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Gaza 2009

Von Haidar Eid, 22.01.2009 - ZNet

"Woher soll ich ihm einen Vater nehmen? Woher soll ich ihm eine Mutter nehmen? Sagen Sie es mir!"

Diese verzweifelten Worte äußerte Subhi Samouni gegenüber einem Al-Dschasierah-Korrespondenten. Subhi hat 17 enge Verwandte verloren - einschließlich der Eltern seines 7jährigen Enkels. Während ich dies schreibe, werden weitere Leichen der Familie Samouni unter den Trümmern geborgen - 15 Tage, nachdem die Israelischen Besatzungsstreitkräfte (IOF) deren beide Häuser mit Granaten beschossen. Es ist schockierend. Die IOF hatte 120 Mitglieder der Familie 12 Stunden lang in ein Haus gesperrt, bevor sie es mit Granaten beschoss.

Subhis Worte spiegeln die harte Realität aller Palästinenser in Gaza wider: Sie sind allein, verlassen, gehetzt, der Gewalt ausgeliefert und (wie im Falle von Subhis Enkel) Waisen. Nach 22 Tagen des grausamen Abschlachtens sind 1312 Palästinenser tot. Mehr als 85% der Getöteten sind Zivilisten, darunter 434 Kinder und 104 Frauen, 16 medizinische Mitarbeiter, 4 Journalisten, 5 Ausländer und 105 alte Menschen.

Was sagt man einem Mann, dem die herbe Pflicht obliegt, seine gesamte Familie zu beerdigen? Seine Frau, seine Söhne, Töchter und Enkel? Sagen Sie es uns. Wir werden Ihre Worte an Onkel Subhi weiterleiten, denn angesichts seines Verlustes klingen unsere eigenen Trostworte in unseren Ohren hohl.

Überlegen Sie sich bitte auch, was Sie dem 70jährigen Rasheed Mohammed sagen wollen, dessen 44jähriger Sohn Samir - vor den Augen seiner Frau und seiner Kinder - mit einer einzigen Kugel ins Herz exekutiert wurde. Die IOF weigerte sich 11 Tage lang, eine Ambulanz durchzulassen, um seine Leiche zu bergen. Daher musste die Familie bis zum Ende der Angriffe warten, bis sie ihn beerdigen konnte. Der 70jährige Rasheed machte die extrem schmerzliche Erfahrung, seinen Sohn verwesen zu sehen - ihn zu berühren, zu küssen und schließlich zu beerdigen, während er verweste. Sagen Sie dieser Familie, wie sie sich ihre harte Wirklichkeit erklären kann. Sagen Sie etwas, damit die Kinder wieder schlafen können, damit die Angst in den Herzen der Väter weicht, damit die Frauen begreifen, warum man ihnen ihre Männer genommen hat.

Vielleicht unterhalten Sie sich lieber mit der 14jährigen Amira Qirm. Ihr Heim in Gaza-Stadt wurde von der Artillerie mit Phosphorbomben beschossen. Durch die Bomben verbrannten 3 Mitglieder ihrer engsten Familie: ihr Vater, ihr 12jähriger Bruder Ala’a und ihre 11jährige Schwester Ismat. Allein, verletzt und voller Angst kroch Amira 500 Meter auf den Knien bis in ein Nachbarhaus. Es war leer. Die Familie war geflohen, als der Angriff der Israelis begonnen hatte. Dort blieb sie 4 Tage. Sie hatte zu große Angst, um ihren Schmerz hinaus zu schreien. Sie befürchtete, die Soldaten könnten sie hören. Als der Hausbesitzer zurückkehrte, um Kleidung für seine Familie zu holen, fand er Amira. Sie war schwach und dem Tode nahe. Zur Zeit werden ihre Wunden im überfüllten Al-Shifa-Hospital behandelt - einem Hospital, dem es an Ressourcen mangelt.

Versuchen Sie, den 10jährigen Mohammed Samouni zu trösten. Er wurde neben den Leichen seiner Mutter und anderer Verwandter gefunden - 5 Tage, nachdem diese getötet worden waren. Er wird Ihnen erzählen, was er allen erzählt: Sein Bruder habe lange geschlafen, dann sei er plötzlich aufgewacht. Der Bruder habe gesagt, er sei hungrig und habe ihn um eine Tomate gebeten, die er essen wollte. Dann sei der Bruder gestorben. Gibt es noch einen 10jährigen auf der Welt, der eine solche Erfahrung gemacht hat und für den Rest seines Lebens mit sich herumschleppen wird müssen? Natürlich nicht. Dieses "Privileg" wird nur palästinensischen Kindern zuteil, weil sie auf einem Territorium leben, das Israel für sich beansprucht. Doch es werden diese traumatisierten Kinder sein, die Israel verweigern werden, was Israel will. Allein das Überleben dieser Kinder ist schon eine Herausforderung für den Apartheidstaat. Diese Kinder werden ganz sicher die Erben Palästinas: Es ist ihr Geburtsrecht. Kein Angriff kann etwas an dieser Tatsache ändern - nicht heute, niemals…

Während all dies geschah, mussten wir uns die israelische Außenministerin Tzipi Livni anhören. Hartnäckig verteidigte sie die "moralischste" Armee der Welt. "Wir zielen nicht auf Zivilisten", log sie. "Wir wollen nicht, dass die Palästinenser Gaza verlassen. Wir wollen nur, dass sie sich innerhalb von Gaza bewegen!" Auch der israelische Premierminister Ehud Olmert hatte den Palästinensern in Gaza etwas zu sagen: "Wir sind nicht euer Feind. Hamas ist euer Feind".

Amira, Mohammed, Rasheed, Subhi und mehr als 40.000 Familien, deren Häuser zerstört wurden, wissen es besser, oder jene, die auf den Friedhof eilten, nachdem dieser bombardiert worden war und dort die Leichenteile ihrer toten Verwandten frei herumliegen sahen, den Elementen ausgeliefert. Sie wissen, dass sie bewusst angegriffen wurden, weil sie Palästinenser sind. Alles andere ist Propaganda, um das Gewissen jener - innerhalb und außerhalb Israels - zu beruhigen, die Palästinenserblut an ihren Händen haben.

22 zähe Tage und dunkle Nächte lang wurden die Menschen in Gaza alleingelassen. Sie sahen sich der viertstärksten Armee der Welt gegenüber - einer Armee mit 250 Atomgefechtsköpfen, mit Tausenden schießwütigen Soldaten, mit Merkava-Panzern, F16-Jets, Apache-Helikoptern, Marinekampfbooten und Phosphorbomben. 22 schlaflose Nächte, 1528 Stunden konstanter Beschuss und konstantes Granatfeuer, in denen man jede Minute glaubte, das nächste Opfer zu sein.

Während dieser 22 Tage flossen die Leichenhallen über. Die Krankenhäuser kämpften, um die Verletzten zu versorgen. Gleichzeitig veröffentlichten die arabischen Regime tonnenweise Erklärungen, in denen sie verurteilten und kritisierten. Sie hielten eine sinnlose Pressekonferenz nach der anderen ab. Sie hielten zwei Gipfeltreffen ab. Das erste Treffen fand volle 19 Tage nach Beginn der Attacke auf Gaza statt, das zweite einen Tag, nachdem Israel einen einseitigen Waffenstillstand erklärt hatte!

Seit 1948 war/ist die offizielle arabische Position gegenüber den Palästinensern eine tödliche Mischung aus Feigheit und Heuchelei (mit Ausnahme der Ära der progressiven Nationalisten (1954-1970)). Ihr jüngstes kollektives Versagen bestand/besteht darin, die israelische Blockade des Gazastreifens in zwei Jahren nicht zu brechen sowie in ihrer Passivität, als es darum ging, die Palästinenser gegen diesen brutalen militärischen Angriff zu verteidigen. Hier gehören Fragen gestellt.

Die Araber müssen Antworten von der rückgratlosen Arabischen Liga einfordern, denn diese zeigte während des israelischen Angriffs keine brüderliche Solidarität gegenüber den Menschen in Gaza. In ihren Plattitüden war nichts von Panarabismus wahrzunehmen. Schockierenderweise fanden es einige sogar angebracht, die Palästinenser für ihre Situation verantwortlich zu machen - anstatt von Israel den Abbruch seines gnadenlosen Angriffes zu fordern.

Wir fragen uns heute, wie die Unterstützung für uns, die auf den Straßen der arabischen Hauptstädte sichtbar wurde, zu Handlungskonsequenzen führen könnte - angesichts der Abwesenheit von Demokratie. Wir fragen uns, ob arabische Bürger, die in despotischen Regimen leben, diese Systeme gewaltfrei verändern können. Wir quälen uns, um die Mittel für einen demokratischen politischen Wandel, die es heute gibt, bereitzustellen; wir versuchen es. Angesichts des fortlaufenden Massakers in Gaza und angesichts des Aufbaus eines Apartheidsystems in Palästina (1948, 1967) ist uns bewusst, dass wir für unser Überleben auf die Unterstützung und die Solidarität unserer arabischen Brüder und Schwestern angewiesen sind. Wir haben gesehen, wie das arabische Volk 22 Tage lang die Herausforderung annahm und uns beistand. Aber wir sahen ihre Führer nicht hinter ihnen stehen.

Erzbischof Desmond Tutu aus Südafrika sagte: "Wenn du dich in einer ungerechten Situation neutral verhältst, hast du dich für die Seite des Unterdrückers entschieden". Die UNO, die EU, die Arabische Liga und die Internationale Gemeinschaft schwiegen weitestgehend - angesichts der Gräuel, die Apartheid-Israel beging. Sie stehen folglich aufseiten Israels. Hunderte Kinder- und Frauenleichen konnten sie nicht überzeugen, zu handeln. Allen Palästinensern - im Gazastreifen, in der Westbank, in den Flüchtlingslagern und in der Diaspora - ist dies heute bewusst. Wir haben nur eine Wahl. Wir warten nicht mehr auf die UNSC, auf einen Arabischen Gipfel oder die Organisation der Islamischen Konferenz. Unsere Option heißt: Macht des Volkes. Es ist die einzige Macht, die in der Lage ist, das massive Ungleichgewicht der Kräfte im israelisch-palästinensischen Konflikt auszugleichen.

Der Horror des Apartheidsystems in Südafrika wurde durch eine nachhaltige Boykott-, Sanktionen- und Divestmentkampagne (BDS) herausgefordert. Diese Kampagne wurde 1958 initiiert. Nach dem Massaker von Sharpeville, 1960, bekam sie neue Dringlichkeit. Am Ende führte die Kampagne zum Kollaps der weißen Herrschaft und zur Etablierung eines multi-ethnischen, demokratischen Staates. Das war 1994.

Auch die Palästinenser wollen BDS (Boykott, Divestment, Sanktionen). Seit 2005 hat die entsprechende Kampagne an Schubkraft gewonnen. Gaza 2009 wird man ebenso wenig ignorieren können wie Sharpeville 1960. Gaza 2009 erfordert eine Reaktion von allen, die an die gemeinsame Menschlichkeit glauben. Der Zeitpunkt ist gekommen, den israelischen Apartheidstaat zu boykottieren, ihn mit Sanktionen zu belegen und Investitionen abzuziehen. Es ist der einzige Weg, um zu gewährleisten, dass es einen säkularen, demokratischen Staat für alle, im historischen Palästina, geben wird.

Dies ist die einzige Antwort auf Onkel Subhis verstörte Fragen. Es ist der einzige Weg, um seinem Enkel eine Zukunft zu geben, ein Leben in Würde und Gleichheit, ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit. Wie alle Kinder hat Subhis Enkel nicht weniger verdient.

Dr. Haidar Eid ist Dozent für Englische Literatur in Gaza-Stadt. Er ist zudem politischer Kommentator und Aktivist.

 

Quelle:  ZNet Deutschland   vom 23.01.2009. Originalartikel: Gaza 2009 . Übersetzt von: Andrea Noll.

 

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Veröffentlicht am

24. Januar 2009

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