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Drei Kugeln auf Dutschke

Aktion und Reflexion: Mit dem Attentat auf den Studentenführer war die Gewaltfrage nicht mehr zurückzunehmen - eine Erinnerung an den 11. April 1968

Von Eckhard Siepmann

“Unsere Gewalt gegen die unmenschliche Staatsmaschinerie, gegen die Manipulationsinstrumente ist die organisierte Verweigerung. Wir stellen uns mit unseren unbewaffneten Leibern, mit unserem ausgebildeten Verstand den unmenschlichsten Teilen der Maschinerie entgegen, machen die Spielregeln nicht mehr mit, greifen vielmehr bewusst und direkt in unsere eigene Geschichte ein. Ausgangspunkt dieser Ãœberlegungen ist, dass die politische Machtergreifung einer Gruppe, Clique oder auch spezifischen Klasse für die gegenwärtige Phase der gesellschaftlichen Entwicklung keine Möglichkeit mehr zu sein scheint. Der Prozess der organisierten Verweigerungs-Revolution ist ein für die Menschen sichtbarer und von ihnen verursachter tendenzieller Zusammenbruch der etablierten Apparate. Die selbsttätigen Menschen werden ihre eigenen Kräfte dann endlich als die gesellschaftlich mächtigen erkennen, werden ihre erlittene Unmündigkeit und Apolitizität im Verlaufe ihres immer bewusster werdenden Kampfes verlieren.”

Rudi Dutschke im Vorwort zu Ché Guevara, Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam

Als ich hörte, dass Rudi Dutschke Anfang 1968 beschlossen hatte, mit seiner aus Illinois stammenden Frau in die USA überzusiedeln, musste ich vor mir selbst das Gefühl verleugnen, eine Welt ginge unter. Dutschke mag private Gründe gehabt haben, es wird dabei aber auch seine wachsende Isolation im beginnenden Zerfall des antiautoritären “Lagers” eine Rolle gespielt haben.

1968 war das Jahr der um sich greifenden Ratlosigkeit. Wir spürten, die “Bewegung” war zu groß geworden für die bestehenden Strukturen, niemand hatte eine Vorstellung, wie eine den neuen Gegebenheiten angemessene Organisationsform aussehen könnte. Dass unsere “Initialzündung” nicht ansteckend auf die umworbenen Arbeiter wirkte, wurde mit jedem Tag deutlicher, ein neuer Vermittlungsmodus war nicht in Sicht. Die Bereitschaft, auf die staatliche Repression und Gewalt mit Gewalt zu antworten, wuchs, ohne dass klar war, wohin eine gesteigerte Militanz führen sollte.

Dieser Perspektivlosigkeit, die zunächst nur zu erahnen war und nicht ausgesprochen wurde, stand ein unerschöpfter Elan gegenüber, ein hunderttausendfacher Wille, die Gesellschaft in Richtung Demokratie und “Befreiung von unbegriffenen Mächten” zu verändern. Dass diese täglich wachsende Spannung von Entschlossenheit und Ratlosigkeit auf einen desaströsen Ausbruch zusteuerte, war unterirdisch spürbar. Die Eruption, so sollte sich schon bald zeigen, zerlegte wie ein Katalysator die produktiven Widersprüche der Bewegung, ihre Elemente verselbstständigten sich, trieben in einen Kampf gegeneinander.

Im September 1966 war ich nach Berlin gekommen, um Bahman Nirumand, damals mein Schwager, bei der Redaktion seines Buches über den Schah von Persien behilflich zu sein. Wir arbeiteten bis tief in die Nacht, und beim Bier in der benachbarten Kneipe hatten wir das Manuskript am Körper versteckt, aus Angst vor einem Einbruch des persischen Geheimdienstes. Einmal waren die Papierstöße in eine BZ, Springers Kampfblatt, eingewickelt, mit dem reißerischen Aufmacher: Rudi Dutschke dreht an einem dollen Ding. Dazu ein Foto: Rudi mit gebleckten Zähnen, klaren sanft-heftigen Augen. Ich hatte nie vorher von ihm gehört. Es war eine Liebe auf den ersten Blick.

Meine erste kurze private Begegnung mit Rudi ereignete sich kurz danach im Treppenhaus von Wolfgang Neuss, bei dem ich etwas abgeben wollte. Dieser kam mir in Begleitung von Dutschke und Hans Magnus Enzensberger entgegen. Die Übergabe war rasch geschehen. Rudi war aber mit einem schnellen Abschied nicht einverstanden. Er legte den Arm um meine Schultern: Wie geht es dir? Was machst du? Diese Art von Zärtlichkeit, erst recht von einem mir persönlich nicht bekannten Menschen, irritierte mich maßlos, ich war verlegen. Dutschke, dieser unvergleichliche Feuerkopf, war gleichzeitig unendlich sanft und offen.

Ein paar Tage vor Weihnachten 1967 rief eine meiner Schwestern mich an: Ob wir nicht den Weihnachtsgottesdienst in der Gedächtniskirche mit ein paar Mahnungen zum Vietnamkrieg bereichern sollten? Wir wollten Schilder vor dem Altar aufstellen und uns dann ruhig zur Gemeinde setzen. Drei Mitstreiter waren schnell gewonnen. Ich kramte also eine große weiße Pappe heraus, schrieb darauf mit Ölkreide “Frieden auf Erden - Napalm auf Vietnam” und machte mich auf zum Kurfürstendamm. Was wir nicht wussten: Rudi Dutschke hatte Wind von der Sache bekommen und beschlossen, an dem Gottesdienst teilzunehmen.

Als die Orgel zu spielen begann, war es das Zeichen für uns. Wir wollten nacheinander einmarschieren, den Anfang sollte ich machen. Das Eindringen in ein Ritual fiel mir durchaus nicht leicht. Ich schnappte mein Schild, ging oder spurtete, ich weiß es nicht mehr, durch den Mittelgang des kerzenerleuchteten Kirchenschiffs zum Altar und stellte das Ding ab. Die nach mir Kommenden erreichten den Altar schon nicht mehr. Die Gottesdienstbesucher, unter ihnen viele Touristen, stürzten sich empört auf sie und nahmen Schilder und Transparente weg. Rudi nutzte das Durcheinander, um sich zur Kanzel durchzuarbeiten und begann: “Liebe Brüder und Schwestern …” Weiter kam er nicht. Er wurde herunter- und in Richtung Ausgang gezerrt, dabei schlug ihm ein Rentner und früherer SA-Mann mit einer Krücke heftig auf den Kopf. Aus einer Platzwunde rann Blut über Rudis Gesicht, fieberhaft suchten wir nach Möglichkeiten, ihn in ein Krankenhaus zu schaffen. Der Hitler-Mann war in den nächsten Tagen der Held seiner Neuköllner Stammkneipe, es raschelte im theologischen Blätterwald.

Dutschke war fleischgewordene Dialektik - eine Dialektik diesseits des theoretischen Unrats des autoritären Sozialismus, eine Dialektik des jungen Marx, den Rudi - neben Luxemburg und Marcuse - unentwegt im Munde führte. Für das Fleischwerden dieser jugendlichen Dialektik gab es keinen schöneren Anblick als den demonstrierenden Dutschke, der immer wieder eine schwere Tasche mitschleppte - vollgestopft mit Büchern. Das Hin und Her zwischen Aktion und Reflexion ist sein Bewegungselement - wobei die Reflexion nicht nur der Theorie gilt, sondern auch rekursiv der Aktion selbst: Die Aktion ist nichts weniger als auf die Veränderung der Verhältnisse, auf die Veränderung der beteiligten Menschen gerichtet. Nur wenige Sätze treffen wohl den Kern von Dutschkes politischem Denken - und zugleich den Kern der Revolte - genauer als das von ihm immer wieder zitierte Diktum von Marx ad Feuerbach: dass die Umstände von den Menschen verändert werden und “der Erzieher selbst erzogen werden muss” - zielend auf einen libertären Kommunismus.

Zunächst wirkte dem Zerfall der Revolte noch der für Februar 1968 in Berlin geplante internationale Vietnam-Kongress wie eine gewaltige Klammer, die alles zusammenhielt, entgegen. Es herrschte eine euphorische Stimmung wie nie zuvor, Gruppen aus vielen Ländern kamen zusammen, es hagelte begeisternde Grußbotschaften, es war die Geburtsstunde der Kinderladenbewegung, Dichter und Denker saßen einträchtig nebeneinander, erste und dritte Welt waren aufs heftigste vermittelt. Das Podium vor dem kochenden Saal glich Leonardos Mailänder Abendmahl, mit Dutschke als Jesus und Salvatore als Johannes. Die tätige Unduldsamkeit Andersdenkenden gegenüber und die Dynamitstäbe im Gepäck des Verlegers Feltrinelli waren Schatten von Wolken, die sich gerade erst bildeten.

Am 18. Februar, dem Tag der Demonstration des Vietnam-Kongresses, war Rudi um zwei Uhr morgens nur knapp der Verfolgung durch zehn Taxifahrer entkommen. Der Berliner Senat hatte für den 21. Februar zu einer Gegenkundgebung vor dem Rathaus Schöneberg aufgerufen, um dem anschwellenden Hass der Frontstadtbewohner, die der Polizei nicht mehr die “Drecksarbeit” überlassen wollten, ein Ventil zu schaffen. Unter der Freiheitsglocke, symbolische Klimax des damaligen Berliner Selbstverständnisses, an dem Ort, an dem Kennedy den vom Kommunismus Bedrängten seiner Solidarität versichert hatte, entlud sich die von Springer geschürte Kollektivwut in Exzessen einer Mordlust, die sich nicht mehr im Symbolischen zu halten vermochte: Ein blasser schwarzhaariger Angestellter wurde von jemandem als Dutschke identifiziert, gejagt und durch eine Scheibe gedrückt. Er wäre wohl nicht mit dem Leben davon gekommen, wenn ihm nicht ein Zufall zu Hilfe gekommen wäre. “Vergast Dutschke!”, schrieb jemand in das Treppenhaus von Rudis Wohnung am Cosima-Patz.


Im April 1968 wohnte ich mit Ina Siepmann und ihrem Sohn Fritz in einer kleinen Wohnung in der Charlottenburger Sophie-Charlotte-Strasse. Am 11. April, einem sonnigen Tag, holte ich Fritz um 17 Uhr vom Kindergarten ab. Ein paar Schritte vom SDS-Zentrum entfernt sah ich eine Menschenmenge auf dem Bürgersteig, am Straßenrand Kreidestriche. Kaum war ich zuhause angekommen, rief eine Freundin an: Attentat auf Rudi. Das Radio meldete, er läge schwerverletzt im Krankenhaus. Bald wurde hinzugefügt: der Täter sei ein junger Arbeiter aus München. In dem Gemisch aus maßloser Trauer und Wut überwog der Schmerz.

Die Wut entlud sich, als sich am Abend der erste Zug zum Springerhaus formierte. Diese Stunden haben viele Beteiligte verändert. Bommi Baumann formulierte in seiner Reinickendorfer Proll-Diktion: “Bei dieser Demonstration auf dem Weg zur Kochstraße ist bei mir mein ganzes Leben, alles nochmal abgelaufen, verstehst du. Alle Schläge, die ich gekriegt habe, was du so erlebst, was du als Ungerechtigkeit empfindest … Als ich denn über die Strasse bin und diese Fackeln und dieses rufen Ru-di Dutsch-ke, das war eben für mich eine Verkörperung der ganzen Geschichte. Die Kugel war genauso gegen dich, da haben sie das erste Mal voll auf dich geschossen.”

Mit einem herzerfrischenden Krachen sackten die hohen braunen Scheiben des Springer-Hauses in sich zusammen, von hinten fackelte der Schein der lichterloh brennenden Auslieferungswagen der Bild-Zeitung. Zu meiner Ãœberraschung sah ich Ina eifrig beim Barrikadenbau. Sie, die bisher in einer Apotheke gearbeitet und dem Geschehen eher interessiert zugeschaut und zugehört hatte, riss nun Reklamewände ein und türmte das Holz auf der Strasse auf. Zwei Jahre später schloss sie sich der “Bewegung 2. Juni” und dann der RAF an.

Als wir gegen morgen reichlich müde und zerschlagen ins Bett gingen und kaum eingeschlafen waren, dröhnte plötzlich heftiges Klopfen von der Eingangstür her. Als ich öffnete, stand ich einem halben Dutzend Beamter mit Maschinenpistolen gegenüber: “Hausdurchsuchung”! Auf meine Frage nach einem Durchsuchungsbefehl kam das notorische “Gefahr im Verzug!” Die ganze Wohnung wurde auf den Kopf gestellt, der Keller und das Auto durchsucht. Dann zog die Camarilla erfolglos ab.

Ein paar Tage vorher hatte Peter Urbach angerufen. Ob wir etwas für ihn kurz aufbewahren würden? “Ich hole es später ab.” “Klar, Peter, komm vorbei.” Als er mit einem grau-braunen Paket ankam, fragte ich: “Sag mal Peter, wie kommt es eigentlich, dass von allen Berliner Arbeitern du der einzige bist, der zu uns hält?” “Tja, Ecki, die einen verstehen es und die anderen nicht”, war die vage Antwort des Agenten des Berliner Verfassungsschutzes. Das Paket stand gut verschnürt da herum, so sprachlos, so unaufdringlich - einer Eingebung folgend schaffte ich es aus dem Haus, ohne Peter zu verständigen. Die Bombe, die das nächtliche Kommando finden sollte, erfüllte keinen ihrer Zwecke - anders als die Molotow-Cocktails, die der Berliner Senat über Urbach zum Abfackeln der Springer-Autos nach dem Attentat auf Dutschke zur Verfügung gestellt hatte.


Rudi sah ich erst ein halbes Jahr nach dem Attentat wieder. Eine Gruppe von SDSlern, Michael und Peter Schneider, Gaston Salvatore, Christian Semler und ich, kurz war auch Ulrike Meinhof dabei, fiel im November in die Villa des Komponisten Henze in der Nähe von Rom ein, wo Rudi für drei Monate lebte. Nach den Schüssen in den Kopf war es eine ungeheuere Erleichterung, ihn wieder - wenn auch manchmal Worte suchend - sprechen zu hören. Er war gespannt auf Neuigkeiten aus Berlin. Lustig zu sehen, wie vor dem Abendessen die Straßenkämpfer ihre Finger in silberne Wasserschüsselchen tauchten, die von den Hausangestellten gereicht wurden. Eine unscheinbare Szene hat sich mir eingeprägt. Als ich in der Diskussion die Steigerung der Militanz bei der Straßenschlacht am Tegeler Weg als eine entwickelbare Möglichkeit für die Zukunft einschätzte, widersprach Christian Semler heftig - worauf Rudi ihn zur Seite nahm und ihn irgendwie zu ermahnen schien. Wir spielten zusammen Krocket, während weiße Zicklein im paradiesischen Garten von Henze herumsprangen und Windhunde miteinander spielten. Hinter roten Heckenrosen, die an umfriedenden Mauern emporwuchsen, hockten in den Olivenbäumen Zeitungsleute mit Teleobjektiven.

Der Mordanschlag hatte die schnell gewachsene Menge der Antiautoritären in Leute geteilt, die Gewalt ablehnten, und solche, in denen die Gewaltbereitschaft wuchs. 1970 fiel in Dahlem der erste Schuss von Seiten der sich verästelnden Rebellion: Befreiung Baaders. Im gleichen Jahr veröffentlichte Bernward Vesper in seiner Flugschrift-Reihe den Briefwechsel zwischen Dutschke und dem Attentäter Bachmann. Vesper schrieb zu dieser Zeit an seinem Roman Die Reise, der in unvergleichlicher Weise die psychische Disposition der an der Revolte Beteiligten offen legt. All the Children are insane, erkannte 1968 der Sänger der Doors, Jim Morrison. Vesper tötete sich 1971 - im gleichen Jahr ließ eine Überdosis Heroin den Gesang von Morrison verstummen. Das Leben von Andreas Baader endete 1977 in einer Gefängniszelle.

Rudi Dutschke erlag 1979 in Dänemark den Spätfolgen des Attentats. Das sportliche DDR-Kind war unter all den leicht verstörten Kindern als ein unschuldig-ausgeglichenes erschienen. Vielleicht ist das der tiefere Grund für den Eindruck von irritierender Fremdheit, von einer Art heiligen Ernstes, der von ihm ausging. Frank Böckelmann, wie Dutschke Mitglied der Subversiven Aktion, dem wichtigsten Vorläufer der antiautoritäre Bewegung, hat Dutschke in einer Weise charakterisiert, die erkennen lässt, dass dieser Mensch, der allgemein als Prototyp des “68ers” angesehen wird, anders war als alle anderen: “Von Dutschke ging eine Atmosphäre der Fremdheit aus, die zugleich begeisternd war. Er hatte wenig im Sinn mit unserer Art von Zynismus und unserer Gewohnheit, alles mehr oder weniger spielerisch anzugehen. Von ihm ging so etwas Strenges, Düsteres und gleichzeitig Entschlossenes aus. Wie er die Verhältnisse darstellte, konnte man sie wiedererkennen und gleichzeitig nicht wiedererkennen. Diese Zwiespältigkeit übte eine seltsame Faszination aus. Er war auch umgeben von so einer Art Reinheit, man möchte fast sagen: Keuschheit. Er hatte etwas Asketisches an sich. Diese Radikalität, diese Ahnung von einer tieferen Unschuld, die von ihm ausging - während wir uns immer schon ›schmutzig‹ gefühlt haben und schmutzig sein wollten.”

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   15 vom 11.04.2008. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

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Veröffentlicht am

12. April 2008

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