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Tanger in Europa

Die Grenzen zwischen Tourismus und Migration verwischen sich


Von Mark Terkessidis

In diesen Tagen findet ein regelrechter Exodus statt: Aus ganz Westeuropa setzen sich voll bepackte Autos in Gang und rollen entlang der spanischen Mittelmeerküste nach Algeciras, wo die Fähren nach Tanger ablegen. Seltsame Touristen sind hier unterwegs, denn sie reisen gewissermaßen von der einen Heimat in die nächste. In großer Zahl beziehen derzeit die Deutschen, Franzosen oder Niederländer marokkanischer Herkunft ihre Häuser und Wohnungen im Herkunftsland. Dabei beleben sich plötzlich drei Viertel an den Rändern von Tanger - Idrissia, Mabrouka und Hammet Belgique - die ansonsten über zehn Monate im Jahr so leer wirken wie Touristenorte im Winter.

Tatsächlich haben diese Stadtteile etwas mit Tourismus zu tun, denn hier haben sich die Rückkehrträume der “ersten Generation” in Feriendomizile verwandelt. Nur für ein, zwei Jahre wollten die marokkanischen Arbeiter in den sechziger Jahren nach Westeuropa, doch der Aufenthalt wurde unversehens immer länger. Viele begannen damals, in der vermeintlichen Heimat ein Haus zu bauen. Bald boten findige Bauunternehmer den Auswanderern fertige Häuser und Wohnungen an. Oftmals fand ja doch keine Heimkehr mehr statt, und für die Kinder gab es ohnehin kein “Zurück”.

Entstanden ist so eine ganz neue Form von Mobilität, an der Kreuzung zwischen Migration, Tourismus und Sesshaftigkeit. Zweifellos pflegen die Menschen mit Migrationshintergrund, die den Sommer “zu Hause” verbringen, dort rege Beziehungen zu Familienmitgliedern und Bekannten, aber am Alltagsleben nehmen sie fast überhaupt nicht teil. Das Raumgefühl dieser Personengruppe ließe sich als “touristische Intimität” bezeichnen. Man ist “intim” mit der direkten Umgebung in dem Sinne, dass man eine gemeinsame Herkunft teilt, zumeist die Sprache beherrscht und in einem gewissen Maße am familiären Leben teilnimmt. Doch zugleich ist man wie ein Urlauber nur vorübergehend da und wird von den Einheimischen wie ein Besucher aus dem Westen betrachtet - als jemand, der Geld und lockere Sitten mitbringt. Letztlich liegen Idrissia, Mabrouka und Hammet Belgique nicht mehr in Tanger, sondern irgendwo in Europa - es handelt sich um so etwas wie nicht anerkannte Außenbezirke von Amsterdam, Brüssel oder Madrid.

Ähnliche Außenbezirke findet man auch auf der anderen Seite des Mittelmeeres, an Spaniens Costa del Sol. In einer schier endlosen Aneinanderreihung von “urbanizaciónes” wohnen “Residenten” aus Westeuropa; manche für ein paar Wochen, andere für den ganzen Winter, wieder andere für den Rest ihres Lebens. Die Häuser in diesen Siedlungen sind stets in einer Art dörflicher Struktur angeordnet, nach außen verschlossen, ohne Verbindung zu anderen Siedlungen, aber angebunden an die nächste Schnellstraße und den nahegelegenen Flughafen.

Dörfer sind die Siedlungen freilich nicht: Es gibt praktisch keinen öffentlichen Raum - keine Plätze, Kirchen, Denkmäler und oft nicht einmal Kneipen. Die Orte besitzen kein Gedächtnis. Die Fassaden sind immer neu, die Existenzform gänzlich privat und das Leben ohne Höhepunkte und Schwierigkeiten. Die Briten, Niederländer oder Deutschen, die hier leben, bleiben gewöhnlich unter sich, in veritablen “Parallelgesellschaften”. Dabei wird oft ein Lebensstil konserviert, der sich in den Heimatländern längst in Auflösung befindet - so “englisch” wie in manchen spanischen Küstenorten ist kein Pub in England mehr. Während die Residenten mit Familie und Bekannten “zu Hause” in regem Kontakt bleiben, pflegen sie zur näheren Umgebung ein eher distanziertes Verhältnis. Viele haben zwar den Versuch unternommen, Spanisch zu lernen, doch oft sind sie gescheitert. Für lokalpolitische Angelegenheiten interessieren sie sich selten - viele sind nicht einmal offiziell gemeldet.

Sind die Eigentümer einer Wohnung an der Costa del Sol nun Touristen oder Einwanderer? Sind die Bewohner des Viertels Mabrouka in Tanger Einheimische oder vielleicht doch eher Urlauber? Die Grenzen zwischen Tourismus und Migration haben sich auf eine seltsame Weise verwischt. Längst ist nicht mehr klar, wie das “zu Hause” eigentlich funktioniert für Menschen, die hier und dort leben und an mehreren Orten anwesend und abwesend zugleich sind. Dabei sind ganz neue Verhältnisse von Nähe und Ferne entstanden: Orte in Marokko oder Spanien liegen nun nahe an Düsseldorf oder Manchester, aber fern von den Städten in der geografischen Nachbarschaft. Nun ist die Flüchtigkeit der beschriebenen Personen keineswegs ein Randphänomen, sondern in der globalisierten Welt durchaus ein Normalfall. Und so stellt sich die Frage, wie eigentlich Demokratie funktionieren muss, wenn die Bürger des Gemeinwesens nicht mehr im traditionellen Sinne sesshaft sind. Der Rückgriff auf Modelle der Vergangenheit wie etwa “Integration” hilft hier nicht weiter. Die Aufgabe der Zukunft ist die Entwicklung von Ideen für eine neue Form der Demokratie, die eine Teilhabe in Bewegung ermöglicht.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   28/29 vom 11.07.2008. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

16. Juli 2008

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