des Afghanistankriegs, über den verblüffend viele Menschen speziell in Deutschland stets immer schon alles gewusst zu haben meinen, gilt der Unterschied zwischen begründeter Vermutung und schriftlichem Beleg.

Die Berichte über offene Korruption an den Checkpoints, über interne, auch tödlich ausgetragene Machtkämpfe der afghanischen Truppen und Polizisten, über folgenlose Eingriffe der internationalen Truppen zeigen überdeutlich, dass der zahlenmäßige Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte nie und nimmer ein ausreichendes Kriterium für die angestrebte "selbsttragende Stabilität" in Afghanistan sein kann.

Ausgesprochen verwirrend sind die unzähligen Hinweise darauf, dass und wie der pakistanische Geheimdienst ISI den Aufstand in Afghanistan mit steuert. Einerseits wird wiederum belegt, dass Pakistan sich bald zu einem weit größeren Problem auswachsen könnte als Afghanistan, dass der Westen dies noch nicht im Ansatz begonnen hat zu bearbeiten und dass ohne eine staatliche Integration der "Stammesgebiete" in den Bergen der Taliban-Nachschub nie versiegen wird. Andererseits schreibt der Spiegel zu Recht, dass viele der Informantenberichte sichtlich vom Wunsch geprägt sind, den ISI zu belasten und dadurch die Aufmerksamkeit möglicherweise von anderen Akteuren abzulenken. Hinzu kommt, dass zumindest einige Kenner der Region bei der pakistanischen Regierung seit nicht ganz zwei Jahren den Willen erkannt haben wollen, dem Treiben des Geheimdiensts Grenzen zu setzen - mit unklarem Erfolg.

Das ist möglicherweise das Deprimierendste an dem "Logbuch des Krieges", das die drei Leitmedien zusammen mit Wikileaks nun veröffentlicht haben: Die jeweils schlimmsten Befürchtungen über den Zustand des Landes und des Einsatzes werden untermauert, teils bewiesen. Ein Ausweg aber, der nicht nur immer weitere Opfer verheißt, scheint komplett verschüttet.

Quelle: der FREITAG vom 26.07.2010. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

 

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Veröffentlicht am

27. Juli 2010

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