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Migrationspolitik in Europa: Der Krieg um die Köpfe

Nach und nach perfektioniert die EU ihr System, ungewollte Migranten auszusperren und erwünschte anzuwerben

Von Connie Uschtrin

"Wir brauchen mehr Ausländer, die uns nützen, und weniger, die uns ausnützen." Im bayerischen Wahlkampf hatte Günther Beckstein diese von ihm lange bekannte Äußerung gern wiederholt. Auch diesmal wieder gab es dafür Beifall, denn er perpetuiert damit ein verbreitetes Vorurteil, Migranten würden überwiegend die Sozialsysteme belasten, seien insofern also eher eine Zumutung, als dass sie einen nützlichen Beitrag zu dieser Gesellschaft leisteten - der ganz alltägliche Rassismus, der, bedient ihn nicht gerade Beckstein, von NPD und DVU genährt wird.

Auch in der EU-Politik hat sich der Kosten-Nutzen-Gedanke durchgesetzt, was den Umgang mit Migranten aus Nicht-EU-Ländern, so genannten Drittstaaten, angeht. Jahrelang hat Becksteins Freund Schily diesbezüglich vieles auf den Weg gebracht, was Schäuble nur noch einlösen und weiterbetreiben muss. Offiziell wird es mit "Sicherheit" begründet, was vor allem meint: Abwehr von Flüchtlingen, die nach Europa wollen und sich von den Küsten Afrikas auf den Weg dorthin begeben.

Seit Jahren wird eine gemeinsame Migrationspolitik diskutiert, die auch eine geregelte Einwanderung beinhaltet. Doch einigen kann man sich immer nur auf Abschottung. Daher wird auf dem EU-Gipfel Mitte Oktober voraussichtlich der von EU-Ratspräsident Sarkozy vorgeschlagene "Migrationspakt" für die Einwanderungs- und Asylpolitik der Europäischen Union zum Beschluss erhoben. Dieser Pakt enthält strenge Rückkehrregeln für Flüchtlinge und plädiert für die Stärkung der EU-Außengrenzen. Die Agentur Frontex soll ausgebaut werden, die neben der Koordination der Grenzschutztruppen für Forschung und Risikoanalyse an den europäischen Außengrenzen zuständig ist und vor allem im Mittelmeer von sich reden macht, wo sie Flüchtlingsboote daran hindert, zu Europas Küsten vorzudringen.

Ungeklärte Rechtssituation

Dabei scheint noch nicht einmal geklärt, unter welchen rechtlichen Bedingungen Frontex im Mittelmeer überhaupt arbeitet. Welches Recht gilt auf hoher See? Muss an Bord von Frontex-Schiffen, die unter deutscher Flagge fahren, die Genfer Flüchtlingskonvention beachtet werden? Dann dürften aufgegriffene Flüchtlinge nicht ohne weitere Prüfung in Herkunftsländer zurückgebracht werden.

Die Bundesregierung kann eine entsprechende Anfrage nicht präzise beantworten, obwohl in ihrem Auftrag seit vier Jahren von Frontex koordinierte Polizisten und Soldaten im Mittelmeer patrouillieren, Füchtlingsboote aufbringen und zurückdrängen. Aber die Regierung erklärt, sie unterstütze das Vorhaben der Europäischen Kommission, "anerkannte Standards des Völker- und Europarechts" in die Leitlinien für Operationen von Frontex einzubeziehen. Man möchte applaudieren angesichts dieses guten Willens, schließlich schafft Frontex seit Jahren Tatsachen, indem Grenzschutzbeamte Flüchtlinge unter Missachtung des Völkerrechts in angebliche Herkunftsländer abschieben. Woher die Flüchtlinge dabei wirklich stammen oder von wo sie aufgebrochen sind, spielt keine Rolle. Denn es gibt mit mehreren afrikanischen Ländern Abkommen, Flüchtlinge "zurückzunehmen", meist mit dem Druckmittel, sonst würde die Zahlung von Entwicklungshilfe eingestellt. Länder wie Libyen, die die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet haben, halten Flüchtlinge unter unkontrollierbaren Bedingungen in riesigen Auffanglagern. Für Asylsuchende fühlt sich die EU nicht zuständig, stattdessen toleriert sie das Massensterben an ihren Außengrenzen.

So problemlos sich die EU-Länder beim "Schutz" vor Flüchtlingen einigen können, so mühsam ist ein gemeinsamer Weg bei der geregelten Einwanderung. Denn die berührt empfindliches Terrain, über das Nationalstaaten gern allein entscheiden. Viele Migrationsexperten und Fachpolitiker haben erkannt, wie dringend Europa Migranten aus Nicht-EU-Ländern benötigt, besonders solche, die in ihren Herkunftsländern Ausbildung oder Studium absolviert haben. Für diese ringt die EU derzeit um ein gemeinsames Vorgehen. Das gestaltet sich schwierig, denn die Bedürfnisse nach Arbeitskräften sind verschieden, Spanien benötigt Erntehelfer, Deutschland Ingenieure.

Green Card heißt jetzt Blue Card

Nun hat man einen etwas älteren Vorschlag herausgekramt: eine Blue Card für Akademiker und Ingenieure aus Staaten außerhalb Europas soll Abhilfe schaffen. Doch die Inhaber der Blue Card sind auf ein EU-Land festgelegt und erst nach mehreren Verlängerungen und insgesamt fünf Jahren haben sie Ansprüche auf Familiennachzug, Bildungs- und Sozialleistungen. Selbst Bundesinnenminister Schäuble ist nicht allzu überzeugt von der Karte und hält die Erwartungen für "überzogen". Vermutlich wird sie ein ähnlicher Flop, wie einst die so umkämpfte Green Card, von der kaum jemand Gebrauch machte.

Was also tun? In Deutschland fehlen nach Angaben der Wirtschaft jetzt schon zwischen 200.000 und 600.000 qualifizierte Arbeitskräfte, Tendenz steigend. Die deutsche Wirtschaft beziffert die jährlichen Verluste aus dem Fachkräftemangel auf 20 Milliarden Euro. Wollte man den Bedarf an Qualifizierten und Hochqualifizierten baldmöglichst decken, müsste man gezielt Arbeitsmigranten anwerben, eine neue Generation von "Gastarbeitern" sozusagen. Das erst Ende August verabschiedete Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz wird wohl kaum Abhilfe schaffen. Es schreibt ab 2009 ein zwar abgesenktes, aber immer noch relativ hohes Mindesteinkommen von 63.600 Euro (zuvor: 86.400 Euro) vor. Unsere niederländischen Nachbarn haben eine solche Einkommensgrenze bei nur 45.000 Euro (2004) festgesetzt.

Die Bundesregierung verfängt sich in Regelungen, die bis ins letzte Detail gewährleisten sollen, dass nur die kommen oder bleiben, die sich auch wirklich als "nützlich" für Wirtschaft und Gesellschaft erweisen können und danach wieder verschwinden. Doch wie trennt man die Spreu vom Weizen? Nach und nach wird Europa versuchen, sein Anreizsystem für die gewünschten Ausländer zu perfektionieren, und zugleich Auslesemechanismen erfinden, die den gewünschten Effekt versprechen. Ein "Krieg um die Köpfe" lässt sich unschwer voraussehen.

Im Wettbewerb um die Besten und Schlausten soll klassischen Einwanderungsländern wie den USA Konkurrenz gemacht werden. Die Rechnung wird - wie sollte es anders sein - ohne die betroffenen Staaten, häufig Entwicklungsländer, gemacht, aus denen diese hochausgebildeten Menschen kommen und die sich die Ausbildung ihrer Leute etwas haben kosten lassen. "Brain drain" nennt man es, wenn ein Land seine Elite durch Abwanderung verliert. Doch darauf können die Europäer ja nicht auch noch Rücksicht nehmen.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   40 vom 03.10.2008. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

04. Oktober 2008

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