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Amira Hass: Kein Platz wie daheim

Von Amira Hass, 05.02.2009

Gazastreifen: Innerhalb Sekunden verlor A’amer al-Dayeh seine Eltern, zwei Schwestern, drei Schwägerinnen, drei Brüder und 12 seiner Kinder. Der Jüngste, Sansabeel war drei Monate alt. Der älteste Ali war 11. Es geschah am 6. Januar, als ein israelisches Flugzeug Dayehs Haus zwischen 5:30 und 6 Uhr bombardierte. Er lebt nun zusammen mit Verwandten; denn sein Haus ist zerstört. Vier Jahre lang lebte er in der Westbank, wo er Pädagogik an der An-Najah -National-Universität in Nablus lehrte und bei einer Sicherheitsagentur der palästinensischen Behörde unter Yasser Arafat arbeitete. Einen Monat lang war er 2002 mit dem palästinensischen Führer in der Mukata in Ramallah während der israelischen Belagerung des Hauptquartiers gefangen.

Am Morgen des 6. Januar, während der 60-stündigen IDF-Bodenoffensive, hatten sich Soldaten schon zwischen dem südlichsten Teil des Zeitoun-Stadtteils aufgehalten, wenige Kilometer von dort, wo Dayeh lebte und von wo vor zwei Tagen die beängstigenden Geräusche von Explosionen und Kanonenschüsse kamen. Viele Leute begannen zu fliehen.

In den engen und dicht bebauten Gassen verbreitete sich das Gerücht, dass die IDF dabei ist, das Haus der Dayehs zu bombardieren und dass das Rote Kreuz die Familie informiert habe. Die lokalen Bewohner, einschließlich der Dayehs, verließen ihre Häuser in Panik und gingen nach Westen. "Aber dann rief jemand das Rote Kreuz an und jemand sagte, solch eine Aktion sei nicht geplant. Also ging jeder wieder zurück, einschließlich unserer Familie".

Dayehs Vater, Fayez, 60: "Wir sind wie alle anderen, wir wollen daheim bleiben." Ein Bruder und seine Familie, die in der oberen Etage wohnt, blieb aber lieber bei den Verwandten. Am Montagabend versammelte sich die große Familie zu einem Essen im Flur des Erdgeschosses, wo die Eltern und ihre unverheirateten Kinder lebten.

"Es gab keinen Strom. Vater drehte das kleine Radio an, um die Nachrichten zu hören. Es gab kein Gas zum Kochen. Mutter backte Pita über dem Feuer. Wir aßen alle zusammen und dann gingen die Brüder mit ihren Familien nach oben in ihre Wohnungen", erinnerte sich A’amer Dayeh.

Früh am Morgen gingen der Vater und einer seiner Söhne, Mohammed zum Beten in die nächste Moschee. "Um 5:30 Uhr begannen wieder alle Arten von Explosionen in der Luft", sagte Dayeh. Der Vater kehrte heim, und man hörte ihn, wie er die Familienmitglieder wegen der intensiver werdenden Schießerei nach unten rief. Mohammed, Vater von vier Kindern - Yusuf, 2, der Jüngste und der Älteste Amani, 6, war ein bisschen später nach Hause gekommen und stand wie angewurzelt in der Nähe des Hauses, in dem seine beiden Kinder waren, als es zu Schutt zusammenfiel.

"Er konnte nicht verstehen, was er sah", sagte sein Nachbar, der das - auch ohne es zu begreifen - sah: wie ein vierstöckiges Haus zu einem Sandwich zusammenfiel.

Dayeh und sein Bruder Radwan waren im Erdgeschoss in einem Nebenraum. Sie schliefen wegen der Schießerei und den Explosionen nicht. "Plötzlich fühlte ich die Hitze der Rakete", sagte Dayeh, dessen Gesicht versengt war. "Ich fühlte wie mein Körper schrumpelte und unter Druck kam und dann, wie der ganze Bau über mich stürzte. Zunächst verlor ich mein Augenlicht. Als ich wieder sehen konnte, fand ich mich selbst unter dem Beton begraben und neben mir mein Bruder.

Ein Bein und ein Arm

Die Nachbarn wussten, dass er dort war, denn ein Bein und ein Arm schauten heraus. Sie begannen damit, den Schutt wegzuräumen. Radwan atmete noch, aber starb drei Tage später. Die Nachbarn brachten einen Bulldozer, um nach Überlebenden zu suchen. Die Rettungsarbeit dauerte den ganzen Tag. Am Ende hatten sie die Körper und Körperteile von nur 11 Familienmitgliedern gefunden. Andere waren noch unter dem Schutt, wie die von Dayehs Bruder Iyyad, der dann gefunden wurde, seine beiden Kinder umarmend.

Die Macht der Explosion hat andere aus dem Haus geworfen: ihre Leichen wurden auf der Straße gefunden oder in den Wohnungen der Nachbarn. Vor einer Woche wurde noch ein Bein gefunden, das aus dem Schutt herausschaute. Es wurde wie die Leichen in alten Familiengräbern begraben.

Eine der Folgen der IDF-Bombardierung im letzten Monat war die große Anzahl von Familien, die viele Mitglieder auf einen Schlag verloren haben - die meisten in ihren Häusern: Ba’alousha, Bannar, Sultan, Abu Halima, Salha, Barbaakh, Shurrab, Abu Eisha, Ghayan, Al-najja, Abed Eabo, Azzam, Jabara, El-Astal, Haddad, Qura’an, Nassa, al Wl A’alul, Deeb, Sammouni. Und dies ist noch lange nicht die ganze Liste der Namen.

In der ersten Woche der Offensive war es klar, dass das Militär Familien warnte, welches Familienmitglied als Ziel herausgesucht worden war, und man gab ihnen Zeit, ihre Häuser zu verlassen. Mit Ausnahme der Familie des Hamas-Aktivisten Nizar Rayan, der es vorzog, in seinem Haus zu bleiben und mit seinen Frauen und Kindern getötet zu werden, "liebt die große Mehrheit das Leben", wie es eine Person von sich selbst und anderen Gazaern sagte.

Die Warnungen wurden durch Anrufe über Handys oder Telefon gegeben. In Rafah erzählten Leute, wie in einem Haus im Stadtteil Jneineh das Telefon klingelte. Eine ältere Tante sprach mit einem anonymen Anrufer, der befahl, jeder möge sofort das Haus verlassen.

"Aber wir sind es doch nicht, nach denen sie suchen", erinnerten sich die Leute in Rafah und machten sich über den Ton der Frau lustig. "Sie schauen nach dem Haus des Bruders, dessen Vorratsraum vor langer Zeit an die Hamas vermietet war." Der Anrufer bestand darauf, dass jeder das Haus verlässt. Sie taten es, und die neben einander stehenden Häuser beider Brüder wurden bombardiert.

Selbst wenn diese Geschichte nur zum Teil der Wahrheit entspricht, so zeigt es, dass Leute nach den Gründen fragen, warum ihr Leben in Gefahr ist, obwohl sie keine Hamas-Mitglieder sind, sondern mit der Fatah verbunden und die Hamas hassen. Es zeigt, dass Leute daraus folgern, dass die IDF selbst solche Räume als Ziele anpeilt, die irgendwann einmal der Hamas gedient haben.

Zum Beispiel G. und seine Familie verließen ihr Heim in einem Flüchtlingslager, weil ihre Nachbarin eine der Frauen eines Hamas-Mannes war. In vielen Fällen verlassen nahe Verwandte von vermuteten "Markierten" beizeiten ihr Heim. Einer von ihnen war anscheinend Issa el-Batran aus dem Al-Boureij-Lager.

Nach einem Fatah-Mann aus dem Lager beschoss die IDF schon vor anderthalb Jahren Batrans Haus. Als Hamas-Aktivist war er auch schon für einige Monate von den präventiven Sicherheitskräften der Fatah ins Gefängnis gesteckt worden, als diese im Gazastreifen noch das Sagen hatte. Seine Familie, einschließlich eines Bruders in der Fatah, gaben keine näheren Auskünfte. Sie sagten, seine Frau und fünf Kinder - drei Mädchen und zwei Jungen - wurden am Freitag (16.1.) getötet, als sie ihr evakuiertes Haus nur kurz betraten, um ein paar Kleider rauszuholen.

Warngranaten

In den letzten zwei Wochen der Offensive warnte die IDF die Leute mit einer kleinen angeblich nicht tödlichen "Warngranate", die von einer Drohne abgefeuert wurde. Ein paar Minuten später ließ die Luftwaffe eine Bombe fallen oder feuerte richtige Granaten ab. Aber im Falle Batran traf eine der kleinen Granaten - nach Familienmitgliedern - das Haus, als zwei der Kinder auf dem Balkon und die anderen im anschließenden Raum nahe dem Fenster waren. Issa und sein einjähriges Baby Abed al-Hadi waren in einem anderen Raum und wurden nicht verletzt. Im Trauerzelt hielt der Säugling seine Hände nach jeder eintretenden verschleierten Frau aus, weil es nach seiner Mutter suchte.

Im Haus von Fayez Salha im Ortsteil Beit Lahia schlug am 9. Januar eine Warngranate um 3:30 Uhr nachts auf. Die Nachbarn und Verwandten sagten, sie wussten nichts von jemandem im Haus, der Ziel für die IDF hätte sein können. Im Gegenteil: Salhas Schwägerin war extra gekommen, weil sie sich hier sicherer fühlte. Die Familie eilte aus dem Haus, aber nicht jeder schaffte es beizeiten. Die Rakete schlug sechs Minuten später ein. Randa, die Mutter, wurde getötet - mit ihren vier Kindern, zwischen 14 und 1 Jahr alt. Auch die Schwägerin, die sich hier sicherer glaubte, wurde getötet.

Die Leute merkten bald, dass kein Haus sicher war. Ein frühes Beispiel wurde das Haus der A’bisfamilie im Yibne Flüchtlingslager in Rafah. Am Abend des 28. Dezembers waren die Kinder noch völlig außer sich über die Bombenangriffe am Tag zuvor. Die Angriffe in Rafah waren zwar "leichter" als in Gaza, aber auch dort wurden öffentliche Gebäude um 11:25 Uhr getroffen, als Dutzende von Kindern auf der Straße waren.

Deshalb entschieden Ziad A’bsi und seine Frau Ifaf, dass man sich in ihrem Schlafzimmer dieses typischen Flüchtlingshauses (ein überdachter Hof, der umgeben ist von Räumen, die aus grobkörnigem Sand mit Beton gebaut und einem Asbestdach versehen sind). Das Schlafzimmer liegt zum Hof hin und nicht zur Straße.

Sidqi war das Kind, das der Vater und die älteren Geschwister zu verwöhnen pflegten. Ziad, der ihm kurz zuvor noch Schokolade gebracht hatte, sah ihn auf der Matratze schlafen - mit einer Hand unter der Backe. Neben ihm lag eine rötliche Katze, die ihm nie von der Seite wich. Sie sahen ein bisschen fern und schliefen dann ein.

Ifaf stillte verschlafen ihr Baby Na’ameh, als eine Bombe aus dem Nichts auf ihr landete. Es war fast ein Uhr nachts. Drei Häuser von bekannten Hamas-Aktivisten in der Nachbarschaft wurden an jenem Tag bombardiert. Sie und ihre Familien waren nicht zu Hause. Sie überlebten.

Soweit bekannt ist, waren in einem Fall die Telefone abgeschaltet. Die IDF suchte weiter, bis sie einen Verwandten fanden. Ihm wurde befohlen, der "gewünschten" Familie zu sagen, sie solle ihr Haus verlassen. Die Familie wurde gerettet.

A’bsi, der eine Zementfabrik besitzt, die seit zwei Jahren nicht mehr arbeitet, weil Israel jeden Import von Zement verboten hat, hat keinen Kontakt zu Hamas. Er kam 1995 aus Saudi-Arabien zurück. "Zusammen mit dem Frieden - und der Frieden tötete meine Kinder": Mohamed, 12, Ahmed, 11, und Sidqi, 4.

Als die Bombe einschlug, entstand ein tiefer Krater genau dort, wo das Schlafzimmer gewesen war, und Ziad, seine Frau mit dem stillenden Baby im Arm und Sidqi wurden durch die Luft gewirbelt und landeten auf dem Dach. Eine Eisenstange durchdrang Sidqis Hals und tötete ihn. Ziad und I’faf und zwei ihrer drei Töchter wurden verletzt. Seine Frau steht immer noch unter Schock.

Die Leichen der beiden Jungs, Mohammed und Ahmed wurden auf der Straße gefunden. Sidqis Katze blieb im Haus mitten zwischen den Ruinen, zwischen den Schulbüchern der Kinder, zerrissener Kleidung und kaputter Möbel und Asbeststücken.

Haaretz erhielt auf ihre Fragen vom IDF-Sprecher während der Pressezeit keine Antwort.

Übersetzung: Ellen Rohlfs

 

 

Veröffentlicht am

17. Februar 2009

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