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Nato-Gipfel: Jubiläum mit ungeladenen Gästen

Ausnahmezustand: Die Nato feiert sich am Rhein. Und wieder einmal übernimmt die Polizei die Herrschaft über Städte und Dörfer der Umgebung

 

Von Marina Achenbach

Wieder ist eine Stadt in den Ausnahmezustand versetzt, nur weil ein oder zwei Dutzend Regierungschefs sie für ihren "Gipfel" ausgewählt haben. Seit Wochen ist es Strasbourg in Frankreich und die deutsche Stadt Kehl auf der anderen Seite des Rheins. Den Anlass bietet diesmal die NATO, die dort am 3. und 4. April ihr 60-jähriges Jubiläum begehen wird. Das Ereignis zieht auch wieder tausende Kritiker zu dem Ort. So wie sie zum G8-Gipfel nach Neapel zogen, vor zwei Jahren nach Heiligendamm und Rostock und im vergangenen Sommer nach Japan in die Stadt Sapporo. Sie üben den Balanceakt zwischen Provokation und gewaltfreiem Widerstand ein. Es scheint, dass sie darin immer besser werden, man darf sich ruhig wundern über die Intelligenz, Phantasie und Energie, die in diesen Protesten sichtbar werden. So nutzen sie die politischen Großereignisse wegen des ungeheuren Aufgebots an Medien, von denen sie sonst ausgeschlossen bleiben. Was bei diesen Anlässen von der Polizei und Politik im Verein mit Geheimdiensten und Militär veranstaltet wird, hat in der Übertreibung geradezu etwas Komisches. Aber es zerfrisst zivilisatorische Errungenschaften unserer Gesellschaft.

Bewegung verboten

Im Gemeinderat Kehl wurde kürzlich ein "Sonderzonenkonzept" für die Zeit des Gipfels bekannt gegeben: Einwohner innerhalb dieser Zonen dürfen ihre Häuser nur nach vorheriger Unterrichtung der Polizei verlassen. Besuch muss angemeldet werden. In einer inneren "Roten Zone" ist sämtliche Bewegung in den zwei Tagen der NATO-Feierlichkeiten quasi verboten. Sogenannte Linksextreme müssen sich bei der Polizei in ihren Heimatorten melden, sonst drohen ihnen Strafen.

Im Internet gehen Informationen aus Strasbourg um, sie wecken Rostock-Erinnerungen vom Juni 2007. Dort begann schon drei Jahre vor dem Ereignis die Besondere Aufbauorganisation (BAO) der Polizei, Kavala genannt, Sicherheitsmethoden der vorangegangenen Gipfel in Italien, England und Norwegen zu studieren. Dann bereisten Polizeibeamte alle Dörfchen im weiten Kreis um Heiligendamm und bereiteten die Einwohner auf die Ankunft der "Chaoten" vor. Wege-, Strandverbote und Kontrollpunkte, Unterbrechung des Urlauberverkehrs, die Sperrzone auf der Ostsee für alle Boote - all das wurde in die besorgten Gemüter der Mecklenburger eingepflanzt. Ein Flugblatt der Polizei machte die Geschäftsleute kirre: "Sichern Sie Ihre Warenauslagen. Verzichten Sie auf Präsentation hochwertiger Waren im Schaufenster."

Die Bundeswehr war in Bereitschaft und mit Tornado-Aufklärung präsent, Polizisten aus dem ganzen Bundesgebiet zusammengezogen, improvisierte Gefängnisse in Form von Käfigen wurden in Hallen installiert, Hausdurchsuchungen als Großaktion - das sind nur die auffälligsten Maßnahmen, die zwanghafte Sicherheitsvorstellungen verraten. Vielleicht peitschten sich die Beamten gegenseitig hoch, voller Angst, sie könnten etwas übersehen und für eine Panne geradestehen müssen? Man könnte bei dem Eifer die übliche Angst um den Arbeitsplatz vermuten. Wenn man nicht auf den Gedanken käme, dass die Politik dieses Klima der Rundum-Verdächtigung, der Kriminalisierung von Widerstand systematisch erzeugen lässt. Denn damit kann sie umgehen, leichter als mit einer grundsätzlichen Kritik. Und das wiederholt sich nun in allen möglichen Ländern der globalisierten Welt.

Gewöhnt sich die Öffentlichkeit daran? Die Stadtverwaltungen von Kehl und Strasbourg halten die Vertreter des Protestbündnisses Resistance des deux rives, das aus unzähligen Gruppen besteht, in den Verhandlungen um einen geeigneten Platz für ein Zelt-Camp bis zum letzten Moment hin. Das Bündnis verfügt nur über ein einziges, aber letztlich wirkungsvolles Druckmittel gegenüber den Bürgermeistern: Wenn Ihr kein Camp zulasst, werden die Leute "wild" ihre Zelte aufschlagen. "Wer Gipfel und Polizei beherbergen kann, muss auch eine angemessene Fläche für den Protest zur Verfügung stellen." Und zwar mit Wasser und Strom. So heißt es ohne Minderwertigkeitskomplex in einer Pressemeldung. Eine Woche vor dem Ereignis einigt man sich, der Aufbau des "Village 2009" darf beginnen. Um die Route für die Hauptdemonstration am 4. April wird wohl bis zum letzten Moment gestritten. Das gemeinsame, nicht zimperliche Motto ist diesmal: Nato-Gipfel versenken.

Militärische Aufklärung

Die Sonderabteilung der Polizei BAO Atlantik verkündigt regelmäßig geschätzte Zahlen von anrückenden "gewaltbereiten Globalisierungskritikern". Die Bundeswehr bringt Luftüberwachung und -abwehr in Stellung und stellt Radar, militärische Aufklärung, Personentransport, Hubschrauberlandeplätzen zur Verfügung. Die Schengen-Regeln sind außer Kraft gesetzt, an den Grenzen, auch an der Brücke zwischen Kehl und Strasbourg, werden Ausweise kontrolliert. Sicher dienen dabei Schwarze Listen, die seit Jahren angelegt und international weiter gereicht werden. Vermutlich stehen auf ihnen auch die Namen der 1.700 Verhafteten von Rostock, die fast alle ohne irgendeinen amtlichen Vorwurf wieder entlassen werden mussten, nachdem sie "erkennungsdienstlich behandelt" waren. Ein neues Gesetz erlässt ein "Militanzverbot": gegen die einheitliche schwarze Kleidung, in der sich die Protestler gern erkennen. Sieben Anwerbeversuche des Verfassungsschutzes wurden in der letzten Woche in den Internetnachrichten veröffentlicht. Wahrscheinlich ist es schon gelungen, V-Leute unter die Protestler zu schleusen. Dass mehrfach provokante Gewaltakte von Polizei-Spitzeln verübt wurden, ist erwiesen.

Aber die Protestbündnisse erwerben Kompetenz beim Verhandeln, beim Umgang mit dem Internet für Informationen, worin sie äußerst präzise sind. Das Geschick beim Organisieren von Camps und Küchen, Konzerten, Foren und Vorlesungen wächst. Sie üben sich im "herrschaftsfreien Leben" - in Selbstverwaltung, ohne Hierarchien. Manche Teilnehmer zieht das mehr an als das politische Ziel. Die Gruppen trainieren, Kompromisse zu schließen und darin, die eigenen Identitäten zu retten.

Und was bleibt den Zuschauern von fern? Sie können einen kühlen Kopf beim Urteilen bewahren und ihr Interesse an der vehementen Kritik lebendig halten. Sie können sich der Kriminalisierung des Protestes verweigern und können die Angstbilder, mit denen sie eingedeckt werden, den Rhein runter schwimmen lassen, bis sie sich in offenen Gewässern verlieren.

Quelle: der FREITAG vom 01.04.2009. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Informationen zu Nato-Protest und Ostermarsch in Baden-Baden, Kehl und Strasbourg:

Veröffentlicht am

01. April 2009

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