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Afghanistan: Staat muss nicht sein

Die erzwungene Verschmelzung tribalistischer Funktionalität mit dem Exportprodukt Staat hat versagt. Europäische Machtorganisationen haben Teile der Welt unregierbar gemacht

 

Von Ekkehart Krippendorff

Unter der Überschrift "Undurchdringliches Geflecht der Stämme" erschien kürzlich in der Süddeutschen Zeitung ein Bericht über die explosive Lage im Jemen, die "in den Augen amerikanischer Experten eine Priorität genießt, die nur von Afghanistan/Pakistan übertroffen wird". Also werden wir bürgerpflichtbewussten Zeitungsleser, um uns ein informiertes Urteil über den nächsten Kriegsschauplatz zu bilden, nun auch Jemen-Kenner werden müssen, obwohl wir mit Afghanistan und Pakistan eigentlich schon genug zu tun haben. Und das kommt dann auf uns zu: "Die Huthi-Rebellen im Norden sind Zaiditen, Angehörige der schiitischen Minderheit, die bis zur Revolution von 1962 das Land beherrschte und sich seither wirtschaftlich wie kulturell vernachlässigt fühlt. Präsident Ali Abdullah Salih gehört aber nicht der sunnitischen Mehrheit an, sondern ist gleichfalls Zaidit. Sein Sohn Ahmed Ali Abdullah kommandiert gar die Elitetruppe der Republikanischen Garde. Er hat zudem über den bekanntesten Rüstungshändler des Landes Waffen für die Aufständischen beschafft, weil er den ihm verhassten Halbbruder des Präsidenten ausschalten will …" Verstanden?

Krebsartiger Zerfallsprozess

Wie gut hatten wir es doch, als es für ein außenpolitisches Urteil genügte, den Namen des Landes und seines Staatschefs zu kennen, vielleicht noch wer mit wem und gegen wen: Bündnispartner, Interessenkonflikte, Machtspiele der politischen Klassen. Wenn man "Brasilien", "Schweden" oder "Japan" sagte, wusste man, wovon die Rede war. Eben diese Überschaubarkeit internationaler Beziehungen als Beziehungen zwischen Staaten und Staatschefs, die gibt es immer weniger, blicken wir über die Grenzen der euro-atlantischen Staatenwelt hinaus: Auf Nord- und Schwarzafrika oder auf den Mittleren Osten und West-Asien. Überall dorthin, wo europäischer Kolonialismus präsent war. Was wir in diesen Regionen beobachten, ist ein sich krebsartig ausbreitender Zerfallsprozess staatlicher Ordnungen, vulgo "Bürgerkriege": Staatsstreiche, Sezessionen, Genozide, Terrorismus als Methoden des Machtkampfes konkurrierender Eliten und Ethnien. Wir haben es mit Spätfolgen des Rückzuges der Kolonialmächte nach dem Ende des II. Weltkrieges zu tun, als die USA deren Nachfolge mit einer Strategie indirekter ökonomischer (kapitalistischer) Herrschaft und Kontrolle antraten. Es entstanden neue Staaten, die es nie zuvor gab. In der Entkolonisierung Mitte des 20. Jahrhunderts finden wir den Schlüssel zum Verständnis für die Zerfalls- und Korruptionsgeschichte dieser Staaten - den Schlüssel, um gesellschaftliche und politische Ordnungen zu rekonstruieren, die mit einem Mindestmaß von Stabilität und Rechtssicherheit ausgestattet sind.

Selbstständigkeit und formale staatliche Souveränität wurden nämlich unter Voraussetzungen gewährt, wie sie die abziehenden Kolonialmächte zuvor selbst geschaffen hatten. Sie hinterließen für die politische Ordnung der Ex-Kolonien europäische Muster - mit Parlamenten, Präsidenten, Bürokratien und zuvor auf europäischen Militärakademien ausgebildeten Soldaten. Für Großbritannien, Belgien, die Niederlande, Frankreich und Portugal war Staatlichkeit die einzig akzeptable Form, in der die neuen Mitglieder der Staatengesellschaft auf die Weltbühne treten durften - die UNO, deren stolze Mitglieder sie nun werden durften, waren ja keine "Vereinten Nationen" sondern "Vereinte Staaten". Die Kolonialregierungen konnten sich Alternativen zum zentralisierten, hierarchisch aufgebauten Territorialstaat mit einer Hauptstadt, mit Parteien und Wahlen zur Bestellung des Regierungspersonals überhaupt nicht vorstellen. Eben das aber war den außereuropäischen Gesellschaften fremd und unnatürlich.

Moderne Trias des Westens

Es sei daran erinnert, wie lange es dauerte, wie viele teils einmalig günstige Faktoren zusammenwirken mussten, den später so genannten "Modernen Staat" aus der Taufe zu heben. Seine Geburtsstunde schlug mit dem Westfälischen Frieden von 1648, als der Dreißigjährige Krieg zu Ende ging. Dieser "Moderne Staat" mit der Trias von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt war eine spezifisch europäische Gestalt.

Was im Unterschied dazu aus europäischer Sicht primitiv, vormodern, unzivilisiert oder bestenfalls als exotisch (Indien) erschien, war - vorzugsweise in Afrika - die Selbstorganisation von Stammesgesellschaften. Was hier zählte und Ordnung schuf, waren ethnisch-tribale Zugehörigkeiten, Anciennität, Verwandtschaften, ungeschriebene, gleichwohl verbindliche Gesetze, ritualisierte Konfliktlösungen und Methoden der Rechtsprechung. Auf diese tribal organisierten Gemeinschaften, deren Reproduktion um ein Vielfaches komplexer ist als die der uns geläufigen Industriegesellschaften wurde in der Folge der Entkolonisierung der "Moderne Staat" gestülpt - und das konnte in den meisten Fällen nicht anders als schief gehen. Die Kolonialregierungen hatten von Anfang an größte Schwierigkeiten, diese "primitiven" - sprich: hochkomplexen - Gesellschaften zu verstehen. Territorial waren sie oft ebenso wenig zu verorten wie politisch zu definieren. In der Regel wurden sie erfolgreich beherrscht, indem vorgefundene Stammeskonflikte und -rivalitäten der "Eingeborenen" nach dem klassischen Rezept von Teile und Herrsche ausgenutzt wurden: Einzelne Stämme oder Stammesfürsten fanden sich privilegiert und durften andere Stämme mit aktiver Unterstützung der Europäer regieren und kontrollieren.

Zerstörung traditioneller Ordnungen

Wenn heute mit viel internationalem Getöse der Präsident Afghanistans der Korruption beschuldigt wird, handelt es sich um ein Korruptionsverständnis, das dem europäischen Kontext moderner Staatlichkeit und bürokratischen Regierens entstammt, das völlig vorbeigeht an der tatsächlichen Realität dieses Landes als einer pluralistischen Stammesgesellschaft, wo ganz andere Gesetze gelten als die einer aufgeklärten rationalen Verwaltungsethik und Dienstloyalität von Beamten und politischem Personal. Die Inkompatibilität von europäischem Staatsverständnis und tribalistischen Loyalitäten, die Zerstörung traditioneller Ordnungen durch eine abstrakte Modernität staatlichen Regierens, der Staat als effiziente Maschine zur Generierung von Macht und Geld für eigenen Clans und zur physischen Ausschaltung konkurrierender Gemeinschaften - das sind die bösen politischen Erbschaften des Kolonialismus.

Weder Afrika noch den Gesellschaften des Mittleren Ostens, weder Pakistan noch Afghanistan wurde die Chance eingeräumt, andere Formen und Methoden des Politischen, der Autonomie und Selbstregierung zu entwickeln - als Alternativen zum vergleichsweise schlichten europäischen Staatsmodell der Parteien und Parlamente. Die erzwungene Verschmelzung einer tribalistischen Funktionalität mit dem Importprodukt Staat hat nur in wenigen Fällen - vielleicht ist Indien das einzig wirklich bedeutende Beispiel - zur Transformation im Sinne des europäischen Staatsbegriffs geführt. In der Regel überwältigte der Tribalismus den Staat und machte ihn sich dienstbar, auch wenn er sich dabei selbst auflöste. Die staatliche Organisation territorialer Herrschaft in Retorten-Staaten, aus Landkarten konstruiert und mit europäisierten Namen versehen, bot für die von der Kolonialmacht privilegierten Ethnien den unschätzbaren Vorteil institutionell legitimierter Machtausübung. In nicht wenigen Fällen ließ sich über die Staatsmaschinerie Herrschaft zementieren - durch Gewalt bis hin zum Massenmord an ethnischen und/oder Stammeskonkurrenten wie 1994 in Ruanda. Das wird so bleiben, solange die Staatengesellschaft keine Pluralität für eine nichtstaatliche Selbstregierung erlaubt.

Erbe der Kolonialpolitik

Insofern ist die Anerkennung der Tatsache, dass die meisten Menschen nur herrschaftspolitisch einer Staatsidentität unterworfen wurden, heute zu einer dramatischen Herausforderung geworden. Al Qaida und Islamismus stehen nur für die geläufigsten Erscheinungsformen dieses unerkannten oder nicht zugegebenen Erbes der Kolonialpolitik. Große Teile Pakistans, die heute als Hinterland von Taliban und al Qaida gelten, haben sich der staatlichen Kontrolle der Zentralregierung weitgehend entzogen und sind nur noch repressiv-militärisch regierbar - das heißt: nicht regierbar. Eine staatlich vermittelte Außenpolitik wie die der USA in diesen inoffiziell "Tribal Areas" genannten Regionen hat da keine Ansprechpartner oder eben nur solche, deren "Sprache" sie nicht spricht.

Strukturell hat es die europäisch-amerikanische Diplomatie beim afghanischen Staat mit dem gleichen Phänomen zu tun. Der Korruptionsvorwurf gegen die Karsai-Familie arbeitet mit Werten eines ethnisch-religiös-kulturell neutralen Staatsmodells und vermag darum nicht zu erkennen, dass hier - wie in den meisten Weltgegenden - Clan- und ethnische Loyalitäten um ein Vielfaches stärker und legitimer sind als die Loyalität gegenüber einem Staat, der den Völkern in den meisten Fällen oktroyiert wurde und ihnen wenig bis gar nichts bedeutet, wie das Schicksal Jugoslawiens zeigt.

Aus Sicht der von der UNO repräsentierten Staatengesellschaft ist die Form Staat alternativlos und die ethnische Sezession die schlechtere Notlösung kultureller Konflikte: Staat muss sein. Also werden die nach US-Verständnis vorhandenen "failed states" allen Schwierigkeiten und Widersprüchen zum Trotz stabilisiert - über das Militär. Denn ohne Militär kein Staat - das war und ist europäische Erfahrung. Staat und Militär sind Zwillingsinstitutionen als Garanten von Ordnung und Berechenbarkeit. Wenn man schon kein verinnerlichtes Staatsbewusstsein für die Menschen der "Versager-Staaten" schaffen kann, dann doch wenigstens deren äußerliche Stabilisierung durch militärische Gewalt.

Ekkehart Krippendorff, Jahrgang 1934, ist Politikwissenschaftler und Publizist.

 

Quelle: der FREITAG vom 02.12.2009. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Ekkehart Krippendorff und des Verlags. 

Veröffentlicht am

08. Dezember 2009

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