Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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70. Jahrestag der Pogromnacht: Mahnung zum entschiedenen Eintreten gegen alle Formen von Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus und Gewalt

Bei einer Mahnwache zum 70. Jahrestag der Reichspogromnacht am 9. November 2008 in Gammertingen (Kreis Sigmaringen) hielt Michael Schmid folgende Ansprache:

Ich begrüße Sie zu unserer Mahnwache anlässlich des 70. Jahrestages der sogenannten Reichspogromnacht. Mit dieser Mahnwache soll ein öffentliches Zeichen des Gedenkens an die Opfer der Reichspogromnacht sein und ein Bekenntnis gegen das Wiederaufleben von nazistischem Gedankengut, Rassismus und Antisemitismus in unserer Gegenwart. Diese Mahnwache stellt gleichzeitig die Auftaktveranstaltung zur diesjährigen Ökumenischen FriedensDekade in unserem Raum dar. Siehe Ökumenische FriedensDekade 2008 “Frieden riskieren” im Raum Gammertingen . Während der FriedensDekade werden in den kommenden zehn Tagen in ganz Deutschland weit über 1.000 Veranstaltungen stattfinden. Das Motto lautet: "Frieden riskieren".Eine Terminübersicht mit den Veranstaltungen der Ökumenischen FriedensDekade findet sich bei Netzwerk Friedenskooperative unter www.friedenskooperative.de/termine/dekade08.htm .

Vor 70 Jahren, in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938, brannten jüdische Synagogen in ganz Deutschland, wurden die Schaufenster jüdischer Geschäfte zertrümmert, die Wohnungen jüdischer Bürgerinnen und Bürger demoliert und die darin wohnenden Menschen misshandelt.

Die Weisung zu dem Pogrom, also zur gewalttätigen Verfolgung von Juden, kam aus München, wo sich die Führung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) zum Gedenken an den 15. Jahrestag des Hitler-Putsches versammelt hatte.

Begründet wurde der Terror der Reichpogromnacht mit einem tödlichen Attentat auf einen höheren Beamten der deutschen Botschaft in Paris durch den erst siebzehnjährigen Herschel Grynszpan. In Wirklichkeit nutzten die Nationalsozialisten diesen Mord als Vorwand für ihren Terror, den sie als angeblich spontanen Akt des "Volkszorns" ausgaben. Aktiv an den Zerstörungen und Brandschatzungen beteiligten sich nur wenige Menschen, die nicht der SA oder SS angehörten. Allerdings halfen auch nur wenige ihren jüdischen Nachbarn.

Diese Verbrechen spielten sich auch nicht nur "irgendwo" weit weg, sondern ebenfalls hier in unserer weiteren Region ab. So wurden z.B. in folgenden Orten Synagogen zerstört oder niedergebrannt: Bad Buchau, Haigerloch, Hechingen, Horb, Horb-Mühringen, Horb-Rexingen, Laupheim, Münsingen-Buttenhausen, Rottenburg-Baisingen, Rottweil, Tübingen und Ulm.Siehe ausführlich Anhang 1.

Bilanz des Terrors

Die "offizielle" Bilanz des Terrors lautete: 91 Tote, 267 zerstörte Gottes- und Gemeindehäuser und 7.500 verwüstete Geschäfte. In Wirklichkeit starben während und unmittelbar in Folge der Ausschreitungen weit mehr als 1.300 Menschen. Mit mindestens 1.400 wurden über die Hälfte aller Synagogen oder Gebetshäuser in Deutschland und Österreich stark beschädigt oder ganz zerstört. In Baden, Württemberg und Hohenzollern wurden von 151 Synagogen und Betsälen 60 niedergebrannt, 77 demoliert und geplündert. Auch jüdische Friedhöfe, Geschäfte und Wohnungen wurden Ziel gewalttätiger Übergriffe. Im Südwesten wurden fast alle jüdischen Friedhöfe verwüstet.

Am 10. November wurden mehr als 30.000 männliche Juden in Konzentrationslager verschleppt. Der überwiegende Teil der badischen und württembergischen Juden kam in das KZ Dachau, die Stuttgarter Juden wurden in das KZ Welzheim gebracht.
Während der monatelangen Haft unter unmenschlichen Bedingungen erlitten viele Menschen schwere Verletzungen. Mindestens 40 der Dachau-Häftlinge aus Baden, Württemberg und Hohenzollern starben während der Haft.

Die Ereignisse am und um den 9. November 1938 stellten einen Wendepunkt dar. Der Historiker Wolfgang Benz meint: "Der Novemberpogrom … bedeutete den Rückfall in die Barbarei; in einer Nacht wurden die Errungenschaften der Aufklärung, der Emanzipation, der Gedanke des Rechtsstaats und die Idee von der Freiheit des Individuums zuschanden."

Die Ausschreitungen, wegen der zerstörten Schaufensterscheiben als "Reichskristallnacht" verniedlicht, markierten den Übergang von der Diskriminierung und Ausgrenzung der deutschen Juden seit 1933 zur systematischen Verfolgung, die knapp drei Jahre später in die systematische Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten mündete. Am Ende dieses Weges standen die Gaskammern von Ausschwitz. Im Holocaust, den die Nationalsozialisten in ihrem Machtbereich an den europäischen Juden vollzogen, sollten sechs Millionen Menschen ermordet werden.

Erinnern und wachbleiben

In Deutschland schwieg die Bevölkerung mehrheitlich zu den Verbrechen in der Pogromnacht. Nur wenige mutige Stimmen nannten die Verbrechen beim Namen. Wäre dies anders gewesen, hätten viele den Mund aufgemacht, protestiert, hätte ein solcher Holocaust vielleicht verhindert werden können. Wer Verbrechen mit ansieht oder wer sie verschweigt oder wer auch nur wegschaut, beteiligt sich an ihnen!

Warum aber sollen wir uns heute der Verbrechen der Nazi-Diktatur erinnern? Hat das noch etwas mit uns zu tun, mit uns Nachgeborenen?

"Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben", sagte der Zeuge und Holocaustüberlebende Primo Levi. Gerade weil es wieder geschehen kann ist es wichtig, die Erinnerung an die Verbrechen der Nazi-Diktatur mahnend wach zu halten und dafür zu sorgen, dass die Erinnerung an diese dunkle Zeit in der Geschichte nicht zwischen den Seiten dicker Geschichtsbücher verschwindet, sondern für alle Zeiten als Mahnung gegen Menschenverachtung, gegen Antisemitismus und gegen Gewalt gegen Menschen wach gehalten wird. Nur wenn wir der Vergangenheit wachsam ins Auge blicken, können wir einem erneuten Verbrechen dieser Art Vorschub leisten.

"Frieden riskieren" lautet das Motto der FriedensDekade. Hätten wir uns heute vor 70 Jahren hierher gestellt und protestiert, wäre das ein unvergleichbar viel höheres Risiko gewesen als es dies heute ist. Heute riskieren wir allenfalls als Spinner ausgelacht zu werden. Ich denke, der Jahrestag der Pogromnacht mahnt uns, dass wir solche vergleichsweise kleine Risiken gerne auf uns nehmen sollten, um heute entschieden gegen alle Formen von Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus und Gewalt einzutreten.

Vielen Dank für das Zuhören.Konkrete Forderungen an Staat und Zivilgesellschaft siehe in der Erklärung des Präsidenten von pax christi Bischof Heinz Josef Algermissen zum 70. Jahrestag der Reichspogromnacht - Anhang 3.

Anhang 1: Synagogen in der weiteren Region, die um den 9. November 1938 zerstört oder niedergebrannt wurden:

Bad Buchau: In der Pogromnacht am 9./10. November 1938 wurde die Synagoge von einer SA-Gruppe aus Ochsenhausen angezündet. Das Feuer war schnell gelöscht, da die Feuerwehr eingriff und die Bevölkerung einschließlich des damaligen Bürgermeisters Öchsle beim Löschen half. In der Nacht vom 10. auf den 11. November 1938 wurde mit einer großen Menge ausgegossenen Benzins nochmals Feuer gelegt, dieses Mal war Löschverbot; die Feuerwehr durfte nur die umliegenden Häuser schützen. Zuvor wurde von den Brandstiftern das wertvolle Museum von Kultgegenständen, das sich in der Synagoge befand, weggeschafft. Am 18. November 1938 sprengten Ulmer Wehrmachtspioniere die 85 cm dicken Grundmauern der Synagoge. Die Kosten der Sprengung in Höhe von 6.000 RM musste die jüdische Gemeinde bezahlen.

Haigerloch: In der Pogromnacht im November 1938 wurden die Synagoge, das jüdische Schul- und Gemeindehaus sowie die Wirtschaft zur "Rose" demoliert. Die Täter waren fast ausschließlich rund 45 Angehörige der SA- und der SA-Reserve Sulz a.N., die am 10. November 1938 frühmorgens um 4 Uhr mit einem Omnibus hierher gekommen waren. Sie drückten die Tür der Synagoge ein, zerschlugen sämtliche Fenster und demolierten die gesamte Einrichtung. Die Bänke der Frauenempore wurden nach unten geworfen. Auch das rituelle Bad sowie der Schulraum im Israelitischen Gemeindehaus wurden schwer beschädigt. Die Inbrandsetzung der Synagoge war unterlassen worden. Eine für die Nacht zum 13. November 1938 geplante nachträgliche Inbrandsetzung wurde auf Mitteilung des für Haigerloch zuständigen Kreisleiters in Horb durch das Eingreifen der Gendarmerie verhindert.

Hechingen: Beim Novemberpogrom 1938 wurde die Inneneinrichtung der Synagoge von Reutlinger und Hechinger SA-Leuten unter Anleitung von Parteifunktionären völlig zerstört. In einem Bericht der Stadt Hechingen an das Finanzamt Sigmaringen wurden die Schäden so beschrieben: "An der Synagoge sind sämtliche Fenster (Rahmen und Glasscheiben) und die Eingangstüre zerstört. Im Innern des Gebäudes sind die Emporebrüstungen, zwei eiserne Öfen, die Gebetstühle zum großen Teil, und verschiedene Gebrauchsgegenstände für religiöse Handlungen vernichtet…". Am 12. November 1940 erwarb die Stadt das Gebäude für 3.000 RM und nutzte es danach für Abstellzwecke, als Turnhalle und als Rekrutierungshalle für Soldaten.

Horb: Am Morgen des 10. November 1938 wurde der bisherige Betsaal demoliert, die Inneneinrichtung zerstört. SA-Männer hatten den Raum ausgeräumt und die Einrichtung auf der Straße verbrannt. Auch eine Schulklasse der Oberschule beteiligte sich auf Geheiß ihres Lehrers an den Zerstörungen und dem Heraustragen und Zertrampeln von Schriften und Leuchtern.

Horb-Mühringen: Beim Novemberpogrom 1938 wurde im Synagogengebäude von unbekannten SA-Männern Brand gelegt. Die von Nachbarn alarmierte Feuerwehr Mühringens konnte den Brand, der im Bereich des Toraschreines gelegt worden war, kurze Zeit später wieder löschen. Toraschrein sowie ein Teil der Bänke und Fenster wurden durch den Brand zerstört. Die Kultgegenstände konnten teilweise von den noch in Mühringen lebenden Juden gerettet werden. Im Juni 1943 ging die Synagoge in den Besitz des Finanzamtes Horb über, das sie an die Waffenfabrik Mauser (Oberndorf) für ein Lager von Gewehrschäften vermietete. Durch Artilleriebeschuss erfuhr das Gebäude gegen Kriegsende einige Schäden.

Horb-Rexingen: Beim Novemberpogrom 1938 wurde die Synagoge von SA-Leuten demoliert und angezündet. Victor Neckarsulmer, der zur Synagoge eilte, berichtete: "die Synagoge brannte an verschiedenen Stellen. SA-Leute rissen Lampen, Gedenktafeln für Verstorbene von Wänden und Becken. Mit Beilen und Äxten wurde auf Vorbeterpult, auf Bänke und Torarollen eingeschlagen. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch der Ansicht, es würde sich um eine Einzelaktion handeln… Daraufhin ging ich zu Bürgermeister Gunkel. Mit allen möglichen Ausreden suchte er die wahren Gründe zu vertuschen… Als ich zur Synagoge zurückkam, stand das Gebäude noch, aber das Gotteshaus war vollkommen ausgebrannt. Was übrig war, wurde in einer Ecke im Synagogenhof aufgehäuft und erneut angezündet. Zum Beispiel die Torarollen, Gebetbücher… Auf dem Weg nach meinem Haus wurde ich verhaftet und in das Gefängnis in Rexingen eingeliefert…" Neckarsulmer wurde nach Dachau verbracht. Nach seiner Entlassung und Rückkehr nach Rexingen übergab ihm der örtliche Landjäger eine Torarolle, die er aus dem Aschenhaufen vor der Synagoge gerettet hatte. Das Synagogengebäude wurde im Zweiten Weltkrieg als ein Holzlager der Waffenfabrik Mauser (Oberndorf) zweckentfremdet.

Laupheim: Beim Novemberpogrom 1938 wurde die Synagoge durch SA-Leute in Brand gesteckt. Die jüdischen Männer mussten, von Parteiangehörigen eskortiert, zur Synagoge marschieren, sich dort die Schmährede eines SA-Führers anhören und anschließend vor dem brennenden Gotteshaus Kniebeugen und andere Sportübungen machen.

Münsingen-Buttenhausen: Die Synagoge in Buttenhausen wurde beim Novemberpogrom 1938 zerstört. Allerdings bedurfte es zweier Anläufe, da die Feuerwehr und der Bürgermeister einen ersten Brand im Treppenhaus des Gebäudes schnell gelöscht hatten. Bei der zweiten Inbrandsetzung wurde der Feuerwehr das Löschen verboten. Die SA-Leute aus Münsingen und Buttenhausen zerschlugen die Bänke in der Synagoge, schichteten die Bücher auf einen Haufen, übergossen sie mit Benzin und setzten damit die Synagoge in Brand. Rabbiner Naphtali Berlinger war vor dem brennenden Gebäude zusammengebrochen und wurde von SA-Leuten bis zu seinem Haus gezerrt. Die Torarollen konnten vor der Inbrandsetzung gerettet werden. Auch die Bernheimer’sche Realschule sollte niedergebrannt werden, was durch den Widerstand des Bürgermeisters verhindert werden konnte.

Rottenburg-Baisingen: Am Vormittag der 10. November 1938 drangen vier auswärtige Parteifunktionäre unter Leitung des Horber Kreisleiters in die Baisinger Synagoge ein. Sie waren von der Kreisleitung in Horb instruiert worden. Den Schlüssel hatte ihnen der Bürgermeister gegeben. Der Amtsdiener des Dorfes hatte die Männer vorher durch Baisingen geführt und ihnen die jüdischen Häuser gezeigt. In der Synagoge warfen die Männer Bänke und Bücher durcheinander und zerstörten die Leuchter. Bei dieser ersten Aktion blieb es nicht. Am Abend des 10. November kamen nochmals 70 bis 80 SA-Leute aus Horb und Umgebung in Omnibussen und mehreren Autos nach Baisingen gefahren. Am Ortseingang hielt ein SA-Sturmführer an die in Zivil angetretenen Männer eine kurze Hetzrede, worauf diese in die Synagoge einbrachen und darin alles kurz und klein schlugen. Torarollen, Gebetbücher und alles Brennbare wurde vor der Synagoge in Brand gesteckt. Einige nichtjüdische Baisinger, die in der Nähe der Synagoge wohnten, stellten sich den SA-Leuten schimpfend in den Weg, weil sie Brandgefahr für die umliegenden Häuser fürchteten.

Rottweil: Beim Novemberpogrom 1938 wurde der Betsaal von SA-Männern aus Rottweil und Schwenningen demoliert. Die Torarollen, der Toraschrein, die Lesepulte, Decken, Vorhänge, Tische und Bänke wurden mit allen anderen beweglichen Gegenständen auf der Straße vor der Synagoge verbrannt. Die Gedenktafel mit den Namen der im Ersten Weltkrieg gefallenen Rottweiler Juden wird zerstört. Die Rottweiler Feuerwehr war anwesend, achtete jedoch nur darauf, dass die Nachbarhäuser nicht beschädigt wurden.

Tübingen: Beim Novemberpogrom 1938 wurde die Synagoge niedergebrannt.

Ulm: In der Pogromnacht im November 1938 wurde die Synagoge von SA-Leuten in Zivil an mehreren Stellen gleichzeitig in Brand gesteckt. Das Gebäude, das durch den Brand hauptsächlich im Innern schwer beschädigt war, wurde noch im selben Jahr abgerissen.

Quelle: www.alemannia-judaica.de .

Anhang 2: Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum Umgang mit der Vergangenheit

In einer Ansprache im Plenarsaal des Deutschen Bundestages anlässlich des 40. Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkrieges sagte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8.5.1985:

Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung,
müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind
von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung
genommen. Wer aber vor der Vergangenheit die
Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.
Wenn wir uns daran erinnern, wie rassisch, religiös
und politisch Verfolgte, die vom sicheren Tod
bedroht waren, oft vor geschlossenen Grenzen
anderer Staaten standen, werden wir vor denen, die
heute wirklich verfolgt sind und bei uns Schutz
suchen, die Tür nicht verschließen. Wenn wir uns der
Verfolgung des freien Geistes während der Diktatur
besinnen, werden wir die Freiheit jedes Gedankens
und jeder Kritik schützen, so sehr sie sich auch
gegen uns selbst richten mag. Bei uns ist eine neue
Generation in die politische Verantwortung
hereingewachsen. Die Jungen sind nicht
verantwortlich für das, was damals geschah. Aber
sie sind verantwortlich für das, was in der
Geschichte daraus wird. Die Bitte an die jungen
Menschen lautet: Lassen Sie sich nicht hineintreiben
in Feindschaft und Hass gegen andere Menschen,
gegen Russen oder Amerikaner, gegen Juden oder
Türken, gegen Alternative oder Konservative, gegen
Schwarz oder Weiß. Lernen Sie, miteinander zu
leben, nicht gegeneinander.

Anhang 3: Erklärung des Präsidenten von pax christi Bischof Heinz Josef Algermissen zum 70. Jahrestag der Reichspogromnacht

Jeglicher Diskriminierung entgegentreten!

Vor 70 Jahren, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 verwüsteten die Nationalsozialisten in Deutschland die Gotteshäuser der Juden, schändeten die Heiligen Schriften, raubten die Kunstschätze und setzten die Synagogen in Brand. Tausende Juden wurden misshandelt und in Konzentrationslager verschleppt. Mit dieser Schandtat, die als Reichspogromnacht in die Geschichte einging, setzten die Nationalsozialisten die systematische Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Bürger fort, die mit der diskriminierenden Judengesetzgebung ab dem Jahre 1933 begonnen hatte. In dieser Nacht überschritten die Nationalsozialisten die Grenze zur offenen und massenhaften Gewalt, die in den Völkermord führte. Wenige Monate später, mit Beginn des Zweiten Weltkrieges, begann die Ermordung von 6 Millionen europäischer Juden, die in den Vernichtungslagern bis zur industriellen Perfektion betrieben wurde.

Es hat in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland lange gedauert, bis sich der Staat, die Kirchen und die einzelnen Menschen ihrer Verantwortung gegenüber dem Geschehen bewusst wurden und der Opfer der Shoa öffentlich gedachten. Seit Jahrzehnten finden nun zum 9. November vielerorts Gedenkveranstaltungen statt. Weitere Gedenktage und -orte sind hinzugekommen. Aber: Kein nationaler Gedenktag für die Opfer der Shoa, kein Denkmal für die vernichteten Juden Europas in der Hauptstadt Berlin und keine der zahlreichen Gedenkveranstaltungen zur Reichspogromnacht können gewährleisten, dass die Erinnerung an die Opfer der Shoa und an die Täter im kulturellen Gedächtnis unseres Volkes verankert bleibt.

Wir beobachten bei Älteren ebenso wie bei Jüngeren durchaus auch den Wunsch nach einem Schlussstrich unter die Geschichte von Auschwitz. Mit zeitlichem Abstand und schwindendem persönlich-biografischen Bezug wachsen die Fragen: Warum erinnern? Warum sich der Verantwortung für eine Schuld stellen, die nicht die eigene ist?

Verdrängen und Abwehr aber sind gefährlich, denn: "Der Schoß ist fruchtbar noch." Antisemitismus und Rassismus sind in unserer Gesellschaft nicht nur latent vorhanden, sondern werden manifest: in der Propaganda rechtsextremer Gruppierungen, in ihrem offenen Uminterpretieren und Verharmlosen der Geschichte und in ihren aggressiven Parolen gegen Migranten. Weite Kreise der sog. gesellschaftlichen Mitte neigen dazu, solchen Auffassungen zuzustimmen. In kulturell attraktiven Angeboten wie z.B. Zeltlagern und Rockfestivals wird jungen Menschen unverblümt Nazi-Ideologie eingetrichtert. Akte körperlicher Gewalt hingegen überlassen die Täter an den Rednerpulten gerne jugendlichen "Kameradschaften". Jüngst wurden in Berlin Mahnmale der Opfer des Nationalsozialismus geschändet. Die rechtsextremistischen Gewalttaten bleiben auf erschreckend hohem Niveau. Wieder werden Menschen in Deutschland verfolgt, weil sie anders sind.

Der 70. Jahrestag der Pogromnacht fordert den Staat ebenso wie die Zivilgesellschaft heraus:

  • Die überlebenden Opfer der Shoa brauchen weiterhin die Solidarität der Gesellschaft.
  • Die Verantwortlichen für die Pogrome vor 70 Jahren sind, soweit noch nicht geschehen, trotz ihres Alters für ihre Unrechtstaten zur Rechenschaft zu ziehen.
  • Öffentliche Räume, die für die Juden in Deutschland von hoher Sensibilität sind, z.B. Denkmäler und Gedenktage, müssen von politischen Demonstrationen frei gehalten werden, um einem Missbrauch dieser Orte und Daten durch Rechtsextremisten vorzubeugen.
  • In unseren Kirchen ist einem religiösen Antijudaismus entgegenzuwirken, wenn z.B. am Karfreitag wieder für eine Bekehrung der Juden gebetet werden soll.
  • Jeglicher Form von Ausgrenzung und Diskriminierung von Mitbürgerinnen und Mitbürgern ist entschieden entgegenzutreten. Hier sind alle Bürgerinnen und Bürger gefordert, auch in Wohnzimmern und an Stammtischen fremdenfeindlichen Äußerungen zu widersprechen.
  • Das Amt eines/einer Antisemitismus-Beauftragten muss von allen im Bundestag vertretenen Parteien getragen werden und neben der originären Aufgabe der Aufdeckung antisemitischer Strömungen auch über den Zusammenhang von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit aufklären. Vor allem aber darf die Einrichtung einer solchen Institution nicht dazu führen, dass die Gesellschaft als Ganze ihre Verantwortung gegenüber den Gefahren des Antisemitismus und Rassismus an dieses Amt delegiert.
  • Es bedarf einer umfassenden politischen Unterstützung wie finanziellen Absicherung der verschiedenen Initiativen und Programme gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus. Insbesondere Konzepte einer antirassistischen Bildungsarbeit und einer Pädagogik gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit müssen langfristig gefördert werden, ebenso ihre Verbreitung und Umsetzung.

Vor 70 Jahren war es in einer zivilisierten Gesellschaft wie der deutschen möglich, dass der Staat die Vernichtung eigener Bürger betrieb, die Verbrechen aktiv von Industrie und Bürokratie unterstützt wurden und die Mehrheit der Gesellschaft teilnahmslos zusah, mitmachte oder profitierte. Nur wenige Menschen fanden den Mut dieser Politik zu widerstehen und den Verfolgten zu helfen. Der Jahrestag der Pogromnacht mahnt Staat, Kirche und Gesellschaft heute entschieden gegen alle Formen von Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus einzutreten. pax christi wird sich weiterhin in diesem Sinne engagieren.

Quelle:  Pax Christi Deutschland   - Fulda/Berlin, den 4. November 2008.

Fußnoten

Veröffentlicht am

09. November 2008

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