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Martin Niemöller

Vor 25 Jahren, am 6. März 1984, starb Martin Niemöller. Er war U-Bootkommandant im 1. Weltkrieg, Pfarrer, führender Vertreter der Bekennenden Kirche, persönlicher Gefangener Adolf Hitlers, Kirchenpräsident sowie Präsident im Weltrat der Kirchen und ein leidenschaftlicher Friedensaktivist. Der am 14. Januar 1892 geborene Martin Niemöller führte ein Leben im Widerstand und mit Widersprüchen. Anlässlich seines 25. Todestages wollen wir mit mehreren Texten auf diese bedeutsame Persönlichkeit hinweisen.

Im folgenden Beitrag erinnerte Wilhelm Niemöller anlässlich des 90. Geburtstags von Martin Niemöller am 14. Januar 1982 an den ungewöhnlichen Lebensweg seines älteren Bruders.

Von Wilhelm Niemöller

Nun wird - will’s Gott - Martin Niemöller am 14. Januar 1982 sein neunzigstes Lebensjahr vollenden. Was soll’s? Wir Westfalen haben wie andere Stämme unsere Eigenarten. Wir reden nicht lange daher, geschweige denn "drum herum". Das gilt besonders dort, wo es um persönliche Dinge geht, um Regungen und Bewegungen des Herzens. Unsere Dichterin Annette von Droste, auf die wir ein wenig stolz sind, konnte wohl sagen: "Wo man am meisten fühlt, weiß man nichtviel zu sagen." So kann es denn auch in diesem Geburtstagswort nicht um eine Laudatio gehen. Schönfärberei und "Spiegelfechterei" sind und wirken unangenehm. Wenn hier oder da aber so etwas wie eine Liebeserklärung hindurchtönt, so gehört die eben dazu. Schließlich sind wir nun seit 84 Jahren verbunden. Freundschaft und Bruderschaft waren echt und haben sich bewährt, auch und gerade dann, wenn es etwas mulmig zuging. Und das war etliche Male der Fall.

Höhepunkt - Tiefpunkt - Mittelpunkt

Es würde langweilig wirken, wollte man versuchen, die neunzig Lebensjahre von 1892 bis 1982 nachzuerzählen. Die Quellen sind allerdings ergiebig und zuverlässig, zumal Martin Niemöller seit uralten Zeiten sein Tagebuch geführt hat, sicherlich seit übersechzig Jahren. Leider hat ein Ausleiherden Jahrgang 1937vertrödelt. Dafür aber stehen die Briefe aus der Gefangenschaft von 1937 bis 1945 zur Verfügung, die "Briefe aus der Gefangenschaft Moabit", Frankfurt 1975, die "Briefe aus der Gefangenschaft Sachsenhausen", Bielefeld 1979. Die "Briefe aus der Gefangenschaft Dachhau" sind druckfertig in meinem Besitz.

Nun ist Martin oft aufgefordert worden, seine "Erinnerungen" aufzuschreiben. Einmal hat er einen Ansatz gemacht, als er im Jahre 1934 bedrängt wurde, etwas über seinen Lebensweg "vom U-Boot zur Kanzel" zu berichten. Die Bitten kamen aus der Gemeinde. Der Erfolg war groß, es gab eine Auflage von fast 100 000 Stücken; er wäre größer gewesen, wenn nicht der "sanfte Druck von oben" ein Ende gesetzt hätte. Aber so war das: Goebbels bestimmte für Autoren, Verleger und Leser, was gut und nützlich zu lesen war. Heute sind viele Leutefroh, dass das U-Boot-Buch geschrieben wurde. Der Verfasser war damals jung und jugendlich genug, um unbeschwert und ohne zu viel Reflexion ein Stück Leben zu erzählen.

In der Mitte dieses Lebens, also 1937, hätte er vielleicht anders geschrieben. Da lagen drei Jahre voller Kämpfe hinter ihm, wie er sie nichterwartet hatte. Hitler hatte schon eine Weile regiert, die "herrlichen Zeiten" waren angebrochen, von denen Martin oft recht drastisch in der Öffentlichkeit sagen konnte: "Ein Volk, ein Reich, ein Führer, ein Theater." Ich habe das damals selbst gehört und mich gewundert, dass man erst am 1. Juli 1937 die Verhaftung vollzog: Moabit, Sachsenhausen, Dachau. Acht Jahre weniger neun Tage.

Woher Hitlers unablässiger und maßloser Zorn? Er wird in der Tatsache liegen, dass Martin Niemöller als der Hauptinitiator und Geschäftsführer des Pfarrernotbundes agierte, dem auf die Dauer 3933 aktive Pfarrer angehörten, also nicht viel mehr als ein Fünftel der Pfarrerschaft.

Dazu kamen aber etwa eintausend Emeriten, Hilfsprediger und Kandidaten, so dass man die Wirkungskraft des Notbundes nicht unterschätzen konnte. Das tat sicher auch Hitler nicht, dem es wohl wenig Spaß machte, dass sich die im Ganzen 5226 Glieder zählende Bruderschaftverpflichtet hat, "mein Amt als Diener des Wortes auszurichten allein in der Bindung an die Heilige Schrift und an die Bekenntnisse der Reformation". Mochte Hitler ein derartiger Satz gleichgültig gewesen sein, so konnte er bestimmt nicht übersehen, dass jeder der Notbundbrüder schriftlich niederlegte: "In solcher Verpflichtung bezeuge ich, dass eine Verletzung des Bekenntnisstandes mit der Anwendung des Arierparagraphen im Raum der Kirche geschaffen ist."

Es mag hier eingefügt werden, dass die "Kirchenherren" sich allesamt weigerten, solche Verpflichtungen einzugehen. Das taten nur der westfälische Präses D. Karl Koch, die Generalsuperintendenten Weirich, Dibelius, Kalweit und der schon abgesetzte Landesbischof D. Rendtorff. An die "bekenntnistreuen" Bischöfe und Kirchenbeamten von damals, die zum Arierparagraphen schwiegen, die die Euthanasie passieren ließen, die ihren Jubel über Hitlers Angriffskriege nicht unterdrücken konnten, die dazu aufforderten, die "Pestherde" der Feinde auszurotten, an sie alle werden noch einige Fragen zu richten sein. Der Pfarrernotbund war "ein Häuflein klein". Die Memoirenschreiber von heute wissen nichts von ihm (wie sollten sie auch!), und die spätgeborenen Historiker wissen ebenso wenig von ihm (es steht ja nichts über ihn in den Akten der damaligen "kirchlichen Behörden"). Sie alle kamen ohne "Schuldbekenntnisse" aus, Martin Niemöller und seine Freunde nicht!

Für Hitler war der Arierparagraph beschlossene Sache. Darüber brauchte nicht verhandelt zu werden. Dass aber Martin Niemöller am 25. Januar 1934 bei einer "Kirchenführeraudienz" es wagte, dem "Führer" ins Angesicht zu widersprechen, das wurde ihm nicht vergessen. Alle die "bekenntnistreuen" Bischöfe und Prälaten, die dabei waren, ließen den Dahlemer Pfarrer im Stich; sie unterwarfen sich dem Reichsbischof Ludwig Müller und erklärten öffentlich, dass sie gewillt wären, "die kirchenpolitische Opposition gegen sie (die Maßnahmen und Verordnungen des Reichsbischofs) zu verhindern und mit allen ihnen verfassungsmäßig zustehenden Mitteln die Autorität des Reichsbischofs zu festigen". Der bestgehasste Mann in Deutschland hieß damals Martin Niemöller. Er hat von dieser Judastat der eigenen "Brüder" nicht viel Wesen gemacht. Um so mehr hat er seinen Kurs verfolgt und mit seinen wirklichen Brüdern bis zu seiner "Lahmlegung" gekämpft.

Hitler wirkte weiter, er hasste weiter, er ahnte offenbar nicht, dass er bereits am 1. Juli 1937 den "Höhepunkt" überschritten hatte. Er trieb dem Debakel entgegen. Hauptmann Fritz Wiedemann, sein persönlicher Adjutant, berichtete später, dass Hitler nach der Unterrichtung über den Ausgang des Niemöller-Prozesses vor dem Sondergericht am 7. Februar 1938 ausgerufen hätte: "Der Niemöller kommt nie mehr in Freiheit." Die Bestätigung für Wiedemanns Erinnerung findet sich in dem Buch "Heeresadjutant bei Hitler 1938-1943, Aufzeichnungen des Majors (Gerhard) Engel". Dort steht unter dem 17.1. 1939:

"Himmler war bei F (Führer) und hatte offensichtlich Pfarrer Niemöller in Oranienburg besucht. Erzählte, dass es ihm gut ginge und er Sonderbehandlung habe. Führer wurde äußerst scharf über die Person. Wenn einer Zeit seines Lebensaus der Verwahrung nicht mehr herauskäme, dann sei das dieser Geistliche.

Er sei der typische Geist, der stets verneinte (sic), Oppositioneller aus Prinzip, nicht etwa aus Überzeugung, geschweige denn aus Glauben. Er kenne seine Ergebenheitsbekundungen noch ganz genau. Und was ist daraus geworden? Und nur weil er (Niemöller) nach der Machtübernahme nicht das geworden sei, was er sich erhofft habe. Jetzt hetze er gegen den Staat unter dem Deckmantel von Gottes Wort. Er (der Führer) lasse auch nicht zu, dass er im Lager predige. Niemöller sei der typische Renegat mit dem Fanatismus eines Jesuiten. Er sei eine ausgesprochene Gefahr für die junge Generation. Da könne sich aus alter Marinetreue Raeder (der Großadmiral) noch so sehr für ihn einsetzen, er bliebe hart wie Eisen und würde N. nicht mehr in die Freiheit lassen. Himmler sagte noch, dass man seine Gefolgschaft unter den Pfarrern sehr genau kenne und überwache."

Erst jetzt, da ich diese Dinge niederschreibe, kommt mir zu Bewusstsein, dass ich an jenem 17. Januar 1939 in dem Nachbarzimmer Hitlers in der Reichskanzlei saß und mit Hauptmann Wiedemann über den gefangenen Brudersprach. Der Empfang fing eisig an und wurde immer erfreulicher. Schließlich drehte sich der Adjutant auf seinem Sessel um, zeigte auf die Wand hinter sich und sagte erregt: "Da sitzt einer, der ist völlig unzugänglich!" Der Abschied war anders als im Nachbarraum. Wiedemann gab mir die Hand.

Von Hitler-Gruß und erhobener Rechten war nicht die Rede. Ich wurde entlassen mit den Worten: "Wenn Sie Ihren Brudersehen, dann grüßen Sie ihn von mir!" Es gibt Ereignisse, die aus dem Märchenbuch zu stammen scheinen. In Wirklichkeit sind sie "hintergründig", und man nennt sie Wunder. In Martin Niemöllers Leben gab es viele Höhepunkte und Tiefpunkte. Es fehlte niemals an dem Mittelpunkt, von dem wir auf der Bekenntnissynode in Barmen am 31. Mai 1934 bekannt hatten: "Jesus Christus ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben."

Wie sehr sich doch Diktatoren irren können! Martin Niemöller kam in die Freiheit, als Hitler noch lebte. Am 30. April 1945 steht in Martins Tagebüchlein: "Hauptmann von Alvensleben. Das Militär übernimmt unseren Schutz." So geschah es gegen Mittag in Tirol den vielen "Sippen", die man aus Dachau nach Süden befördert hatte (unter ihnen: Falkenhausen, Schacht, Bonin, Prinz Leopold, Haider, Best, Stevens, Thomas usw.). Die Bewachungsmannschaften trugen den Erschießungsbefehl bei sich. Er wurde nur von Hitler selbst ausgeführt, und zwar am gleichen Tag um 15.30 Uhr in der Reichskanzlei. Er, der Millionen in den Tod geschickt hatte, richtete sich selbst.

Nun wäre es töricht, wenn man versuchen wollte, Hitler als beherrschende Figur jener zwölf Jahre herauszustellen. Da gab es denn noch andere Kräfte und Gestalten. Ich denke an viele Emigranten, die des Dahlemer Pfarrers gedachten und seinen Namen in die Welt trugen. Unter ihnen nenne ich Thomas Mann, der zur Herausgabe der 28 letzten Predigten, die Martin in Dahlem gehalten hatte, ein erstaunlich verständiges und einfühlendes Vorwort schrieb ("God is my Führer", 1941). Ich denke an die vielen Kommissionen aus den bekennenden Gemeinden, die sich aus Bergarbeitern, aus Bauern, aus Pfarrfrauen und anderen Gemeindegliedern zusammensetzten, und die mit ihrer Forderung, Martin freizulassen, nach Berlin vordrangen und dort recht massiv die Justizbehörden, das Innenministerium, die obersten Wehrmachtsbehörden "elendeten". Vielerorts fanden sie freundliche Aufnahme und höflichste Behandlung.

Es geschah also doch etwas! Schade, dass von diesen Dingen der Gefangene nichts ahnte. Aber das musste ihm klar sein, dass man in den Gemeinden an ihn dachte und für ihn betete. Schon früh hatten die bekennenden Gemeinden damit begonnen, für die Verfolgten und Gefangenen im öffentlichen Gottesdienst Fürbitte zu tun. Dann wurde von einer großen Liste vorgelesen, wer sich im KZ befand, wer in Untersuchungshaft, wer in Polizeihaft, wer verurteilt oder ausgewiesen war. Und dann betete die Gemeinde stehend für alle diese Männer und Frauen. Bald kannte sie viele Namen. Seit dem 1. Juli 1937 fehlte niemals Martins Name, und die Gestapo schwieg im Allgemeinen dazu. Diese Sache erschien ihr zu brenzlich. Mit einem zürnenden "lieben Gott" wollte sie denn doch nichts zu tun haben. Die Neutralen mit ihrer ganzen Klerisei und Bischofsherrlichkeit "enthielten sich der Stimme". Und das war übel und ungut! "Das Wort Gottes aber wuchs und mehrte sich."

Das galt auch in der Weite der Ökumene. Ihr Aktivwerden musste mit Beginn des Krieges immer schwächer werden. Aber es bleibt unvergessen, dass unser treuer Vater, D. Heinrich Niemöller, bei seinem Besuch in Sachsenhausen zu seinem Sohn sagen konnte: "Mein lieber Junge, die Batak auf Sumatra und die Eskimo in Nord-Kanada beten für dich!" Der Vater hat die Rettung des Sohnes nicht mehr erlebt. Aber er wusste bis zum letzten Atemzug, dass Jesus der Mittelpunkt war und der Sieger blieb.

Kindheit - Jugendzeit - Mannesjahre

Martin wuchs in Lippstadt auf, wo der Vater Pastor war. Der prägende Einfluss des väterlichen Berufs und die Ellbogenfreiheit, die das Städtchen an der Lippe bot, waren eine glückliche Voraussetzung für eine gute Entwicklung. Vielleicht aber wirkte auf den kleinen Jungen noch mehr, dass sein älterer Bruder Gerhard Heinrich ganz früh starb. Nun war Martin der älteste der folgenden Generation. Das hat dazu beigetragen, dass er in frühen Jahren das Regiment der Geschwister übernahm und sich überall als Verantwortlicher, als Mentor, als Vorbild ansehen konnte. Das Wort der Minus-Helden: "Ich lehne die Verantwortung ab" wird nicht einmal über seine Lippen gekommen sein. Er konnte Befehle verweigern, aber niemals sich drücken. Seine Leistungen? Sie waren in der Schule, dem humanistischen Gymnasium in Elberfeld (ich schäme mich fast zu berichten), immer und auf allen Gebieten die besten. Ob es sich um den Musik-Unterricht handelte oder um die Gesänge des Pindar, ob um die Erforschung der Weltgeschichte oder um Mathematik und Physik, ob um die alten Sprachen oder um den Sportunterricht - er war immer an der Spitze, war der "primus omnium" und machte später bei der Marine und danach bei den theologischen Prüfungen die Fortsetzung. In der Rangliste der Kaiserlichen Marine stand sein Name unter fast 200 Crew-Kameraden an erster Stelle. Ehrgeiz? Nichts lag ihm ferner. Gewiss: er wollte nicht unter der Firma "ferner liefen" eingestuft werden. Er war von früher Jugend her darauf angelegt, den Dingen auf den Grund zu gehen, Unklarheiten zu überwinden, alle Aufgaben zu meistern. Zu Hilfe kam ihm dabei sein überaus gutes Gedächtnis. Typisch dafür war der Ausspruch des Präses D. Karl Koch: "Bruder Niemöller, Sie haben ein Gedächtnis wie eine Kneifzange." Er hätte auch sagen können: "Sie haben eine tolle Geistesgegenwart!" Die allerdings war später oft vonnöten.

Als er auf SM-Linienschiff "Thüringen" als Torpedo-Offizier Dienst tat (im Nebenberuf als Sportlehrer für die Fähnriche), sagte der Kommandant Kapitän z. S. Michaelis von ihm: "Der Leutnant Niemöller ist mein frechster Leutnant - aber er ist auch der beste." Wie sich die "Frechheit" auswirkte, weiß jedermann. Dass "es" ohne sie nichtging, müsste eigentlich jeder erkennen, der spätere Zeiten miterlebte. Die letzte "Frechheit" in seinem Marine-Leben bestand darin, dass er sich weigerte, sein U-Boot UC 67 nach England zu fahren und den Briten auszuliefern. Seitdem hat er die geliebte See lange Jahre nicht gesehen. Sie war vielen Freunden zum Grab geworden, unter ihnen dem Bruder seiner späteren Frau, Hermann Bremer, und dem liebsten Freund, Joachim Emsmann. Es ging "Vom U-Boot zur Kanzel".

"Was tun?" hieß es nach dem Zusammenbruch. Es ging für Martin und seine Else, die bald heirateten, um die Existenzfrage. Sie entschlossen sich, als Knecht und Magd auf zwei verschiedene Bauernhöfe im Tecklenburger Land zu gehen, um von der Pike auf die Landwirtschaft zu erlernen und irgendwo einen Bauernhof zu kaufen. Aber das "Kommissvermögen" verfiel der Inflation. Was also tun? Der Pfarrer von Westerkappeln half in acht Wochen zu einem guten Hebraikum. Es ging auf das Studium los. In Münster waren wohlgesinnte und gründliche Lehrer in der theologischen Fakultät tätig. Martins Niederschriften der Kollegs wurden heiß begehrt und gingen von Hand zu Hand. Auch in diesem Fach war er gründlich. Mit den drei alten Sprachen hatte er keine Last, die kleine Wohnung bot Raum für Besucher, und meine Akademische Turnverbindung nahm meinen Bruder als "Gast" gern auf. Ach, wie sind wir fröhlich gewesen! Wir haben nicht viel getrunken. Woher sollten wir das auch noch bezahlen?! Aber gesungen haben wir viel, auch manches recht romantische Lied. Noch heute sagen wir es uns auf, was Gustav Falke einst dichtete:

Wir sind zwei Kirschen an einem Stengel,
Ein Zwiegesang,
Ein Kanon, wie er von Bach bis Klengel
noch keinem gelang.

Die folgenden Jahre waren eigentlich besonders glücklich. Die Examina boten keine Hürden, im Gegenteil: wie erstaunten die Examinatoren, die "so etwas" noch nicht erlebt hatten. Dafür allerdings hatte der Examinand tüchtig herhalten müssen. Jahre hindurch war er, um das Leben der anwachsenden Familie zu erhalten, "nebenbei" auf der Eisenbahnkasse in Münster angestellt, zwischendurch hatten wir auch mit der Hacke "auf der Rotte" gearbeitet, was uns und unserer Berufsausbildung sicher nicht geschadet hat.

Dann kamen die Aufbaujahre. Sie waren dazu bestimmt, das westfälische Werk der Inneren Mission zu ordnen und auszubauen. Es ging dabei von Kreissynode zu Kreissynode, von Gemeinde zu Gemeinde. Als der "Geschäftsführer der Inneren Mission" dann im Jahre 1931 als Gemeindepfarrer nach Berlin-Dahlem berufen wurde, war er in seinem Element. Erfand schnell das Vertrauen der Gemeinde, er predigte mit Lust und Hingabe, er widmete sich vor allem der Jugend und wurde in der Kirche ein weithin bekannter Mann. Dass von ihm, seinen Amtsbrüdern und seiner Gemeinde stärkste Impulse ausgingen, als der sogenannte Kirchenkampf anhub, war nicht verwunderlich. Die "Deutschen Christen" brachten in Dahlem kein Bein an die Erde.

Als ihr Pastor von der Kanzel verschwand ("man" hatte ihn "zu einer kurzen Vernehmung" abgeholt), da stand nicht nur die Gemeinde verwaist da und nicht nur die große Familie, da fehlte auch den Organen der Bekennenden Kirche der Mann, der als Berater, als Kämpfer, als Prediger gewirkt hatte. Es konnte so aussehen, als wäre nunmehr die Bekennende Kirche kopflos, ratlos und hilflos. Das war keineswegs der Fall. Man handelte nach dem Satz: "Sollt wo ein Schwacher fallen, da greif der Stärkre zu!" Ich nenne vor allem Else Niemöller, die tapfer und unverzagt jene acht Jahre überstehen half, die am Ende des Krieges zwei Kinder verlor, und die mit ihrer Schar an den Starnberger See zog, um ihren Mann zu den seltenen Sprechstunden in Dachau erreichen zu können.

Über die Zeit der Gefangenschaft soll hier nicht gehandelt werden. Einiges findet sich in den von mir herausgegebenen Briefen aus Moabit und Sachsenhausen. Einen wertvollen Beitrag lieferte im Januarheft 1981 dieser Zeitschrift der Freiberger Schriftsteller Erhard Banitz unter der Überschrift "Mein Zellennachbar". Am Ende stand und steht der Dank.

Evangelist und Friedensfreund

Wenn man acht Jahre lang in einer Gefangenschaft zugebracht hat, die in jeder Beziehung schlimmer war als der Aufenthalt in einem Zuchthaus, dann fragt man sich, wie es weitergehen soll, wer die Sorgepflicht hat, wie man sich der Sorgen entledigen kann, die neuer Wirksamkeit im Wege stehen. Als Martin Niemöller schließlich am 20. Juni 1945 in Wiesbaden verlassen auf der Straße stand, da war er der einsamste Mann auf dieser Erde. Er war frei, aber er war ohne Rat, ohne Wegweiser, ohne Ziel. In Frankfurt fand er seine Schwester Pauline Kredel. Erst am 24. Juni kehrte er "heim"; seine Else fand er in aller Herrgottsfrühe am Starnberger See in Leoni - er war "zu Haus".

Im Tagebuch 1945 stehen rührende Berichte über allerlei Wiedersehensfreuden und neue Begegnungen. Im Ganzen -das muss man feststellen -war diese "Rückkehr" ein einziger Skandal. Martin hatte als selbstverständlich angenommen, die Rückkehr in seine Dahlemer Pfarrstelle vornehmen zu können. Sie war besetzt - die Kirchennazis hatten ihn ja längst in den "Ruhestand" versetzt. Andere Kirchenfürsten, die sich hin- durchlaviert hatten, boten ihm keine Beschäftigung an. Die "Kirchenversammlung" in Treysa, die der alte Landesbischof D. Wurm einberief, unterließ es, jemanden von der Bekennenden Kirche zuzuladen, was den "Dahlemer" Pfarrer nicht hinderte, mit seinen Freunden vom Reichsbruderrat anzurücken und Fraktur zu reden. Dort sprach er am 28. August 1945 gegen jeden Versuch einer kirchlichen Restauration und ebenso unverblümt gegen die "Mohrenwäsche", mit der man sich in der "Kirche" rein waschen wollte von der Mitschuld an den Sünden der jüngsten Vergangenheit. Er schloss sich selbst in die Mitverantwortung ein. Hier lag die Voraussetzung für das "Stuttgarter Schuldbekenntnis" vom 18. /19. Oktober 1945, das schon in Treysa vom Reichsbruder- rat formuliert war und von Martin Niemöller vorgelegt wurde.

Nun war er wieder der "bestgehasste" Mann. Ämter hatte er genug. Er wurde stellvertretender Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Er leitete lange Jahre das aufzubauende Kirchliche Außenamt, das ganz vom Erdboden verschwunden war. Er wurde Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Was er an brüderlicher Liebe erntete, war nicht überwältigend. Da half nicht die Verehrung, die er in der Ökumene genoss, da half nicht, dass er zu einem der Präsidenten des Ökumenischen Rates gewählt wurde (ohne die Zustimmung der EKD-Vertreter), da half nicht die Doktorierung durch acht in- und ausländische Fakultäten, nicht die Verleihung höchster Orden in der Bundesrepublik und in der Sowjetunion (von anderen Dingen zu schweigen). Dass er als erster der bundesdeutschen "Prominenz" Anfang 1952 nach Moskau reiste, eingeladen von dem dortigen Patriarchen, verargte man ihm sehr. Man machte aus der Tätigkeit als Ökumeniker ein politisches Manöver und berichtete nicht, dass es ihm damals gelang, aufgrund seiner Haltung die Kriegsgefangenenfrage voranzubringen, und bald nach seiner Reise konnten bereits mehrere hundert Kriegsgefangene heimkehren. Als er am 25. Januar 1959 in Kassel seine berühmte Rede gegen das törichte Wettrüsten hielt, stellte der damals "zuständige" Minister gegen den evangelischen Kirchenpräsidenten einen Strafantrag. Er erlebte eine ganz große Pleite, weil ein Unbekannter den Vortrag auf Band aufgenommen hatte und zur Verfügung stellen konnte. Man kann’s noch heute nachlesen: "Was Niemöller sagt - wogegen Strauß klagt".

An dieser Stelle mag eingeschoben werden, dass Martin Niemöller erst am 21. Oktober 1945 nach Dahlem kommen konnte. Sein erster Weg führte ihn zu seinem alten Kirchmeister, Professor Ludwig Bartning. Und dann sah er die erschütternde Wirklichkeit der zerstörten Stadt, er vernahm viel von Kummer und Leid, viel von den Selbstmorden in ihrem Glauben wankend gewordener Menschen. Und er ging ans Werk und begründete auf eigene Faust sein "Hilfswerk", fand gute Helfer für die Arbeit, und die Quellen strömten aus Skandinavien und England, aus Amerika und Neuseeland, bis die Empfänger wieder zu Gebenden werden konnten.

Aber lassen wir das alles auf sich beruhen. Es gibt auch noch eine andere Seite in Martin Niemöllers Leben. Er bekam im März 1947 einen Brief eines .der führenden Männer der Deutschen Christen, der damals 69 Jahre alt war. Er lautete:

"Sehr geehrter Herr Amtsbruder! Sie werden mich nur in unangenehmer Erinnerung haben. Ich las heute Ihre Schrift: ‘Zur gegenwärtigen Lage der evangelischen Christenheit’. Ich habe oft Ihnen gegenüber innerlich Abbitte getan; aber jetzt fühle ich mich getrieben, diese Bitte auch auszusprechen: Vergeben Sie mir."

Die Antwort gehört für mich zu dem Schönsten, was ich aus der Menge "seelsorgerlicher Briefliteratur" kennengelernt habe. Es ging und es geht bei dem Predigtamt ja immer um das "Wort von der Versöhnung", um die Aufforderung: "Lasset euch versöhnen mit Gott!"

Was hatte doch Hitler einst herausgeschrieen? Am 17. 1. 1939 hatte er gesagt: "Er lasse auch nicht zu, dass er im Lager predige." Sehr wohl hat der Gefangene das getan. Es war ein kleines Häuflein versammelt (aus verschiedenen Ländern und Konfessionen), als er am Ende der Gefangenschaft die sechs Predigten hielt. Thema: "… zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn!" Diese Predigten sind mit Liebe und Sorgfalt erarbeitet, wie ja niemals eine Predigt gehalten wurde, die nicht wörtlich aufgeschrieben war.

Das Wort von der Versöhnung ist das entscheidende Wort. Das zieht sich wie ein Faden durch all die Tausende von Reden und Predigten hindurch, die seither wieder gehalten wurden. Es war genau wie bei unserem Vater. Kein Dörflein in Westfalen und im Hessenland bekam eine abschlägige Antwort, wenn er zum Dienst gerufen wurde. Er kam, und er hatte etwas zu bringen, kein Larifari und keine "Kunstrede", keine philosophisch verbrämte "Theologie" und keine schöne Rhetorik. Er kam mit der Botschaft des Erlösers: "Lasset euch versöhnen". Dazu eine Randbemerkung: Es gab im Laufe der Jahre drei Männer, mit denen Martin zwischen 1937 und 1947 in Fehde lag. Die Ursache im einzelnen Fall darzustellen, ist unwichtig. Jedenfalls kann ich dankbar berichten, dass Martin in allen drei Fällen an das Sterbebett seiner "Widersacher" eilte und die versöhnende Hand reichte. Gottlob kam er nie zu spät.

Otto Dibelius - und wir wissen, in welchen Auseinandersetzungen er mit Martin Niemöller gestanden hat, - hat mal einem Mann, der Martin Niemöller attackierte, geschrieben, dass dessen Name noch groß geschrieben würde, wenn sie selbst vergessen wären. Um menschliche Urteile geht es wahrhaftig nicht. Es geht "durch böse Gerüchte und um gute Gerüchte". Das ist schon größeren Leuten passiert. Solange wir Boten des Friedens bleiben, solange wir das Wort von der Versöhnung weitergeben, solange wir nicht uns, sondern den Friedefürsten preisen, solange wir "Senfkörner und nicht Sandkörner" (nach einem Vers von Erhard Banitz) sind, solange dienen wir recht. Darum versprechen wir gern, dass wir den Weg des Jubilars mit dem alten Gebet begleiten wollen:

"Wir wollen in Frieden den Herrn anrufen: Um den Frieden, der von oben kommt, und das Heil unserer Seelen, um den Frieden der ganzen Welt und die Dauer Deiner heiligen Kirche, für die ganze christliche Gemeinde und alle, die Dir dienen im Werk der Leitung und in der Arbeit der Liebe, für alle, die Deinem Frieden noch fern sind. Deinen Frieden, lieber Herr, begehren wir je mehr und mehr, je mehr die Welt voll Streit!"

Quelle: Junge Kirche. Eine Zeitschrift europäischer Christen, Dezember 1981, 42. Jahrgang, S. 573ff.

Veröffentlicht am

06. März 2009

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