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Verblasster Ruhm eines Wirtschaftswunders

Chinas Aufstieg: Hat sich das Wachstumsmodell erschöpft?

Lutz Herden

Als Deng Xiaoping vor gut zehn Jahren starb, scharten sich die Erben um den toten Kaiser und beschworen sein Vermächtnis. Wenn die Wurzeln recht gewachsen sind, werden auch die Triebe gut, sagt ein chinesisches Sprichwort. Nur änderte das nichts daran, dass zunächst Deng und später der langjährige KP-Generalsekretär Jiang Zemin ein gespaltenes Vermächtnis hinterließen. Gewiss schien zu Beginn des 21. Jahrhunderts China stabil wie nie zuvor. Es hatte sich als Weltmacht etabliert und Wirtschaftsreformen bewältigt, die als unumkehrbar galten.

Die Volksrepublik hatte ihre Gründungscharta weit hinter sich gelassen, mit der sie am 1. Oktober 1949 ins Leben getreten war. Die stolzen Jahrzehnte (s. unten) des Aufstiegs seit 1978 zerbrachen Maos “Eiserne Reisschüssel”, aus der alle und alle gleichermaßen essen sollten. Inzwischen galt die Tischordnung der großen, kleinen und ganz großen Schüsseln (und Löffel). Nicht mehr gleich, sondern reich, hieß die Parole. Es gab von Nord nach Süd eine prosperierende Küstenregion, beherrscht vom Hang zu Megacity und Boomregion, es regierten Zuversicht und das Gespür für gute Geschäfte. Den Erben dieses Goldenen Zeitalters - ab 2002 beziehungsweise 2003 hießen sie Hu Jintao als KP-Generalsekretär und Wen Jiabao als Ministerpräsident - musste sich allerdings damit herumschlagen, dass manche Wurzel faulte. Sie hatten sich der Tatsache zu stellen, dass die Gründerzeit des “Alles geht” einer Gipfelbesteigung glich, die irgendwann einen ganz gewöhnlichen Abstieg nach sich ziehen konnte, wie ihn Millionen Chinesen längst hinter sich hatten. Kurzum, Chinas vierte Führungsgeneration musste umsteuern, und sie tat es nach Kräften.

Natürlich ließ sich die emblematische Gigantomanie Shenzhens, Shanghais oder Pudongs nicht plötzlich als Irrtum verwerfen und aufgeben. Aber der teils desaströse und von der reinen Marktwirtschaft kontaminierte Zustand eines Gesundheitswesens zum Beispiel, bei dem eine adäquate Behandlung nur noch als Ware zu haben war, ließ sich durchaus verändern. Es spricht vieles dafür, dass Hu Jintao und Wen Jiabao dies frühzeitig erkannt haben. In Europa blieb weitgehend ausgeblendet, wie Chinas Regierung im Frühjahr 2003 durch energisches Handeln die Sars-Krise eindämmte und eine Ausbreitung der Lungenkrankheit über die Grenzen Chinas hinaus verhinderte. Allein die von Wen Jiabao verfügte Ernennung von Vizepremier Wu Yi zur Gesundheitsministerin erwies sich als Glücksgriff. Ihr Krisenmanagement, aber auch das von Generalsekretär Hu, der Spitäler besuchte und die am stärksten von Sars betroffene Provinz Guangdong bereiste, war nicht nur wirksam - es bezeugte einen offenen und öffentlicheren Umgang mit derartigen Herausforderungen als bis dato üblich.

Es hat gewiss nichts Spekulatives, den Eindruck zu formulieren, dass Hu Jintaos und Wen Jiaboas Programmatik der “harmonischen Gesellschaft” und des “inneren Friedens” auf Begriffe und Formeln zurückgreift, wie sie auch in der Staatslehre des Philosophen Kung Fu-tze (Konfuzius / 551 bis 479 v. u. Z.) zu finden sind. Kungs Gesellschaftsbild reflektiert die permanente Gefahr, der ein auskömmliches Zusammenleben unterworfen bleibt, wenn Harmonie und Hierarchie - im Sinne einer Staatsordnung - nicht korrespondieren. Bei der Beschreibung des reformerischen Furors, der das Reich der Mitte mit der Politik Deng Xiaopings nach den Jahren der maoistischen Stagnation erfasste, wird oft übersehen, dass die Öffnung zur Welt und der Rückgriff auf staatskapitalistische Wirtschaftsformen nie als Identifizierung mit dem Westen gemeint waren. Im Gegenteil, es galt als Axiom, ja als existenzielles Gebot, den traditionellen Wertekanon als kulturelle Kompensation zu erhalten.

Möglicherweise war das eine Illusion, die China inzwischen verletzbarer macht als für seine innere Stabilität verkraftbar ist. Eine Gesellschaft, die sich noch immer als traditionsbewusst und sozialistisch versteht, lebt nicht von Ökonomie und Wohlstand allein, auch wenn sie darauf um den Preis ihres Zusammenbruchs nicht mehr verzichten kann. Das größte Wirtschaftswunder des 20. Jahrhunderts hat stattgefunden. Zurück nehmen lässt sich nichts. Das Wunder mag an Strahlkraft verlieren und die besten Jahre hinter sich haben - wir hatten und haben es mit keiner Laune der Geschichte zu tun, sondern dem Werk von Menschen, die vor drei Jahrzehnten handelten, um ein hoffnungslos zurückgeworfenes Entwicklungsland aus dem toten Winkel der sozialen Apathie zu holen. 1978 lebten fast 60 Prozent der Chinesen unterhalb des Existenzminimums, in absoluten Zahlen etwa 580 Millionen Menschen, sehr viel mehr als eine erweiterte EU der 27 heute Einwohner zählt.

Im Jahr 2003, ein viertel Jahrhundert nach Beginn der Reformen, hatte sich dieser Wert nach Weltbank-Angaben auf acht Prozent vermindert. Man muss der KP Chinas nicht zu Füßen liegen, um dieser Leistung Respekt zu zollen. Acht Prozent, das waren gemessen an der damaligen Gesamtbevölkerung noch immer mehr als 100 Millionen Menschen. Eine Zahl, die seither offenkundig weiter gewachsen ist, wie das Heer der Wanderarbeiter bezeugt.

Die Frage ist freilich - wenn ja, weshalb hat sich das Wunder erschöpft? Ist die kapitalistische Evolution so übermächtig, dass sie nichts verschont, alle Lebensbereiche durchdringt und für eine Klassengesellschaft sorgt, die teilweise archaische Züge trägt? Dann allerdings ist jede China-Kritik zuvörderst Kapitalismus-Kritik, dann hat China den Beweis angetreten, dass sich der regulierte Kapitalismus, wie ihn der “besondere chinesische Sozialismus” zu domestizieren suchte, nicht domestizierbar ist.

Oder aber hat sich statt des Wirtschafts- ein Wachstumsmodell erschöpft, das Jahr für Jahr mit zweistelligen Zuwachsraten aufwarten konnte? Leider weiß das hierzulande kolportierte China-Bild außer Klischees nur wenig zu bieten. So wurde größtenteils übersehen, dass Ministerpräsident Wen Jiabao bereits Ende 2006 erstmals von der Notwendigkeit eines “nachhaltigen Wachstums” sprach und das auf dem XVII. Parteitag im Oktober 2007 ausdrücklich wiederholte. Er ließ keinen Zweifel, dass die ungezügelte Wachstumsdynamik überwunden werden müsse. Wer dies als Paradigmenwandel verstehen will, kann es getrost tun. Wen bezeichnete es als nicht länger hinnehmbar, Ressourcen in einer Weise zu verbrauchen, dass viele Schäden für die Umwelt irreversibel seien. Auch wenn es direkt nicht gesagt wurde, der Premierminister dürfte sich zudem darüber im Klaren gewesen sein, dass die versprochene Go-West-Politik, um die westchinesischen Provinzen wirtschaftlich aufzuforsten, nicht die erhoffte Wirkung zeitigte.

2007 sollte nach dem Willen von Generalsekretär Hu Jintao die jährliche Wachstumsrate auf sieben Prozent herunter gefahren werden - es blieb bei elf. Erneut ein extensiver Zuwachs, der jenseits aller weltwirtschaftlichen Realitäten und volkswirtschaftlichen Rationalität mit einem enormen Konsum an Rohstoffen, an Energie, Infrastruktur und Menschen einher ging. “Wer auf den Zehen steht, steht nicht sicher. Wer große Schritte macht, kommt nicht weit”, schrieb der chinesische Philosoph Laudse vor 2.500 Jahren in seinem Daudedsching. Wer kann schon für eine lange Zeit “auf den Zehen” stehen?

Freilich bliebe anzumerken, dass Chinas Staatspartei seit Deng Xiaoping ihre Legitimation aus einem phänomenale Wachstum und einem ebenso phänomenalen Wohlstandsschub herleiten konnte. Wie viel kann sie davon aufgeben, ohne sich selbst aufzugeben?

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   13 vom 28.03.2008. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

29. März 2008

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