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Überlebensfrage: Die Utopie der Null

Es geht um den Abschied vom Wachstumsfetischismus im Norden, aber auch im Süden

 

Von Michael Krätke

Alles schwört, alles hofft auf Wachstum. Jedes Quäntchen statistisches Wachstum - 0,3 Prozent oder mehr oder weniger - wird als großer Sieg gefeiert. China, Indien, die USA verzeichnen augenblicklich wieder stattliche Wachstumsraten, die Börsen boomen, nur Europa hinkt weit hinterher. Keine Regierung, die es sich erlauben kann, auf Wachstumsförderung zu verzichten.

Unter diesen Umständen ist Ende 2009 der Klimagipfel von Kopenhagen grandios gescheitert, wie das mitten in einer Weltwirtschaftskrise kaum anders zu erwarten war. Einzig mögliche Konsequenz wäre ja gewesen, die immensen, rasch wachsenden Kosten des Klimawandels ernst zu nehmen und sich der Herausforderung zu stellen, die in der Frage liegt: Wer soll die Kosten eines Übergangs zu einem anderen Typ von Wachstum und Entwicklung weltweit tragen. Die Schwellen- wie Entwicklungsländer haben in Kopenhagen dem reichen Norden die Rechnung präsentiert. Und der hat sich geweigert, sie zu bezahlen.

Zur Ersatzreligion erhoben

Jetzt wird diese Rechnung von einer UN-Studie noch etwas detaillierter aufgemacht: Nach Industriezweigen und Sektoren differenziert. Man könnte derartige Analysen auch nach Ländern und Regionen aufgeschlüsselt vorlegen und ähnliche Berechnungen im Blick auf die Maßnahmen präsentieren, die weltweit und regional notwendig wären, um Klimawandel zu stoppen, Artenvielfalt zu erhalten, schlimmste Umweltschäden zu verhindern. Solche Rechnungen ändern allerdings nichts an der Crux unserer verfahrenen Situation: Wir haben den Wachstumsfetischismus zu einer Ersatzreligion erhoben und in unsere offizielle Wahrnehmung der Welt, unser scheinbar objektives Regel- und Zahlenwerk der amtlichen Statistik - genannt Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) - eingebaut. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der offiziellen VGR gibt jedoch nur ein sehr verkürztes, teils falsches Bild aller ökonomischen Aktivitäten eines Landes wieder. Es bedient eine auf Wachstum fixierte Politik und läuft damit einer Chimäre nach, die herrschender ökonomischer Denkweise entspringt.

Das ist heute weniger denn je eine akademische Auffassung, denn in eine offizielle ökonomische Statistik gehören längst die Umweltschäden - sprich: die wirklichen sozialen und ökologischen Kosten - unserer obsoleten privatkapitalistischen Wirtschaftsweise. Anders als bei früheren Weltwirtschaftskrisen haben wir inzwischen nicht mehr viel Zeit zur Transformation, die kaum von selbst kommen wird. Doch sie ist notwendig, wollen wir diesen Planeten bewohnbar erhalten. Das heißt Abschied von der Wachstumsideologie, nicht mehr und nicht weniger.

Kapitalismus ohne Wachstum, Stagnation, Depression auf Dauer - statt immer währender Prosperität, das sieht aus wie die Quadratur des Kreises. Eine Übung, die nur gelingt, wenn man den Zirkel des ökonomischen Einheitsdenkens zu verlassen wagt. Propagiert wird ein Null-Wachstum oder sogar ein Negativ-Wachstum, der Übergang zur Stagnation oder Schrumpfung seit langem. Beide Varianten sind nicht ohne weitgehenden Umbau der Wirtschaft - ohne Verlagerung und Umstrukturierung von Branchen, Industrien, Regionen und Handelsnetzen zu haben. Darin berühren sie sich mit dem Konzept eines ökologisch reformierten, grünen Kapitalismus, der mit der Formel vom nachhaltigen Wachstum (sustainable growth) beschworen wird. Aber die Vorstellung eines Null-Wachstums (no growth) oder Negativwachstums geht erheblich weiter als das, was heute den grünen Konsens ausmacht. Sie führt direkt zum Ende der "Entwicklung" (no-development) und damit zum Kern des Problems. Die Frage lautet schlicht, ob wir uns den Kapitalismus in seiner jetzigen Form (die neoliberale Spielart samt der tradierten hoch-industriellen Produktionsweise auf fossiler Energiebasis), ob wir uns diese Vehemenz der Ressourcenvernichtung, der Vergeudung von Arbeitskraft, diesen Abgrund zwischen privatem Reichtum und gesellschaftlicher Armut noch leisten können und wollen. Die Frage stellt sich freilich bei uns im globalen Norden anders als im Süden. Wir können uns ein strikt reglementiertes Wachstum, eine regulierte Umverteilung und Reallokation unserer Ressourcen durchaus vorstellen. Auch wenn der öko-soziale Umbau der Wirtschaft einer Revolution gleichkäme. Aber können sich die Länder der vormals "Dritten Welt" - von den Akteuren im globalen Norden zur "Entwicklung" nach ihrem Muster getrieben und vom Weltmarkt abhängig - einen resoluten Abschied vom Wachstum erlauben?

Klapprige Dogmen

Armut, Gesellschafts- und Umweltzerstörung in den reichen Industrieländern sind ein täglicher Skandal, der zum Himmel schreit. Doch er verblasst bei weitem gegenüber der Armut, Umweltvernichtung und Zerstörung bäuerlicher Subsistenzwirtschaften in den Ländern Afrikas und Asiens. Man kann - den nötigen politischen Willen vorausgesetzt - bei den umweltschädlichsten Branchen und Betrieben in den Ländern des Nordens mit Sanktionen und direkten Eingriffen Schadensbegrenzung betreiben. Man kann sogar den Auto- und Luftverkehr zügeln, wenn man nur will. Man kann die gesamte Energiebasis unserer Lebens- und Wirtschaftsweise in wenigen Jahrzehnten umbauen - auch wenn das radikale Eingriffe in das Privateigentum nicht nur einiger, sondern vieler verlangt.

Aber man kann nicht den Regenwald schützen und die Artenvielfalt erhalten, ohne die "Entwicklung" in den Schwellen- und Entwicklungsländern zu stoppen beziehungsweise wirksam zu begrenzen. Dazu brauchte es eine weitere "grüne Revolution" und einen Umbau der Agrikultur. Statt Agrar-Exportindustrien, statt Monokulturen und Plantagenwirtschaft müssten wir entweder die Subsistenzökonomien der betreffenden Staaten erhalten oder uns zu einem radikalen Wandel der internationalen Arbeitsteilung bereit finden. Und der wird nicht auf die alten Muster zurückgreifen können - hier bei uns die High-Tech Industrien, dort im Süden die Landwirtschaft. Schon die Ansprüche der Schwellenländer brechen mit diesem Muster. Um nur ein Beispiel für die Radikalität der erforderlichen Wende zu nennen: Will EU-Europa mit den BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) kooperieren, muss es sich vom klapprigen Dogma des allein selig machenden Freihandels verabschieden - mithin von den Glaubensartikeln der Welthandelsorganisation (WTO).

Michael R. Krätke ist Professor für Politische Ökonomie an der Universität Lancatser

Quelle: der FREITAG vom 04.03.2010. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

06. März 2010

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