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NS-Kriegsverbrecher: Schuld ohne Sühne

Der frühere KZ-Aufseher John Demjanjuk hat vor Gericht wieder eine Niederlage erlitten. Zur skandalösen Verschleppung seiner Auslieferung ein Kommentar von Rudolf Walther

 

Von Rudolf Walther

Im Kampf gegen seine Ausweisung aus den USA nach Deutschland hat der frühere KZ-Aufseher Demjanjuk vor Gericht erneut eine Niederlage erlitten. Ein Berufungsgericht in Cincinnati im Bundesstaat Ohio wies gestern seinen Antrag ab, das Ausweisungsverfahren zu stoppen, und machte damit den Weg für eine Überstellung Demjanjuks nach Deutschland frei. Dessen Anwälte hatten geltend gemacht, dass der Transport des 89-Jährigen nach Deutschland und ein Strafprozess angesichts des Gesundheitszustands ihres Mandanten der Folter gleichkäme und deswegen illegal wäre. Nun erwägen die Verteidiger den Weg zum Obersten Gericht in Washington.

In die Debatte um die Auslieferung des mutmaßlichen Massenmörders John Demjanjuk mischen sich bedenkliche Untertöne. Der 89 Jahre alte, kranke Mann, heißt es, verdiene eher Mitleid als einen langen Prozess, bei dem nach über 60 Jahren ohnehin nichts herauskommen könne. Statt Demjanjuk mit juristischem Gezerre zu überziehen, solle man den Unbelehrbaren in Ruhe sterben lassen.

Diese moralisierenden Phrasen gehen - wie die meist trüben Motive, auf denen sie beruhen - an der Sache vorbei. Der Rechtsstaat garantiert jedem, auch dem schwer belasteten Demjanjuk, einen fairen Prozess, wenn er verhandlungsfähig ist, und Haftverschonung, wenn er nicht haftfähig ist. Zu prüfen haben das unabhängige Experten, die Regeln sind klar. Es gibt weder Spielraum für juristische Deals - denn Mord verjährt nicht - noch Hintertüren für moralisch drapierte Rücksichten.

Ein vernünftig begründbarer Zweck einer allfälligen Haftstrafe für den 89-jährigen gebürtigen Ukrainer, der den Deutschen im KZ als Aufseher gedient haben soll, ist nicht ersichtlich. In diesem Fall kann es aus einsichtigen Gründen nicht um Resozialisation, Prävention oder Sühne gehen. Dafür ist es zu spät. Keinesfalls zu spät ist es freilich für ein Urteil und den damit verbundenen Schuldspruch, um den Opfern wenigstens symbolisch und spät Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Im Gedenken an Millionen ermordeter Juden muss der Prozess geführt werden. Es handelt sich im Übrigen um ein Verfahren, das auch die deutsche Justiz buchstäblich verdient. Sie ist im Bunde mit der Politik dafür verantwortlich, dass Demjanjuk erst jetzt angeklagt wird und viele Anklagen überhaupt nie erhoben worden sind. Demjanjuk lebte bis 1952 unbehelligt in der Bundesrepublik Deutschland und emigrierte dann in die USA. Die Versäumnisse von Politik und Justiz nach 1945 sind enorm, um nicht zu sagen skandalös.

So verjährten am 8. Mai 1960 Totschlagsdelikte, obwohl die SPD einen Vorstoß zur Verlängerung der Verjährungsfrist unternahm. Die Union, die zu diesem Zeitpunkt allein regierte, wollte einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen. 1965 drohte auch Mord zu verjähren. Gegen den Willen des Kanzlers Erhard kam ein fauler Kompromiss zustande. Die Verjährungsfrist für Mord wurde mit dem "Gesetz über die Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen" um fünf Jahre verlängert, was damals 52 Prozent der Bundesbürger für richtig hielten. Vier Jahre später, am 26. September 1969, stimmten zwei Drittel des Bundestages einer Fristverlängerung um weitere fünf Jahre zu. Beschämend genug, erst am 3. Juli 1979 votierte eine knappe Parlamentsmehrheit von 255 gegen 222 Stimmen der Aufhebung der Verjährung für Mord zu. Wer sich jetzt selbstzufrieden zurücklehnen möchte, muss daran erinnert werden, dass 1979 der gröbste Skandal schon elf Jahre zurück lag. Mit einem im Schweinsgalopp durchs Parlament geschleusten "Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten" (1.10.1968) wurde - raffiniert versteckt im Kleingedruckten - eine Bestimmung des Strafgesetzbuches so geändert, dass Beihilfe zum Mord doch schon seit dem 1. Januar 1965 verjährt war. Über Nacht mussten zahlreiche Verfahren gegen "Schreibtischtäter", darunter so prominente wie Werner Best und der FDP-Politiker Ernst Achenbach - eingestellt werden. Weitere wurden gar nicht erst eröffnet, die Taten tausender mörderischer Gehilfen galten als verjährt! Diese kalte Amnestie gelang, weil die überlebenden Technokraten aus dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) und anderen Behörden im Bonner Justizministerium Komplizen besaßen, denen es gelang, die SPD-Minister Gustav Heinemann und Horst Ehmke zu täuschen.

Der Prozess gegen Demjanjuk ist nötig, weil mit jedem Verfahren gegen NS-Verbrecher Justiz und Politik, aber auch die bundesdeutsche Gesellschaft an die unsäglichen Verjährungsdebatten erinnert werden. Es ist deshalb nur eine geschmacklose Unterstellung, wenn der Publizist Henryk M. Broder spekuliert: Dass die Justiz den Holocaust mit dem Demjanjuk-Prozess noch einmal als Primärereignis dokumentieren wolle, habe wohl auch damit zu tun, "dass sie dem populären Shoa-Business den Rang ablaufen möchte".

Die ganze bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte bis 1968 war gekennzeichnet vom Wunsch nach Normalisierung. Exemplarisch dafür ist Franz-Josef Strauß’ Behauptung, SS-Leute seien "Soldaten wie andere auch" (1956). Von den Vertriebenenverbänden bis in die Union und vorzugsweise die FDP hinein begann früh die frivole Aufrechnung von nationalsozialistischen Verbrechen gegen Verbrechen, die an Deutschen im Krieg und danach begangen worden waren. Der Philosoph Hermann Lübbe begrüßte 50 Jahre nach der Übergabe der Macht an Hitler "das Beschweigen der Vergangenheit" und plädierte für "moralische und politische Normalität" als "überlebensnotwendig". Noch im Wahlkampf 1986 profilierte sich Strauß mit der Aussage, "es ist höchste Zeit, dass wir aus dem Schatten des Dritten Reiches und aus dem Dunstkreis Adolf Hitlers heraustreten und wieder eine normale Nation werden." Es sei dahingestellt, ob es überhaupt "normale Nationen" gibt. Sicher hat jede eine Geschichte. Und der muss sie sich stellen.

Quelle: der FREITAG vom 02.05.2009. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Rudolf Walther und des Verlags.

Hintergrund

Die zehn meist gesuchten Nazi-Kriegsverbrecher

  1. Ivan (John) Demjanjuk - Die Münchner Staatsanwaltschaft hat einen Haftbefehl gegen den 89 Jahre alten gebürtigen Ukrainer erwirkt. Er soll als Aufseher im NS-Vernichtungslager Sobibor im besetzten Polen an der Ermordung von mindestens 29 000 Juden beteiligt sein. Seine Abschiebung aus den USA nach Deutschland wurde im letzten Moment durch ein Berufungsgericht im US-Bundesstaat Ohio gestoppt.
  2. Sandor Kepiro (Ungarn) - Der ungarische Polizeioffizier wird verdächtigt, an der Ermordung von mehr als 1200 Zivilisten im serbischen Novi Sad teilgenommen zu haben.
  3. Milivoj Asner (Österreich) - Der ehemalige Polizeichef in Kroatien soll aktiv an der Verfolgung und Deportation hunderter Serben, Juden sowie Sinti und Roma beteiligt gewesen sein.
  4. Soeren Kam (Deutschland) - Ehemaliges SS-Mitglied, wird beschuldigt, für den Tod eines dänischen Journalisten verantwortlich zu sein. Kam soll das Einwohnerverzeichnis der jüdischen Gemeinde in Dänemark gestohlen und damit die Deportation von dänischen Juden in deutsche Konzentrationslager ermöglicht haben.
  5. Klaas Carl Faber (Deutschland) - In den Niederlanden für den Tod von Gefangenen im Transitlager Westerbork und dem Gefängnis von Groningen 1944 zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde 1948 in eine lebenslange Haftstrafe umgewandet. 1952 Flucht aus dem Gefängnis.
  6. Heinrich Boere (Deutschland) - Mitglied des SS-Kommandos "Silbertanne". Weges des Mordes an drei niederländischen Zivilisten 1949 in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Im April 2008 in Dortmund angeklagt.
  7. Karoly (Charles) Zentai (Australien) - Nahm 1944 an der Verfolgung und dem Mord an Juden in Budapest teil. Ungarn hat die Auslieferung beantragt.
  8. Michail Gorschkow (Estland) - Laut Wiesenthal-Zentrum am Mord an Juden in Weißrussland beteiligt.
  9. Algimantas Dailide (Deutschland) - Nahm Juden fest, die später von den Nationalsozialisten und litauischen Kollaboratoren getötet wurden. Von den USA ausgeliefert und in Litauen verurteilt. Musste aber seine Haftstrafe nicht antreten.
  10. Harry Mannil (Venezuela) - Nahm Juden fest, die danach von Nationalsozialisten und estnischen Kollaborateuren ermordet wurden. Die Staatsanwaltschaft in Estland stellte Ermittlungen gegen ihn wegen Mangels an Beweisen ein.

Quelle: Simon-Wiesenthal-Zentrum

Veröffentlicht am

03. Mai 2009

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