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Winnenden: Industrialisierung des Mitleids

Was sagt es über den Zustand einer Gesellschaft, wenn sie bezahlte Experten benötigt, um Kinder zu trösten? Über die "fürsorgliche Belagerung" durch Trauma-Psychologen

Von Götz Eisenberg

In Winnenden wurden nach dem Amoklauf des Tim K. rund 100 Psychologen aus ganz Deutschland zusammengezogen, um Menschen Beistand zu leisten, die im Jargon des psychosozialen Helfersystems "Betroffene" heißen.

Die ARD präsentierte uns in einer Nachrichtensendung ein vielleicht 12-jähriges Mädchen, dessen Freundin sich unter den Opfern befand. Ob ihr denn jemand schon geholfen habe, wurde sie von der Reporterin gefragt. Das Kind berichtete unter Tränen, dass es gerade einer Psychologin begegnet sei, die ihr geraten habe, sich mit einer Freundin zu treffen und sich ein "bisschen abzulenken". Andere Jugendliche erhielten die Expertenempfehlung, jetzt "ganz fest zusammenzuhalten".

Als vor einiger Zeit an den ersten Amoklauf in einer Schule in Köln-Volkhoven 1964 erinnert wurde, wo der 42-jährige Frührentner Walter Seifert mit einer zum Flammenwerfer umgebauten Unkrautspritze auf das Gelände seiner ehemaligen Volksschule eindrang und acht Kinder und zwei Lehrerinnen tötete und zahlreiche andere schwer verletzte, fragte man überlebende Opfer und Zeugen, wie sie denn damals betreut worden seien.

Die Individualisierung zerstört das "soziale Immunsystem"

"Gar nicht", war die verblüffend kurze und erstaunte Antwort. Man habe das Erlebte entweder selbst oder gewissermaßen beiläufig im Rahmen der Familien, der Nachbarschaft und der Kirchengemeinde so weit bewältigt, dass ein wie immer reduziertes Weiterleben möglich wurde. Natürlich habe das Ereignis teilweise bis heute fortwirkende Spuren in den Lebensläufen hinterlassen.

Offensichtlich existierte damals noch etwas, was man als "soziales Immunsystem" bezeichnen kann. Die Einzelnen waren in soziale Gemeinschaften auf eine Weise eingebettet, dass auch im Falle größter zwischenmenschlicher Katastrophen niemand aus der Welt zu fallen drohte. Die Menschen interessierten sich noch füreinander und kümmerten sich umeinander, wenn jemand in eine Notlage geriet. Hier müssen im Laufe der seither vergangenen Jahrzehnte gravierende Veränderungen vor sich gegangen sein.

Die Tendenz zur Individualisierung hat die letzten Reste von Gemeinschaftlichkeit offensichtlich geschleift und das "soziale Immunsystem" zerstört. Mitgefühl und gegenseitige Nothilfe nehmen Warenform an und werden mehr und mehr in bezahlte Dienstleistungen verwandelt.

Was sagt es uns über den Zustand einer Gesellschaft, wenn sie bezahlte Experten benötigt, um Kinder zu trösten? Wie wir unserem geschwächten körperlichen Immunsystem mit allerlei Nahrungsergänzungsmitteln auf die Sprünge helfen, so versuchen wir das vom Kollaps bedrohte "soziale Immunsystem" mit Hilfe von synthetisch nachproduziertem Mitgefühl und käuflicher Nothilfe aufzupäppeln.

Ein Haus stürzt ein, ein Tunnel brennt, ein Zug verunglückt, eine Lawine geht nieder, ein Flugzeug stürzt ab und prompt werden wir am Ende der Nachricht mit dem Hinweis darauf beruhigt, dass Psychologen bereits vor Ort seien und die Betroffenen betreuten. "Ja, dann ist ja alles in Ordnung", sagen wir uns und lehnen uns im Sessel bequem zurück.

Ordnungsgemäße Traumabewältigung

Wer nach einem erlittenen Schock den Weg zurück in die Normalität so ohne Weiteres nicht findet und über die durchschnittliche Halbwertszeit der Betroffenheit hinaus Anzeichen leib-seelischer Erschütterung zeigt, gerät seit den frühen achtziger Jahren unter die Deutungshoheit von Psychologie und Psychiatrie.

Das nachhaltige Leiden an schockartigen Erfahrungen wird seither in den psychiatrischen Diagnosemanualen als "posttraumatische Belastungsstörung" geführt, die sich in bestimmten Symptomen manifestiert, die man an Opfern von Flugzeugabstürzen, Eisenbahn- und Grubenunglücken und Verbrechen gleichermaßen beobachtet hat. Seit man um die möglichen Spätfolgen traumatischer Erfahrungen weiß, wartet man nicht mehr ab, bis sie sich artikulieren, sondern fliegt an den jeweiligen Ort des Unglücks oder der Katastrophe sofort jede Menge Psychologen und Trauma-Experten ein, die die "Betroffenen" vorsorglich in ihre Obhut nehmen und ihnen zeigen, wie man ein Trauma ordnungsgemäß bewältigt.

In den Wochen nach dem Schulmassaker befanden sich ungefähr 50 Psychologen in Erfurt, um Schüler, Lehrer und Angehörige zu betreuen. Nach der Wiederaufnahme des Unterrichts standen wöchentlich zwei Stunden "Traumabewältigung" auf dem Lehrplan. Eine Schülerin berichtet, ihre Psychologin habe die Stunde mit der Aufforderung begonnen, dass alle ihre Gefühle in einen mitgebrachten Karton hineintun sollten. Die Schüler wurden gedrängt, Fragebögen ausfüllen, damit die Psychologen herausfinden konnten, wer als "hochtraumatisiert" einzustufen war und infolgedessen eine weitergehende Einzeltherapie benötigte. Die Psychologen standen phasenweise Schlange, um endlich Kontakt zu einem "Betroffenen" zu bekommen.

Angesichts einer derart massiven Präsenz von Experten, die vorgeben zu wissen, wie man ein solches Ereignis verarbeitet, und im Falle von Verhaltensauffälligkeiten psychotherapeutische Zuwendung anordnen, nimmt es nicht wunder, dass es auch kritische Stimmen und fast so etwas wie antikolonialen Widerstand gegen die Invasion der Psychologen gab und gibt. "Wir sind doch nicht psychisch kaputt, wir sind einfach nur traurig", wehrte sich ein 16jähriger Schüler.

Aufdringliche Psychologen

Eine Schülerin äußerte gar, das Schrecklichste neben der Journalisten-Plage seien eigentlich die Psychologen gewesen, die einem überall aufgelauert und mit raffinierten Tricks zu verhindern versucht hätten, dass jemand mit Freunden und Angehörigen oder gar mit sich selbst allein war. Wer sich beratungs- und therapieresistent verhalte, riskiere schlimme und schlimmste Spätfolgen, so sei zu hören gewesen, nur fachliche Anleitung garantiere, dass man einigermaßen glimpflich davonkomme.

Aufdringliche Psychoattacken dieser Art verhindern, dass die Opfer von Gewalterfahrungen zunächst einmal auf ihre eigenen Bewältigungsmechanismen und die ihrer näheren Umgebung zurückgreifen, und zielen darauf ab, mäandernde psychische Prozesse unter Kontrolle zu bringen und zu begradigen. Manche Kritiker behaupten, dass Psychologen durch ihren voreiligen Zugriff und imperialen Gestus häufig die Störung erst schaffen, die zu behandeln sie vorgeben.

Experten, ursprünglich auf den Plan gerufen, um gesellschaftliche Mangelkrankheiten zu kompensieren, tragen, wenn sie sich als Berufszweig einmal etabliert haben, dazu bei, das "soziale Immunsystem" durch Enteignung und Ausdünnung von Kompetenzen weiter zu schwächen. Irgendwann sagen sich die Leute: "Bevor ich beim Helfen und Trost spenden irgendetwas falsch mache, überlasse ich es lieber den Fachleuten und halte mich raus."

Wir sollen uns daran gewöhnen, unsere unwägbaren Gefühlszustände mittels Einnahme von psychoaktiven Substanzen oder Inanspruchnahme von Beratung zu regulieren. An die Stelle autonomer Ich-Leistungen tritt der Gang zu Arzt und Apotheker oder zur nächsten psychosozialen Beratungsstelle. Das als Kleinstunternehmen konzipierte Subjekt soll ein "Selbstmanagement" erlernen, dem sein Selbst mehr und mehr abhanden kommt.

Amok-Frühwarnsysteme

In den letzten Tagen ist noch eine andere Variante psychologischen "Trittbrettfahrertums" medial groß in Erscheinung getreten. "Kriminalpsychologen" haben die Prävention als lukrativen Forschungs- und Geschäftszweig entdeckt und warten mit Amok-Frühwarnsystemen auf. Sie suggerieren, durch Einführung eines "Bedrohungsmanagements" und von durch sie ausgebildeten "Krisenteams" an Schulen ließe sich die Zahl der Schulschießereien zukünftig drastisch reduzieren und das "Problem in den Griff" bekommen.

Wir haben es hier mit einem nach innen gewendeten psychotechnischen Machbarkeitswahn zu tun, der die innere menschliche Natur nach dem Muster der äußeren unter Kontrolle bringen zu können glaubt. Die aufgelisteten "Warnsignale" geben sich immer erst als solche zu erkennen, wenn die Katastrophe bereits eingetreten ist.

A posteriori scheint alles einer Logik zu folgen, die schon die ganze Zeit über auf eine aggressive Eruption zusteuerte. Vorher sind die so genannten Warnsignale meist nur verquere jugendliche Lebensäußerungen und Tagträume, die sich irgendwann auswachsen und von selbst erledigen.

Würde man auf diese in bürokratischer Routine mit Kontrollmaßnahmen oder psychologisch-sozialarbeiterischer Zwangszuwendung reagieren, entstünde an Schulen eine Fahndungsmentalität und ein Klima universalen Verdachts, die gerade jenes Frühwarnsystem zu zerstören drohten, über das halbwegs lebendige Schulgemeinschaften als Gratisbeigabe verfügen und das von emotionalen Bindungen und wechselseitigem Vertrauen gespeist wird.

Götz Eisenberg, Jahrgang 1951, arbeitet als Gefängnispsychologe in der JVA Butzbach. Zuletzt erschien von ihm Gewalt, die aus der Kälte kommt. Amok, Pogrom, Populismus im Psychosozial-Verlag (2002) 

Quelle: der FREITAG vom 19.03.2009. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

20. März 2009

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