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Mauerfall: Zwischen Vergolden und Einschwärzen

Immer wieder werden ganze Epochen im Rückblick vergoldet: Es war also nicht alles schlecht in der DDR - aber was war eigentlich gut?

Von Friedrich Schorlemmer

Immer wieder werden ganze Epochen im Rückblick vergoldet: die Kaiserzeiten mit dem "Kaiserwetter", die "Goldenen Zwanziger", die Friedensware, gar die Erfahrungen von Kameradschaft im Krieg, jenem sinnlosen Gemetzel, das zum sportliches Ereignis verklärt wird.

Auch die verblichene DDR erscheint nach nunmehr 60 Jahren manchem im Rückblick offenbar immer schöner: Das Grau-in-Grau des Gleichschrittstaates unter Führung jener geistlosen Korporation mit alleinigem Wahrheits- und Machtanspruch wird verdrängt, der rote Militarismus unter Führung grobschlächtiger Herren, die an der Spitze der so genannten Avantgarde der Arbeiterklasse im internationalen Klassenkampf standen - selbst wenn man ihnen zugesteht, dass sie keinen Krieg wollten, war doch das gesellschaftliche Klima dank diverser Sicherheitsorgane verdorben.

Zugleich ist unbestreitbar, dass viele überzeugte DDR-Bürger auch von sozialistisch-humanistischen Idealen erfüllt waren, ohne dass sie sich und anderen zugestanden, wie sehr die missbraucht, beschädigt, verdreht wurden. Wer wollte leugnen, dass es auch Erfahrungen von Geborgenheit, Sicherheit, Würdigung der Arbeit, Volks- und Hochkultur gegeben hat? Im Rückblick seine Vergangenheit selektiv zu betrachten - das Schöne hervorzuheben, das Schwere zurücktreten zu lassen und sich so mit seiner Geschichte auszusöhnen, ist allemal besser, als mit dem Schweren täglich zu hadern, ohne daran noch irgend etwas (ver-)ändern zu können.

Wenn dies freilich zum Verschweigen und einer nur partiellen Wahrnehmen gerät, ist kein geläutertes Leben möglich. Dann wird nicht in den Blick genommen, was aus Geschichte zu lernen ist, was künftig zu vermeiden sei, worin Schuld besteht, was in Zukunft werden soll. Dazu gehört, sich über die Sackgassen klar zu werden, an denen man mitgebaut hat oder in die man brav hinein gegangen ist.

Der Staat DDR in der Hand der "führenden Kraft" der Arbeiterklasse, der die Gesellschaft mit totalitärem Anspruch verschluckte, war nach 40 Jahren alles in allem am Ende. Das Glücklichste an der DDR war wohl ihr glückliches Ende, wiewohl es darin in 40 Jahren auch Glück und ein geglücktes Leben gab - neben dem System, im System, gegen das System.

Enge, Mief, Atemnot, Mangel, Bevormundung, ja Vormundschaft, Anpassungszwänge, Einzäunung, technologischer Rückstand, Verfall der Städte und Betonierung der Welt bilden die eine Seite. Das Aufbaupathos nach 1949, Friedens-Kampf und Staats-Sicherheit mit einem sozial abgesicherten und zugleich mehr und mehr genormten Leben, Glaube an die lichte Zukunft, Sorge um Kinder und Kranke, Arbeitsbeschaffung für alle, die Emanzipation der Frauen und eine Kultur, die sich insgesamt sehen lassen konnte, bilden die andere Seite. 20 Jahre nach der Wende verschiebt sich so manche Erinnerung. Es war nicht alles schlecht. Nur hatte alles zwei Seiten: Sicherheit gab es - stets "mit Sicherheit". Wohnungen waren bezahlbar - nur die Häuser und ganze Städte hielten das nicht aus. Alle hatten Beschäftigung - selbst wenn es keine Arbeit gab. Gutes Theater auf billigen Plätzen - selbst wenn es mit diversen Stücken "Theater" gab. Zelten war Freiheit. Es gab eine ausgedehnte FKK-Kultur und wenigstens dort die nackte Wahrheit über den vorhandenen Zustand. Gaststättenessen war für jedermann bezahlbar - Schnitzel mit Kartoffeln und Mischgemüse für 2,50 Mark, sofern man einen Platz ergatterte und der Oberkellner kein Zerberus war. Die Frauen standen überall ihrem Mann, nur weiter oben wurde es sehr dünn für sie.

Es war nicht alles schlecht; aber was war gut? Da lässt sich nur mit Sarkasmus antworten: allüberall Uniformiertheit und Uninformiertheit, Vormundschaft und marxistisch-leninistische Pseudowissenschaftlichkeit, Schulspeisung für Kinder und Abspeisung für Kritiker, die Altersheime und die niedrig sicheren Renten, die Jugendweihe mit schwülstigem Unterwürfigkeitsgelöbnis. Es gab die Gemüseläden und ihr reichhaltiges Angebot, die übersichtlichen Blumenläden, die Zeitungen mit dem SED-Zentralorgan an der Spitze, das Gerontokratenkartell Politbüro - und es gab Jungehen-Kredite. Zu erinnern wäre auch die Sorgfalt der Zollorgane an den Grenzen der Republik, die vielbesungene Liebe zur Sowjetunion, fröhliches Zettelfalten bei Wahlen, verbunden mit der Auflistung nichtssagender Namen auf der "Einheitsliste der Nationalen Front". Es gab die unerschöpfliche Kapitalreserve "Mensch" beim Verkauf des Überdrucks und des Überdrusses in den Westen. Es war wirklich nicht alles schlecht. Du musstest nur deinen Mund halten und mitmachen und sehen, wie du das Deinige rausholst und permanent in einer doppelten Welt lebst.

Es war nicht alles böse gemeint. Es ging nicht alles böse aus. Aber es war alles grundverlogen. Und die Mehrheit der Bürger saß mit am Tisch der Lüge, bis sie selber nicht mehr wusste, dass es der Tisch der Lüge ist.

Dies hat sich durchaus fortgesetzt. Wir belügen uns weiterhin gern und machen gern andere verantwortlich für die Folgen des Lügens, indem wir ihnen das Lügen, und uns nur das arglose Belogensein zuschreiben.

"Bleibe im Lande und wehre dich täglich", las ich Anfang der achtziger Jahre in einem Büro. Nein, nicht in einem staatlichen, in einem kirchlichen! "Denen gehört das Land nicht!" - das war einst meine aktivierende Ausharrungsformel. "Hier will ich leben und widerstehen, wo es nötig ist. Dazu brauche ich andere, und andere brauchen mich. Wir sind hier unersetzbar, wo geschichtsteleologische Anmaßung mit Macht regiert."

Deswegen hab ich versucht, in der DDR zu verändern und nicht zu verschwinden. Ausreisen war vielfach auch ausreißen, zumal bei denen, die einfach nur Angst vor der Angst hatten, bis sie sich den Mut zuschrieben, einen Ausreiseantrag zu stellen. Die psychischen Belastungen durch das Hinhalten der Behörden oder die Zurücksetzungen im Beruf waren unerhört, lagen aber in der Logik der Ummauerung. Die Ausreisen waren ein Symptom für eine delegitimierte SED-Herrschaft, Ausdruck von Atemnot, Resignation, Verzweiflung, Wut, Sehnsucht nach dem Ende von Demütigung, nach Selbstentfaltung ohne Normierung von oben, nach westlichem Wohlstand. Wer wegging, hatte keine Hoffnung mehr, dass es je eine grundlegende Veränderung geben könnte. Ausreisen war Resignation. Und die hatte Gründe. Stagnation und Repression der Staatsmacht waren bis zum Schluss bedrohlich.

All jene, denen die DDR trotzdem "Heimat" blieb, waren nicht durchweg ideologisch borniert, mit der Staatssicherheit liiert oder standen schießwütig an der Grenze. Doch was dort geschah, störte sie (zu) wenig; sie sagten nichts zu Mauer und Stacheldraht - wie wir alle nicht, weil wir nicht in den "Sonderzug nach Bautzen" gesteckt werden wollten.

Vor 14 Tagen inspizierte ich Kellerräume im Schloss Reinharz, in die ich mit 200 anderen "Staatsfeinden" gebracht werden sollte, wäre es zu einem konterrevolutionären Umsturzversuch gekommen. Seit 1969 gab es solche Pläne, seit 1986 unter der Bezeichnung Wüstensturm oder Sandkasten. Aus der gesamten DDR drohte 86.000 Personen solcherart Internierung. Kein Grund zur Freude, dass es nicht dazu gekommen ist. Der Staat setzte die ihm zur Verfügung stehenden Machtmittel im Herbst 1989 nicht mehr ein. Die Dynamik jener Wochen, das von niemandem erwartete massenhafte Aufmucken der Bürger fegte derartige Pläne vom Tisch. Nur anfänglich gab es Gewalt, die wunderbarer Weise nicht ausuferte, obgleich alle Zeichen auf Eskalation standen.

Über die Gründe für die Zurückhaltung der Sicherheitskräfte mag man streiten. Nicht alle waren lauter, aber es kam eben nicht zu Befehlen, wie sie in China der Armee erteilt wurden. Ein Massaker hätte auch uns blühen können. Stattdessen blühte das Land auf, wenn es auch nicht überall zu blühenden Landschaften kam.

"Wir - sind - das - Volk!" Das war, und das bleibt die politische Innovation der Oktober-Demonstranten in Leipzig, die mitten aus dem Volk kam. Das Volk hatte diesmal unter Beweis gestellt, wie klug, besonnen und standhaft es sein kann. Wer hätte voraussagen können, dass der politische Umsturz und Umbruch in jener dramatischen Zeit der gewaltig-gewaltlosen Oktoberrevolution auf den Straßen der DDR friedlich verlaufen würde?

Wir sind in der vereinigten Demokratie angekommen. Noch ist sie stabil; aber sie braucht mehr aktive Demokraten, die auf dem Boden des Grundgesetzes mitwirken, soll der freiheitliche Sozialstaat nicht ausgehöhlt werden. Demokratie ist auf Akzeptanz der Bürger angewiesen, mehr noch als auf die Funktionstüchtigkeit ihrer Institutionen. Im Übrigen: Vor 20 Jahren wurde mit der Mauer das politische Weltexperiment "Sowjetkommunismus" überwunden - ein effizienter, global entfesselter Kapitalismus verwertet nunmehr ungehemmt die Welt. Ein Beglückungs-Bedrückungs-System wurde abgelöst, aber ein zerstörerischer Zivilisationsweg nicht verlassen. Es war nur eine Wende, wo doch ein grundlegender Wandel angestanden hätte und weiter ansteht.

Friedrich Schorlemmer engagierte sich als Pfarrer in der DDR-Bürgerrechtsbewegung und war Ende 1989 Mitunterzeichner des Aufrufs Für unser Land, mit dem angesichts der heraufziehenden Einheit für eine eigenständige DDR geworben wurde.

Quelle: der FREITAG vom 04.11.2009. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

10. November 2009

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