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Zu Ehren meiner Mutter

Die Macht der Liebe

von Norman Solomon, 01.02.2008 - ZNet

Als meine Mutter zum letzten Mal in der Klinik war, kam mir zufällig ein Essay von Thich Nhat Hanh unter die Augen: “Unsere Mutter ist die erste Lehrerin, die uns lieben lehrt. Liebe ist das wichtigste Thema im Leben”, schrieb er. “Ohne meine Mutter hätte ich nie lernen können, was lieben heißt. Dank ihr kann ich meine Nächsten lieben. Dank ihr kann ich alles Lebendige lieben. Sie hat mir meine ersten Vorstellungen von Mitleid und Verstehen vermittelt”.

Meine Mutter hieß Miriam A. Solomon. Sie starb am 20. Januar. Zufällig fiel ihr Todestag mit dem siebten Jahrestag der Amtseinführung jenes Mannes zusammen, den sie verabscheute und der des Präsidialregimes, das sie verabscheute. Vor einigen Jahren hatte ich George W. Bush in ihrer Gegenwart als “Idioten” bezeichnet. Sie korrigierte mich. Nein, er sei viel mehr als das. Sie benutzte das Wort “böse”.

An der Tür zum Apartment meiner Eltern hing lange Zeit ein kleines Poster, auf dem stand: ‘Das Amerika, an das ich glaube, foltert keine Menschen’. Es war ein Poster von Amnesty International, Abteilung USA. Meine Mutter verfasste für die Organisation AI etliche Protestbriefe an die Adresse von Diktatoren. Anstatt Demokratie-Versionen der Marke Amerika nachzuzeichnen, brachte sie in diesen Briefen ihr leidenschaftliches Engagement für menschlichen Anstand auf den Punkt.

An dem Tag, an dem meine Mutter starb, lag die Washington Post auf der Türschwelle des Apartments. Der Leitkommentar war mit der Schlagzeile überschrieben: ‘Martin Luther King Jr.: His Words Are More Relevant Than Ever This Election Year’. Das Wort “Krieg” kam in diesem Artikel nicht einmal vor. Obwohl die “Vision des Dr. King” ausführlich kommentiert wurde und selbstverständlich ausführlich aus seiner Rede ‘I have a dream’ zitiert wurde, kam das Wort ‘Krieg’ nicht vor.

Meine Mutter war unter den hunderttausenden Bürgerrechtsunterstützern, die sich 1963 vor dem Lincoln Memorial versammelt hatten, um an jenem Tag Kings Rede zu hören. Im Unterschied zu dem Kommentator der Washington Post hat sie sich in den folgenden Jahrzehnten weiterentwickelt.

Sie teilte die erweiterte Perspektive Kings, die er in seinen letzten Lebensjahren entwickelt hatte - in Hinblick auf die essentiellen Kämpfe für Menschenrechte. In den nachfolgenden Jahrzehnten nahm sich meine Mutter Martin Luther Kings Verurteilung der ökonomischer Ungerechtigkeit und des “Wahnsinns der Militarisierung” (so ihre Worte) besonders zu Herzen.

Meine Mutter war eine Humanistin. Menschliches Leben bedeutete ihr wesentlich mehr als geopolitische Positionen. Das unterscheidet sie von der Washington Post - die leidenschaftlich für den Vietnamkrieg eingetreten war und, Jahrzehnte später, für den Irakkrieg. Im Oktober 1967 hatte sich meine Mutter an dem großen Friedensmarsch auf das Pentagon beteiligt. Damals war sie 46 und hatte 4 Kinder.

Meine Mutter stand leidenschaftlich für die Bill of Rights. Anfang der 70er Jahre arbeitete sie intensiv als Freiwillige für ACLU - zur Verteidigung der Bürgerrechte von Antikriegsdemonstranten. Über viele Jahrzehnte setzte sie sich für die Wahl progressiver Mitglieder der Demokratischen Partei ein. Meine Mutter stand nie im Rampenlicht und versuchte auch nie, im Rampenlicht zu stehen.

Manchmal erzählte sie mir von ihrem Vater - Abe Abramowitz. Er war Sozialist - und in Brooklyn rastlos für seine politische Arbeit tätig. Als Mädchen habe sie ihn zu Treffen der dortigen Abteilung von The Workmen’s Circle’ begleitet. Soziale Gerechtigkeit stand auf deren Agenda. Einmal zeigte sie mir, wie man möglichst viele Briefumschläge auf einmal verschließt, wie es ihr der Vater gezeigt hatte: Man fährt mit dem Schwamm über viele Umschlagsleisten auf einmal. Mein Großvater trat stets dafür ein, dass Norman Thomas US-Präsident werden sollte. Nachdem sich die Umstände und Möglichkeiten geändert hatten, trat er für Franklin Roosevelt ein.

Meine Mutter hat ihren Vater sehr bewundert. Er sprühte vor Humor und liebte die Literatur. Besonders wichtig aber war, dass er von humanistischer Freundlichkeit überfloss. Er starb jung. Meine Mutter war Mitte Dreißig, als er starb. Es muss ein furchtbarer Schlag für sie gewesen sein.

Meine Mutter starb nicht jung (sie wurde 86), doch seit ihrem Tod werde ich von entsetzlichen Wogen der Trauer überwältigt. Ab und zu denke ich an Leute, die geliebte Menschen betrauern, die auf äußerst unnatürliche Weise zu Tode kamen - Menschen jeden Alters. Man denke an die Menschen, die im Irak sterben - als Folge der amerikanischen Kriegsanstrengungen. Man denke an die Kinder in so vielen Ländern, die infolge verheerender Armut sterben. Man denke an das amerikanische Gesundheitssystem, das keine volle medizinische Versorgung für alle (als Menschenrecht) vorsieht. Das alles bedeutet vermeidbares Elend und unnötigen Tod in großem Umfang.

In der Sprache der Medien bzw. im politischen Diskurs bleibt der menschliche Preis, den wir für die Dominanz der Konzerne und für den kriegsführenden Staat zahlen, routinemäßig abstrakt. Das Resultat - der wahre menschliche Preis - ist wachsende Wut, ist Leid über Leid.

Unsere persönliche Trauer sollte uns helfen, das unaussprechliche Leid der anderen zu begreifen und zu versuchen, dieses Leid zu verhindern. Wir sollten versuchen, die Liebe, die wir für eine Person hegen, auf die Welt zu übertragen. Ich werde nie wieder mit meiner Mutter reden können, aber ich bin sicher, sie würde mir zustimmen.

Nachdem sie starb, bekam ich ein Gedicht, das sie vor langer Zeit verfasst hatte. Offensichtlich hatte sie es kurz nach dem Tod ihres Vaters geschrieben. Es trägt den Titel: ‘Verlust’ (Bereavement) und endet mit den Worten:

“Es Bleibt mehr als nur geliebte Erinnerung. Sie haben uns verlassen - Wir erkennen unsere Pflicht und Stärken Und werden ohne große Umstände weitermachen”.

In der erschütternden Trauer des Augenblicks kommt uns die Güte und Vitalität unserer geliebten Menschen wieder in den Sinn, und wir schwören, uns ihrer würdig zu erweisen.

Norman Solomon ist Kolumnist und Autor. www.normansolomon.com

Quelle: ZNet Deutschland   vom 02.02.2008. Orginalartikel: In Honor of My Mother and the Power of Love . Übersetzt von: Andrea Noll.

Veröffentlicht am

03. Februar 2008

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