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Erwiderung auf Götz Aly: Keinerlei Ähnlichkeit

"Die Parallelisierung von 1933 und 1968 - Ein Binsenirrtum!" Eine Erwiderung auf Götz Alys Essay "Die Väter der 68er".

Von Peter Grottian, Wolf-Dieter Narr und Roland Roth

In einem Artikel am 30. Januar 2008 versuchte der Historiker Götz Aly die Parallelen zwischen den "33ern" und den "68ern" herauszuarbeiten, "die zwischen den politischen Sturm- und Drang-Jahren der unmittelbar aufeinander folgenden Generationskohorten bestehen".Zum 75. Jahrestag von Hitlers Machtergreifung schrieb der Historiker Götz Aly für die FR ein Essay, das unter dem Titel "Die Väter der 68er" am 30.1. erschien. In dem Text zieht Aly Parallelen zwischen der Generation der 33er, den jungen Gefolgsleuten Hitlers, und den 68ern: "Diese wie jene sahen sich als ,Bewegung’, betrachteten das ,System’ der Republik als historisch überholt (…). Sie verachteten den Pluralismus und den Kompromiss, sie liebten den Kampf und die Aktion." Aly meint, Hitlers Machtergreifung müsse "als Generationenprojekt verstanden werden, als der Beginn einer schrecklichen Jugenddiktatur". Auch die jungen Nationalsozialisten seien nach dem "allenfalls alt-neuen Motto der 68er ,Trau keinem über Dreißig’" verfahren. Parallelen sieht Aly auch in den Zielen beider Studentenbewegungen, beide "protestierten gegen den Muff von tausend Jahren." Der wesentliche Unterschied laut Aly: "Die Revolte der einen führte rasch zur Macht (…), die der anderen endete ebenso rasch in der Niederlage."

"Bei allen Ähnlichkeiten politischer Ausdruckformen und zum Teil hochschulpolitischen Zielen", so resümiert Aly gegen Ende seines Pamphlets "Die Väter der 68er", "liegt der wesentliche Unterschied zwischen den 33ern und den 68ern auf der Hand: Die Revolte der einen führte rasch zur Macht, zu furchterregenden Karrieren und Konsequenzen; die der anderen endete ebenso rasch in der Niederlage, zumindest in der Zersplitterung." "Der Tragödie von 1933" sei die "Farce" der 68er gefolgt; "eine Variante des politisch eindimensionalen Utopismus, auf dessen Trümmern sie groß geworden" seien.

Welch ein grotesker Mangel an historischer Wahrnehmung! Und das von einem Politikwissenschaftler und Historiker, dessen wichtige Werke wir stets mit kritischer Sympathie begleitet haben. Diese Werke galten vor allem der Rolle junger Intellektueller in den 30er Jahren, die die nazibewegte Herrschaft als Doppelchance ergriffen: für den ungewöhnlich raschen eigenen Karriereschub. Und dafür, planvoll den riesigen Osten in massenmörderisch "befreiten" Räumen für arisch-deutsche Menschen zu kolonisieren und zu beherrschen.

Viele dieser Intellektuellen, auch darauf wies Aly immer wieder hin, passten sich nach der Nazi-Herrschaft wiederum den neuen Verhältnissen an, um die bundesdeutsche Restauration nach ‘49 kapitalistisch-demokratisch unter stabilen Kalten-Kriegs-Bedingungen fortzusetzen.

Götz Aly also, der den Blick für das Menschen kollektiv ausrottende Herrschaftskalkül der Nazis und ihre Praxis der "Endlösung der Judenfrage" ebenso schärfte wie für den Legitimationskitt nationalsozialistischer Sozialpolitik, setzt nun den Anfang der Naziherrschaft und ihren Verlauf mit der Studentenbewegung seit 1967 gleich. Verbales, gedankenblitzfreies Donnergrollen dieser Art war schon zuvor zu vernehmen.

Welch ein von dieser Seite aber nicht erwarteter Mangel an politisch-humanem Augenmaß, dem Sinn für Proportionen, Kontext, Ursachen und Wirkungen nämlich. Wie kann man im Jahre 2008 die Ursachen, die Verlaufsmuster und die Wirkungen der NS-Herrschaft derart verniedlichen, dass man sie mit der "68er Bewegung" auf eine Stufe stellt? Wie kann man die Erinnerung an die Naziherrschaft und ihre bis heute bei weitem nicht ausreichend gezogenen Folgerungen so missbrauchen, um damit "die Studentenbewegung" und ihre längst etabliert und altersrunzelig gewordenen Angehörigen (wie auch sich selbst) zu geißeln?

Zu dieser Diskriminierung gehört, als besondere Pointe, dass Götz Aly ausgerechnet Kurt-Georg Kiesinger, den von Beate Klarsfeld geohrfeigten Bundeskanzler der 60er-Jahre-Großkoalition und ehemaligen Nazi-Parteigänger, sogleich mehrfach als Gewährsmann zitiert. Er, Kiesinger, habe die Studentenbewegung in angemessener Perspektive gesehen. Selbst als nur provozierender Schlenker eine nicht nachsichtig zu erklärende Torheit!

Götz Aly rechtfertigt damit die bundesdeutsche "Vergangenheitspolitik, die "braune, geradezu tiefbraune" (Adenauer) Personen wie Globke, Flick und Kiesinger zu den Repräsentanten der neuen Demokratie erhob.

Das ist der größte Einwand gegen Alys Parallelisiererei von so genannten Generationenprojekten (welcher Wirrsinn schon im modischen Ausdruck selber!). Die Historisierung der NS-Zeit wird hier benutzt zugunsten eines nazistischen Zerrspiegels, in dem die Studentenbewegung der 60er Jahre betrachtet wird.

Die "68er" waren, wohlgemerkt, eine "Bewegung" von S t u d e n t e n, dann auch der Lehrlinge und anderer Gruppen, vor allem auch eine der Frauen. Von ihr haben sich viele treiben lassen - um allzu rasch ans Ufer restriktiv-braver bundesdeutscher Normalität zu gelangen; aber auch, um das anzustoßen, was sich in den 70er und 80er Jahren als Neue Soziale Bewegungen entwickelte.

Der Erkenntnisgewinn der Aly-Parallelen besteht ausnahmsweise exklusiv darin, mehrfach zu verblenden und blind zu machen. Er macht blind dafür, was die Knobelbecherbewegung stark machte. Er macht blind für das, was von der Studentenbewegung, die selbst und gerade in den "Gebeinen" Alys steckt, wert ist, erinnernd weitergetragen zu werden. Das gilt gerade dann, wenn einem nichts fremder ist, als altersrührselig bewegte Lieder vergangener Sit-in-Zeiten zu singen.

Der perverse Erkenntnisgewinn Alys besteht schließlich darin, die BRD als "durchaus reformfähige Mehrheitsgesellschaft", wie sie leibt und lebt, pauschal zu rechtfertigen. Wie sie Asyl Suchende abwehrt, in Lager sperrt, abschiebt, am besten vor den Toren der EU konzentriert. Wie sie Hartz IV zur Reformagenda erhebt und stolz Arme mit Tafeln und Suppenküchen innovativ abfüttert.

Das also ist aus Adornos Postulat geworden, das uns trotz massiven Differenzen seinerzeit fast alle verbunden hat: Es gelte eine Bundesrepublik und ein Europa zu schaffen, in dem es keine menschenverachtenden politischen Praktiken mehr gäbe. Uff - fallen wir nicht schon ins tiefste Aly-Loch: "Systemkritik." Und entlarven uns also als naziparallel?!

Kontext: Müssen wir die großen Unterschiede ausführen? Zwischen der Zeit nach 1919 und den 1960er Jahren? Die eine Zeit war die nach Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts Ermordung, nach den überschatteten Anfängen der Weimarer Republik, nach der Weltwirtschaftskrise und der peinvoll mobilisierenden Arbeits- und Perspektivlosigkeit. Die andere Zeit war die der Vollbeschäftigung mit ihrer autoritär-liberalen "Herrschaft auf Zeit" (Theodor Heuss), eine Zeit mit Perspektive, eine mit Berufsaussichten.

Die Differenz ums Ganze ist unverkennbar. Durch sie erklärt sich mit, wie die einen, die Nazis, schnell, noch vor dem 30.1.1933, fast die Mehrheit erlangen konnten, und woraus später ein Teil der Studentenbewegung um 1968 sein Selbstbewusstsein bezog, mehrheitsfähig zu werden. Diese kritisch fordernden Studierenden wurden als verschwindende Minderheit diskriminiert und als langhaarige Feinde nicht allein von der Springer-Presse in die Enge getrieben.

"Bewegung". Ein Glück, dass Jüngere in den 60ern nicht so leistungszwang-sozialisiert wurden wie heute, auf dass die Äpfel nah vom herrschenden Stamm fallen. Gewiss: "Bewegungen", sozial rasch fließende, mittragende und ausufernde bergen Gefahren. Solche wurden rund um 1968 kund. Manche Selbstüberschätzung, individualisierte Gewalt und persönliche "Schweinejagd" gehörten dazu.

Rudi Dutschkes isoliert herausgegriffene "Machtfrage" jedoch mit der von den Nazis massenfest demonstrierten auf eine Ebene zu stellen - erneut: Welch ein Mangel an Augenmaß, Dutschke und Goebbels als eineiige Zwillinge zu behandeln, muss den bundesverdienstbekreuzten Götz Aly getrieben haben? Die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" (Schelsky) der Nachnazizeit fühlte sich durch die Studierenden herausgefordert. Eine "Gefahr für die Republik", für "das System", bestand aber keine Sekunde. Das überall innere Feinde entdeckende Berufsverbot von 1972 war nur ein Ausdruck der reformfeindlichen Mehrheit.

"Utopismus". Die Blubo (= "Blut und Boden")-Regression der Nazis mit ihrem Mordtaten in einem Zug mit den gesellschaftswandlerischen Vorstellungen der Studierenden in ihrer Minderheit zu nennen: Das ist seinerseits regressiv.

Die Parole "Bildung ist Bürgerrecht" (Dahrendorf) zu vertreten, Demokratisierung durch alle Institutionen zu verlangen, Humboldts auf das Selbstdenken der Person gerichtetes Bildungsideal auf die Füße aller Bürger und Bürgerinnen zu stellen und mit dem selbstverständlichen Verlangen "sozialer Relevanz" nicht elitär (und kapitalistisch-instrumentell) abgehobener Wissenschaft zu verbinden: All das waren meist nicht einmal ansatzweise institutionell übersetzte Verlangen gegen eine Klassen weiterschaffende Bildungs-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Die aktive Erinnerung daran verdeutlicht den Mangel von heute: Gegen eine mit Spitzenstudierenden "exzellent" verarmende, "überflüssige Menschen" abdrängende Politik brauchte es konkrete Utopien als Korrektiv und darauf gerichtetes Verhalten.

Kindische Fehler von damals wie manchen älteren Kollegen gegenüber inakzeptables Verhalten sind im wohlfeilen Erinnern nicht zu vertuschen. Das gilt auch für den "radikalen" Studenten Götz Aly. Im kategorischen Unterschied zu den "33ern", keiner einheitlichen Generation, gilt für die uneinheitlichen und wenigen "68er" jedoch vor allem: Sie haben diese Republik entmufft und erfrischt. Sie haben Neues zu denken gelehrt, zu praktizieren, Kritik zu betreiben nicht nur in "machtgeschützter Innerlichkeit". In diesem Sinne haben sie eine emanzipatorische "Kulturrevolution" mitbewirkt.

Unsere größte Enttäuschung über die "68er" besteht deshalb darin: Dass diese von den Umständen ungemein privilegierte Generation, vertreten durch die vielen Expansionsgewinnler, heute so wenig gegen die antidemokratische Bildungs- und Hochschulpolitik unserer Tage im Zeichen der Exzellenztäuschung opponiert(e); dass sich außerhalb des bornierten und politiklosen repräsentativen Absolutismus politisch wenig rührt.

André Gorz mag mit seinem letzten Liebesbuch diesen Einspruch gegen einen Sprache verhunzenden Artikel beenden. Das, was Gorz über Cambridge 1970 sagt, galt für die besten Teile der Studentenbewegung von Berlin bis Frankfurt, von Konstanz bis Kiel. Bleibe es wirksam!

"In Cambridge waren wir entzückt von … dem Interesse, das unsere Gastgeber den neuen Ideen entgegenbrachten. Wir haben eine Art Gegengesellschaft entdeckt, die unter der äußeren Kruste der Gesellschaft ihre Stollen grub und darauf wartete, ans Tageslicht zu kommen. Noch nie hatten wir so viele Existentialisten gesehen, das heißt Leute, die entschlossen waren, das Leben zu verändern, ohne von der politischen Macht das Geringste zu erwarten, indem sie beginnen, in anderen Formen zusammenzuleben und ihre alternativen Ziele in die Praxis umzusetzen."

Das "Generationenprojekt" der "33er" und der "68er". Mit Karl Kraus: Dazu fällt uns nichts mehr ein.

Die Autoren

Peter Grottian, Jahrgang 1942, war von 1979 bis 2007 Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin, inzwischen ist er emeritiert. Darüber hinaus engagierte er sich in verschiedenen politischen Initiativen, etwa im Komitee für Grundrechte und Demokratie, dem Sozialforum Berlin und in der Initiative Berliner Bankenskandal. Mit Schwarzfahraktionen protestierte er gegen die Abschaffung des Sozialtickets bei den Berliner Verkehrsbetrieben. 2006 berichtete der Spiegel, Grottian werde seit 2003 vom Verfassungsschutz beobachtet.

Wolf-Dieter Narr, Jahrgang 1937, lehrte von 1971 bis 2002 als Professor für empirische Theorie der Politik am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. 1969 trat er aus Protest gegen die große Koalition aus der SPD aus. Der Mitbegründer des Komitees für Grundrechte und Demokratie machte immer wieder mit politischen Aktionen Schlagzeilen, etwa als er 1999 wegen des Kosovo-Krieges deutsche Soldaten zum Desertieren aufrief. 2006 wohnte er zwei Tage im Flüchtlingslager Bramsche, um sich über die dortigen Zustände zu informieren.

Roland Roth, geboren 1949, ist seit 1993 Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule Magdeburg/ Stendal. Roth studierte 1968 bis 1973 in Frankfurt/Main und Marburg. Sein Schwerpunkt ist die Erforschung sozialer Proteste und Kommunen im Globalisierungsprozess. Roth war von 2000 bis 2002 sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission des Bundestags "Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements" und gehört zum wissenschaftlichen Beirat von Attac.

Quelle: Frankfurter Rundschau   vom 09.02.2008. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Roland Roth.

Fußnoten

Veröffentlicht am

12. Februar 2008

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