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Golgatha in Ruanda: Bis die Leichen zum Himmel stanken

Das “Kigali Memorial Centre” erzählt vom Frühjahr 1994, von unbändiger Blutlust und internationalem Versagen


Von Andrea Jeska

Es wären nur Fakten. Und dagegen ist man lange abgestumpft - Fidelle, drei Monate, mit Macheten zu Tode gehackt. Adriane, ein Jahr, durch Stiche mit einem Speer in die Augen und in den Kopf getötet. David, drei Jahre, zu Tode gefoltert. Es wären nur Fakten, gäbe es da nicht die Fotos der Kinder im Riesenformat, jeder Lichtfleck auf den Augen ist erkennbar und der Rotz unter den Nasen. Die Unschuld, die aus diesen Gesichtern in den Raum leuchtet und an der die Schuld sich messen muss.

Es wären nur einige von vielen Tausend Kindern, die in jedem Jahr in den Kriegen dieser Welt sterben. Diese aber hat man aus ihrem Grab geholt und sie wieder warm und lebendig gemacht. Durch kleine Sätze: Über das Lieblingsessen, das erste und wichtigste Wort, den liebsten Freund.

Wenn Zurückhaltung bei der Dokumentation von Grauen ein Indiz dafür ist, wie gut die Wunden verheilt sind, dann wurde das Genozid-Museum von Kigali, der Hauptstadt Ruandas, mit offenen Wunden geschaffen. Nur schwer lässt sich diese Gedenkstätte ertragen, die ohne Rücksicht auf Empfindlichkeiten vom Völkermord erzählt, den Völkermord zu nennen, sich die Staaten im UN-Sicherheitsrat so lange weigerten, bis die Leichen im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel stanken.

Mindestens ein Toter pro Minute, und das 24 Stunden lang

Das Kigali Memorial Centre ist ein vieleckiger Bau mit einem futuristisch anmutenden Kuppeldach. Auf einem Hügel in der Stadt gelegen, eingewoben in die Kakophonie von Mopeds und Marktschreiern. Roter Staub weht über das Dach und durch die drei Gärten - den Garten der Einheit. Den der Vielfalt. Den der Harmonie. Begriffe, die für ein Nie wieder stehen sollen.

Der Name Memorial Centre wahrt Neutralität, die Ausstellung tut es nicht. Sie schafft eine Intimität zwischen Besuchern und Opfern, die keine Distanz erlaubt. Nichts bleibt erspart. Den Afrikanern nicht die Einzelheit beim Abschlachten ihrer Brüder und Schwestern, damals im frühen Sommer des Jahres 1994. Dem westlichen Besucher nicht das Entsetzen über das Versagen seiner Welt, die eine zivilisierte sein will. Deren Regierungen haben dem Morden erst Vorschub geleistet, es dann teilweise sogar unterstützt. Als die Opfer der Massaker zu Hunderten übereinander lagen, bahnten französische Truppen den Tätern einen Korridor ins kongolesische Exil, um sie indifferenter Wohltätigkeit und Geschäftstüchtigkeit von Hilfsorganisationen zu überlassen.

Vor dem Genozid, während des Genozids, nach dem Genozid heißen die drei Ausstellungsteile, die in Text und Bild sowie Videoclips den Besucher durch die Geschichte Ruandas bis in die Gegenwart leiten. Von der seltsamen Rassenlehre, die der englische Entdecker und selbsterklärte Ethnologe John Hanning Speke zu Gunsten der hellhäutigen Tutsi aufstellte, bis zu Kofi Annans zynischer Anweisung, die Mission UNAMIR solle sich jeglicher Einmischung enthalten, ist dies eine lange, bedrückende Geschichte über die arrogante Grausamkeit europäischer Staaten. Ein Lehrstück über politische und menschliche Ignoranz, obwohl man sich doch in Europa geschworen hatte, einem Völkermord nie wieder untätig gegenüber zu stehen.

Die Ausmaße der Judenvernichtung hat der Genozid in Ruanda lange nicht gehabt, unübertroffen aber ist und bleibt er in der rasenden Geschwindigkeit und der ungebremsten Mordlust, mit der er sich vollzog. Um fast eine Million Tutsi und Hutu zu ermorden, brauchte der durch das Stillschweigen des Westens sanktionierte Pöbel nur knapp sechs Wochen. Rechnerisch bedeutete dies: mindestens ein Toter pro Minute, 24 Stunden lang.

Über das, was geschah, gibt es viele Bücher, Filme, Zeugenaussagen. Wie Kinder Kinder töteten, Nachbarn Nachbarn und Hutu-Männer ihre Tutsi-Frauen, Hutu-Frauen ihre Halb-Tutsi-Kinder. Wie das Land in einem kollektiven Blutbad versank und es am Ende aussah wie in einem Schlachthaus - man weiß es. Auch, dass den Opfern kein gnädiger Tod beschieden war, sondern die meisten mit Macheten zerhackt, ihnen die Gliedmaßen einzeln abgetrennt wurden, sie nicht sofort, sondern oft tagelang starben. Dass die Kirchen das Werk der Todesschwadronen duldeten und sich Bischöfe an der Selektion der Tutsi beteiligten, auch diese Nachricht hat die Welt längst erreicht. Vielleicht wäre man erschüttert, nicht aber innerlich wie erfroren, würden die Ausstellungsmacher auf der abstrakten Ebene des geschichtlichen Verlaufs bleiben.

Das aber tun sie nicht. Sie häuten Schicht um Schicht. Sie zeigen mit dem Finger auf die Schuldigen. Die Belgier, die den Tutsi den Vorzug gaben, und so erst eine Rassentrennung erschufen, die Ruanda bis dahin nie kannte. Die ruandischen Präsidenten, die das lange unterdrückte Volk der Hutu gegen die Tutsi hetzte, schon Anfang der sechziger Jahre, gleich nach der Unabhängigkeit. Oder die Franzosen, die auf dem Höhepunkt des Massakers einen millionenschweren Waffendeal mit den Mördern abschlossen und dann Soldaten schickten. Nicht, um das Töten zu unterbinden, sondern um Franzosen zu evakuieren und den Hutu-Verbündeten die Flucht zu ermöglichen. Die Mitglieder des Sicherheitsrats, die sich nicht durchringen konnten, dem flehentlichen Appell des UNAMIR-Kommandeurs, des kanadischen Generals Romeo Dallaire, Folge zu leisten und weitere Soldaten zu entsenden. Ungeachtet der eindeutigen Nachrichten über das Ausmaß der Pogrome. Die USA, die sich schließlich bereit erklärten, Panzer zu schicken, diese aber nicht einfach den afrikanischen Staaten zur Verfügung stellen, sondern für eine exorbitante Summe an die UNO vermieten wollten. Bis man den Preis herunter handeln konnte, waren zwei Wochen vergangen und weitere 300.000 Menschen tot.

Schuldig ist auch die belgische Regierung, die ihre UN-Soldaten abzog, gerade dann, als das Land sie am meisten brauchte, schuldig sind natürlich auch die Hutu-Extremisten, die sich in Bestien verwandelten und in einen Amoklauf sondergleichen gerieten.

Man wünscht sich die Unschuld des Nicht-Wissens zurück

Die UN-Resolution 260, die Völkermord zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärt, war zum Zeitpunkt des Ruanda-Genozids schon 43 Jahre in Kraft. Und doch wurde Ruanda zu einem Treibhaus des Todes.

Die Botschaft, die das Memorial Centre seinen Besuchern vermittelt: Immer wieder kann es geschehen. Solange Menschen in Kategorien von Rassen und Gruppen denken, sich überlegen wähnen, Unterdrückung und Manipulation als Machtmittel wählen, sich bereichern, andere benutzen und am Ende ihre Hände in Unschuld waschen wollen.

Kann man der Macht der Bilder vertrauen, wenn sie Bosnien oder Kambodscha nicht verhindert haben? Im Memorial Centre fügt man lieber noch das Wort hinzu. In Kinyarwanda, Englisch und Französisch wird der Horror in adjektivischer Vielfalt erläutert: “Frauen wurden geschlagen, vergewaltigt, gedemütigt, beschimpft und schließlich ermordet. Kinder sahen zu, wie ihre Eltern gefoltert, geschlagen und getötet wurden. Danach wurden ihre kleinen Körper in Stücke geschnitten, zertrümmert, pulverisiert und verscharrt”, heißt es.

Als sei auch das Wort noch nicht genug, um sicher zu gehen, dass aus dem Nie wieder nicht bei nächster Gelegenheit im nächsten Land ein Schon wieder wird, werden den Besuchern vier Protagonisten zur Seite gestellt, die in Videoclips ihre ganz persönliche Geschichte aus dem Frühjahrs 1994 in Ruanda erzählen. Die man nach und nach kennen lernt, als seien es neue Bekannte. Die einen Namen tragen, ein Gesicht haben und einmal Allerweltsträume hatten. Die einst Menschen liebten, die nun nicht mehr existieren. Dem einen waren es die Eltern, dem anderen die Frau und die Söhne, der dritten der Mann und der vierten die Schwestern. Der Besucher wird mitgenommen in ihre Schmerzen und hört ihre letzten Worte.

Vier von einer Million, das ist wenig. Doch ihr Zittern, ihr Händeringen, ihre schmerzhafte Suche nach Worten, um zu beschreiben, was nicht zu beschreiben ist - es reicht, um das Ausmaß des Leidens zu verstehen.

Am Ende des fast zweistündigen Rundgangs sieht man Besucher dieses Museums in stillem Entsetzen weinen. Nicht im ersten oder zweiten Ausstellungsteil, dort herrscht noch kollektive Erstarrung in allen Gesichtern. Das Weinen beginnt erst in der letzten Abteilung: Nach dem Genozid. Wenn die schon vertrauten Protagonisten von einem Weiterleben erzählen, bei dem es keine Erlösung von den Erinnerungen gibt. Wie die kleinste der Schwestern jene war, die am längsten brauchte, um in der Latrine zu sterben, in die man sie mit den anderen Kindern warf. Und am längsten schrie. Wie der Sohn im Todesaugenblick den Vater um Hilfe anflehte, und der nicht helfen konnte. Wie der Mann, dem sie die Glieder abschlugen, noch Stunden zuckte.

“Die Straßen waren mit Körpern übersät. Hunde fraßen das Fleisch verwesender Leichen. Ruanda war tot”, heißt es am Ende der Geschichte, die das Museum erzählt. Man fährt nach diesem Besuch durch dieses Land und wünscht sich die Unschuld des Nicht-Wissens zurück. Als habe man es nicht anders erwartet, nimmt man die auf einer Wiese zum Trocknen ausgebreiteten Kleidungsstücke als Leichen wahr, ekelt sich vor streunenden Hunden und weicht vor jedem Bauern zurück, der mit einer Machete in der Hand an einem vorüber geht.

Einige von denen, die sich die Hände mit schmutzig gemacht haben, nicht durch Taten, sondern durch Untätigkeit, haben geholfen, das Museum zu bauen. Die William Jefferson Clinton Foundation und die Botschaft Belgiens zum Beispiel.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   30 vom 25.07.2008. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

29. Juli 2008

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