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Iran: Blut und Tulpen

Seit 100 Jahren gibt es das Lied der "Roten Tulpen", die inoffizielle Hymne der Rebellion. Auch heute singen es die Menschen wieder. Doch wie soll es weitergehen?

Von Fahimeh Farsaie

Das Lied ist schon 100 Jahre alt, heute aber immer noch ein großer Hit im Iran: "Aus dem Blut der Jugend unseres Mutterlandes blühen die roten Tulpen". Die Demonstranten, die nach der Präsidentschaftswahl vom 12. Juni auf die Straße gehen, singen es gerade, um gegen den Wahlbetrug der Hardliner zu protestieren.

Ich mochte das meisterhaft komponierte Stück, das mit seiner melancholischen Tonlage zu den wunderschönen Stücken der klassischen iranischen Musik zählt, nie. Die Melodie klang mir zu deprimierend, das Gedicht zu betrübt, obwohl das Lied immer als Zeichen des Widerstands und der Rebellion gesungen wurde und immer noch wird. Seit fast 100 Jahre ist es die inoffizielle Hymne der Andersdenkenden.

Der iranische Komponist und Dichter Aref Ghazvini (1882-1934) hat diesen Sound nach der "Konstitutionellen Revolution", die zwischen 1905 und 1911 im Iran stattfand, geschrieben. Aref hat sich Zeit seines Lebens für diesen großen politisch-gesellschaftlichen Umbruch eingesetzt, der auch "Jungpersische Revolution" genannt wird. Sie hatte das Ziel, die absolutistische Ghadjarieh-Monarchie abzulösen und eine moderne, bürgerliche Zivilgesellschaft nach westlichem Muster zu schaffen.

Nach der Vorstellung ihrer Architekten sollte ein gewähltes Parlament über die Regierung bestimmen, die auf der Basis eines kodifizierten Rechtssystems handelt. Der Geistliche Scheich Fazlollah Nuri (1842-1909) war der größte und bedeutendste Gegner dieses grundsätzlichen Umbruchs und forderte stattdessen die Vorherrschaft der Religion im politischen System Irans.

Dagegen kämpften Abertausende Widerständler und opferten ihr Leben. Wehmütig und untröstlich beklagt Aref nach dem Sieg der konstitutionellen Bewegung in seinem Lied ihren Verlust: "Aus dem Blut der Jugend unseres Mutterlandes blühen die roten Tulpen/Die Zypressen sind nun krumm vor Kummer, weil sie ihre schlanken Körper verloren haben/ Selbst die Nachtigall ist vor Trauer in den Schatten der Blume gekrochen." Zu diesem Zeitpunkt war Fazlollah Nuri schon tot; von den Revolutionären in Teheran öffentlich aufgehängt!

Akt des Ungehorsams

Unter dem Shah-Regime war das Aref-Lied verboten. Im Frauengefängnis, in der politischen Abteilung, wurde es freilich oft gesummt, wenn die gefangenen Frauen Sehnsucht nach der Freiheit überkam und das turbulente Leben außerhalb der vier Wände des Kerkers vermissten. Das Summen des Liedes hatte eine magische Wirkung auf sie: Als ob sie damit einen mysteriösen Anschluss an die "Jugend unseres Mutterlandes" fänden und sich nicht mehr allein und eingesperrt fühlten, sondern freier und wichtiger Teil des kollektiven Aufruhrs wären. Dieses Gefühl verlieh ihnen die übermenschliche Kraft, die Qual des Freiheitsentzugs auszuhalten.

Die Gefängniswächter haben das Summen des verbotenen Liedes immer als Akt des Ungehorsams und der Provokation verstanden. Kaum hatten die Frauen mit dem Summen begonnen, stürzte die Gefängnispolizei in die Abteilung und belohnte die Sängerinnen mit Knüppelschlägen. Ich hatte fast immer meine Sehnsüchte unter Kontrolle: Im kleinen und öden Hof des Knasts habe ich viel Sport getrieben oder in Gedanken Geschichten geschrieben. So blieb ich oft von den Knüppelschlägen verschont.

Mir war auch vollkommen klar, dass alle "roten Tulpen" verwelkt waren und das Opfer der Widerständler bei der Jungpersischen Revolution zu nichts geführt hat. Die absolutistische Monarchie wurde zwar abgelöst, es gab auch unter dem Schah-Regime ein von seiner Majestät und ein vom Volk gewähltes Parlament. Faktisch herrschte aber die despotische Pahlavi-Dynastie. Von Demokratie, Freiheit und einer Zivilgesellschaft "nach westlichem Muster" gab es keine Spur. Dass ich als junge Schriftstellerin im Gefängnis saß, weil ich eine kritische Erzählung veröffentlicht hatte, war der beste Beweis.

Während der so genannten "Islamischen Revolution Irans" im Jahre 1979 wurde das Lied der "Roten Tulpen" wieder laut gesungen. Diesmal gegen den Despotismus des Pahlavi-Regimes. Wieder begleitete ich den Chor aus Millionen Stimmen nicht. Nicht weil die Soldaten der Schah-Armee mit Schusswaffen ausgerüstet waren, oder weil die Gefängniswächter mit Knüppeln schlugen. Der eigentliche Grund war, dass diese Auflehnung keine konkreten programmatischen Ziele hatte. Alles zielte ausschließlich auf ein Motto ab: "Der Schah muss weg!" Und danach?

Wenn man bei den Demonstrationen und Kundgebungen, die Tag und Nacht anhielten, die Frage stellte und mit den anderen Demonstranten ernsthaft diskutieren wollte, tauchte immer eine Gruppe bärtiger Männer auf, die den Diskutanten die geballten Fäuste vor die Nase hielten und brüllten: "Diskutiert wird nach dem Tod des Schahs." Als der Schah "weg" war, verwandelte sich der Slogan in: "Jetzt zählt nur noch die Partei Gottes - Hisbollah"! Sie hatten das Sagen. Es war zu spät, über das "Danach" zu diskutieren.

Auch mir fehlte die Zeit dafür. Denn ich war, wie die meisten linksorientierten Intellektuellen, damit beschäftigt, die unzähligen roten Tulpen zu pflücken, mit denen wir das "Neue Haus der Republik Iran" schmücken wollten.

In den Leichenhallen

In diesem historischen Moment bestimmte Revolutionsführer Ayatollah Chomeini die künftige Staatsform des Landes. Er führte die Islamische Republik ein, einen theokratischen Staat, wie ihn sein Vorbild, Scheich Fazlollah Nuri propagierte. Seine radikalislamischen, fundamentalistischen Thesen sollten die Grundlage des politischen Systems im Iran bilden.

Velayat-e Faqih (Herrschaft des Rechtsgelehrten) und der Expertenrat sind die wichtigsten Säulen des politischen Apparats. Das letztere Organ überprüft sämtliche Beschlüsse des Parlaments innerhalb von zehn Tagen auf ihre Übereinstimmung mit den Prinzipien des Islam. Als Zeichen der Verbundenheit rehabilitierte und würdigte Chomeini Scheich Nuri als Märtyrer.

Im heutigen Iran ist Ayatollah Chamenei der geistliche Führer (Vali Faqih), und der frühere Staatschef Haschemi Rafsandschani ist der Vorsitzende des Expertenrats. Weder sang ersterer das Aref-Lied als er beim Freitagsgebet vergangene Woche den Sieg von Präsident Ahmadinedschad anerkannte, noch tat dies letzterer - als Anführer der Opposition innerhalb der Geistlichkeit.

Zwar forderte er, dass das Misstrauen vieler Iraner gegen die Staatsführung wegen der manipulierten Präsidentschaftswahlen ernst genommen, Pressefreiheit eingeführt und alle Gefangenen der vergangenen Wochen freigelassen werden. Doch Rafsandschani hat kein Wort über die Ermordeten verloren. Er hatte auch nicht erwähnt, dass die sterblichen Überreste der Umgekommenen wochenlang in Leichenhallen aufbewahrt wurden, ohne dass ihre Familien davon in Kenntnis gesetzt wurden, wie es mit der blutigen Leiche des 19-jährigen Sohrab Erabi geschah. Den Angehörigen der Ermordeten, die mit schwerem Herzen die ganze Zeit auf der Suche nach ihren Kindern zwischen Gefängnissen und Krankenhäusern pendelten, wurde sogar verboten, Trauerfeiern abzuhalten. Sie durften nicht einmal verbreiten, dass ihre Kinder bei den friedlichen Demonstrationen nach den Wahlen erschossen wurden.

Sowohl Chamenei als auch Rafsandschani haben dieses Verbrechen verschwiegen. Denn in dem heftigen Streit, der jetzt im Iran tobt, geht es nicht darum, das verloren gegangene Vertrauen zwischen dem Volk und dem Gottesstaat wieder aufzubauen. Es geht um einen Machtkampf zwischen den unterschiedlichen Flügeln der islamischen Regierung. Die Menschen seien "Unkraut", sagte der amtierende Präsident Ahmadinedschad. Mindestens seit 100 Jahren ist aber offensichtlich, dass sie die "Jugend unseres Mutterlandes" sind und in ihrem Blut die roten Tulpen blühen.

Es ist höchste Zeit, das Aref-Lied mitzusingen, besonders weil die pfiffigen Demonstranten ihm kürzlich einen ironischen Touch verliehen haben: "Aus dem Blut der Jugend unseres Mutterlandes blühen die roten Tulpen. Die Demokratie ist auf der Flucht, wer hat sie gesehen?"

Die Autorin und freie Journalistin Fahimeh Farsaie wurde 1952 in Teheran geboren und lebt heute in Köln. Sie war bereits unter dem Schah-Regime 18 Monate in Haft und wurde auch nach der iranischen Revolution unter der Khomeini-Herrschaft verfolgt. 1983 verließ sie ihr Heimatland. Von ihr erschienen die Romane und Erzählungen: Die gläserne Heimat (1989), Vergiftete Zeit (1991), Flucht und andere Erzählungen (1994), Hüte dich vor den Männern, mein Sohn (1998) und Eines Dienstags beschloss meine Mutter, Deutsche zu werden (2006).

 

Quelle: der FREITAG vom 23.07.2009. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

23. Juli 2009

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