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Ein politischer Tsunami

Im Gespräch: Die Publizistin Naomi Klein über einen Kapitalismus, der Katastrophen braucht, und das vom Hurrikan zerstörte New Orleans als Experimentierfeld der Privatisierung


Seit ihrem Bestseller No logo ist Naomi Klein ein prominentes Gesicht der globalisierungskritischen Bewegung. Derzeit bereist sie Europa mit einem neuen Buch im Gepäck: Die Schock-Strategie. Dort beschreibt Klein, wie neoliberale Denkfabriken und Politiker im Windschatten von Katastrophen, Krisen oder Kriegen radikale Wirtschaftsreformen durchsetzen konnten.


FREITAG: Verstehe ich Sie richtig, dass ohne Katastrophen der Neoliberalismus heute nicht hegemonial wäre?

NAOMI KLEIN: Ohne Krisen wäre der Neoliberalismus nicht annähernd so mächtig, wie er heute ist. Das ergeben auch die Forschungen zahlreicher Neoliberaler wie Dani Rodrik. Sie untersuchten, unter welchen Bedingungen Reformen nach Muster des Washington Consensus akzeptiert wurden und fanden heraus: In den neunziger Jahren billigten nur Länder, die eine Krise durchmachten diese Maßnahmen. An den Internationalen Währungsfonds etwa wenden sich Staaten, die eine ökonomische Krise durchleben, und dann verschreibt man ihnen diese Politik. Leszek Balcerowicz - er war Anfang der neunziger Jahre Polens Finanzminister, als dort die Schock-Therapie eingeführt wurde - sprach paradigmatisch von “Momenten außergewöhnlicher Politik”.

Was muss man sich darunter vorstellen?

In diesen Situationen kann die Schock-Therapie verordnet werden. Balcerowicz nannte eine Vielzahl solcher “Momente außergewöhnlicher Politik”: Beginnend mit dem Ende eines Krieges über eine Wirtschaftskrise bis zum schnellen Übergang von einem System in ein anderes. In diesen Zeiten ändern sich die Regeln sehr schnell, und es bietet sich die Gelegenheit, Reformen mit außerordentlichen parlamentarischen Maßnahmen voran zu treiben. In den USA kann man das beispielsweise nach dem 11. September 2001 sehen. Nach dem Anschlag konnte die Bush-Regierung im Schnellverfahren Gesetze und Verordnungen durchsetzen. Das Argument sollte gerade Ihnen in Deutschland bekannt vorkommen: Souverän ist, wer den Ausnahmezustand regiert, sagte schon Carl Schmitt.

Inwiefern ist der Neoliberalismus also anti-demokratisch?

Es ist sicher möglich, Teile der neoliberalen Agenda in einer Demokratie ohne massenhafte Repression zu verwirklichen. Aber die Schock-Therapie meint etwas anderes: Man entfaltet einen wahren Politik-Tsunami, führt das ganze Paket auf einen Schlag ein, sorgt für eine sehr schnelle Umstellung. Dafür braucht man immer eine Krise und oft - nicht immer - Repression. Der Ausnahmezustand wurde häufig als Grund genutzt, die demokratischen Wünsche der Menschen nicht zu erfüllen.

Aber auch der Neoliberalismus erfreut sich einer gewissen Akzeptanz.

Deutschland ist ein gutes Beispiel. Die Bevölkerung stimmt zwar für eine Regierung, die bis zu einem gewissen Grad neoliberal ist, aber wenn die Administration versucht, das ganze Paket durchzusetzen, steht sie öffentlichem Widerstand gegenüber, und die verantwortlichen Politiker büßen Zustimmung ein. Und dann haben sie die Wahl: Ziehen sie durch, obwohl die Öffentlichkeit das nicht will, oder rudern sie zurück? Ihre Regierung lenkt derzeit ein.

Können Sie die Schock-Therapie am Beispiel von New Orleans veranschaulichen? Was passierte dort 2005 nach dem Hurrikan “Katrina”?

Sofort nach der Katastrophe verabschiedete die Bush-Regierung verschiedene Maßnahmen, mit denen der neoliberale Kurs verschärft wurde: Sie erklärte die ganze Golfküste zur steuerfreien Zone für Unternehmen. Sie verkündete, die von der Flut nur wenig beschädigten Sozialwohnungssiedlungen würden nicht wieder geöffnet. Und sie sind noch immer geschlossen. In New Orleans bestand ein öffentliches Krankenhaus, das Charity Hospital, das Menschen ohne Krankenversicherung behandelte. Es wurde stark überflutet und dann geschlossen. Bis heute hat man es weder neu eröffnet, noch restauriert. Auch der öffentliche Nahverkehr befindet sich in einem viel schlimmeren Zustand als zuvor - dabei war er schon vor Katrina miserabel. Vor dem Hurrikan überwogen in New Orleans öffentliche, staatlich verwaltete Schulen. Heute dient die Stadt als wichtigstes Experimentierfeld für das Konzept der Charter Schools, bei denen es sich um privatisierte öffentliche Lehranstalten handelt.

Das Gespräch führte Steffen Vogel

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   44 vom 02.11.2007. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

03. November 2007

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