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Die linke Unfähigkeit zu trauern

Die Revolution ist kein Zuckerschlecken: Der “Deutsche Herbst” offenbarte auch ein strukturelles Empathiedefizit


Von Götz Eisenberg

Am 13. Oktober 1977 wurde die Lufthansamaschine Landshut auf dem Flug von Mallorca nach Frankfurt entführt, um die in Stammheim inhaftierten RAF-Mitglieder freizupressen. Vom 18. auf den 19. Oktober stürmte die GSG 9 in Mogadischu das Flugzeug. In der gleichen Nacht begingen die RAF-Gefangenen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe unter bis heute ungeklärten Umständen Selbstmord; Ingrid Möller überlebte den Selbstmordversuch. Wenig später wurde der entführte Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer von der RAF erschossen. In der Eskalation des Herbstes ´77 galt die linke Trauer höchstens den RAF-Genossen und hatte eine instrumentelle, gegen den Staat gerichtete Dimension. Zur politischen Kultur der damaligen Zeit gehörte auch das linke Empathie-Tabu.

In der Auflösungserklärung der RAF von 1998 sucht man vergeblich nach dem Begriff “Opfer”. Die 34 Menschen, die im Zuge des von der RAF propagierten “bewaffneten Kampfes” ihr Leben verloren, kommen nicht vor. Stattdessen wird der eigenen Genossinnen und Genossen gedacht, die im Laufe der 28-jährigen Kampfgeschichte der RAF ums Leben kamen, und den Entführern der Lufthansamaschine Landshut gedankt. Zur Vergangenheit der RAF heißt es: “Wir stehen zu unserer Geschichte. … Das Ende dieses Projekts zeigt, dass wir auf diesem Weg nicht durchkommen konnten. Die RAF ist unsere Entscheidung gewesen … und diese Entscheidung ist richtig gewesen.”

Wenn die RAF in ihrer Auflösungserklärung nicht nur eine strategisch-taktische Detailkritik an ihrer Praxis geübt, sondern ihr persönliches, politisches und moralisches Scheitern eingestanden hätte, hätten ihre verbliebenen Mitglieder zu dem Schluss kommen müssen: Das Projekt RAF war politisch falsch und moralisch nicht zu rechtfertigen, alle Opfer - die eigenen wie die fremden - waren überflüssig und sinnlos. Die Trauer über die eigene vergeudete Lebenszeit und über die sinnlos gestorbenen Genossinnen und Genossen hätte auch einen Zugang zu den Opfern der RAF eröffnen können. Vor dieser Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte hat die RAF sich gedrückt. Es ist nicht einfach, das Geländer loszulassen, an dem man sich über weite Strecken des Lebens entlanggehangelt hat. Eine gut eingespielte Weltsicht und ein vermeintlich fest begründetes und bestätigtes Selbstbild gerät ins Wanken. Die dadurch ausgelöste Irritation ist schmerzhaft, und es dauert eine Weile, bis sich ein neues Sinnmuster etabliert und die verstreuten Einzelheiten wieder vor einem verlässlichen Sinnhorizont stehen.

Nun könnte man angesichts dieser mangelnden Opferempathie sagen: “Gefühllose Psychopathen” gibt es auch innerhalb der Linken, und gerade die RAF hat diese möglicherweise angezogen. Aber das wäre zu einfach. Es gibt weit über die RAF hinaus strukturelle Empathiedefizite innerhalb der Linken, die man als eine spezifische Variante der von Mitscherlich an den Nachkriegsdeutschen beobachteten “Unfähigkeit zu trauern” betrachten kann. Es existiert eine teils bewusste, teils unbewusste Komplizenschaft der Linken - oder sogar allgemeiner der 68er-Generation insgesamt - mit der RAF.

Die RAF ist als Zerfallsprodukt der antiautoritären Bewegung entstanden, insofern befinden sich alle Angehörigen der 68er-Bewegung sozialpsychologisch betrachtet in einer Art von Mitverantwortung. Wie innerhalb jeder Kultur gab und gibt es auch innerhalb der linken Subkultur einen Code, der festlegt, wer “Unsereiner” ist, wer als gleichartig und darum gleichberechtigt anerkannt wird und wer nicht; wem man Mitleid und Mitfreude zeigt, und wem jede Einfühlung verweigert wird.

Über einen falsch verstandenen Begriff der “Charaktermaske” - der in der Marxschen Theorie die Tendenz der bürgerlichen Gesellschaft bezeichnet, Menschen auf “Träger von ökonomischen Verhältnissen” - zu reduzieren, wurde der politische Gegner entmenschlicht. Der Kapitalismus tendiert dazu, die Menschen auf die für seine Zwecke verwertbare Teilperson zu reduzieren und von allem anderen, das sein Funktionieren stören könnte, abzusehen. Die Abstraktion von der Fülle menschlicher Möglichkeiten fällt der Markt- und Kapitallogik, bürokratischen Apparaten, der Exekutive leicht und wird von ihnen täglich vollzogen.

Die Linke aber darf das gerade nicht mitmachen. Ihre Hoffnung auf eine Veränderung der Welt lebt von der Annahme, dass Menschen in der Funktion nicht aufgehen, die sie im kapitalistischen Reproduktionsprozess einnehmen. Ein Mensch ist immer der Inbegriff von Hoffnung, Erwartung, Sehnsüchten und besteht aus verschiedenen Teilpersonen. Die Rede von den “Charaktermasken des Kapitals” verwandelt Menschen in Nichtmenschen oder gar Gegenmenschen, über deren Beseitigung man glaubte, sich keine Gedanken machen und keine moralischen Bedenken hegen zu müssen.

Als die RAF Gerold von Braunmühl 1986 ermordet hatte, ließ sie verlauten: “Heute haben wir eine der zentralen Figuren in der Formierung westeuropäischer Politik im imperialistischen Gesamtsystem erschossen.” Es ist leichter, auf eine Funktion zu schießen als auf einen Menschen. Die Brüder Gerold von Braunmühls haben in ihrem “Offenen Brief an die RAF” diesen Reduktionismus und die dazu gehörige menschenverachtende Beton-Sprache einer Kritik unterzogen.

Die BRD galt der RAF als faschistisch. Der Unterschied zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Faschismus verschwamm wie auf einem doppelt belichteten Foto. Also schien in der Gegenwart der BRD Widerstand dringend geboten, den die Elterngeneration unterm Nationalsozialismus versäumt hatte. Die RAF zeichnete das “System” als einen homogenen Block aus Finsternis und Verbrechen, mal anonym und übermächtig, mal personalisiert durch Siemens, Flick, Abs, Krupp, Quant, Schleyer und andere.

“Das System” wurde als perfekt funktionierende Terrormaschine gedeutet: Bürgerliche Gesellschaft = Knast = Faschismus. Der Befreiungskampf wurde als Krieg verstanden, und das war keineswegs metaphorisch gemeint. Die Genossen würden in den Knästen gefoltert wie einst die Insassen der KZs. Wenn Protagonisten des BRD-Staates getötet wurden, war das so etwas wie ein “Tyrannen-Mord” und beinahe naturrechtlich legitimiert. Da schienen moralische Skrupel und Bedauern fehl am Platz.

Die Auseinandersetzung zwischen Proletariat und Bourgeoisie wurde von der RAF auf das “vorgeschichtliche Muster von Stammesfehden heruntergebracht” (Peter Brückner), in denen es quasi-rassistisch um wechselseitige Ausrottung ging. Diese Denkfigur bereitete den Weg für den bewaffneten Kampf. Dogmatismus ist ein denktechnisches Verhütungs- und Vereinfachungsmittel und Gewalt ein Weg, allzu komplexe Situationen magisch zu vereinfachen.

Die damalige Linke gefiel sich darin, hart und unsentimental zu sein. Den Schützengräben des Klassenkampfes sollte ein “neuer Mensch” entsteigen, der sich als linker Zwillingsbruder der Jüngerschen “Stahlgestalt” erwies. Wer damals das Wort Mitgefühl, Mitleid oder Einfühlungsvermögen in den Mund genommen hätte, wäre als Kleinbürger und Individualist beschimpft und exkommuniziert worden. Die Revolution sei nun mal kein Zuckerschlecken, es werde nicht ohne Blutvergießen und Köpferollen abgehen, da dürfe man nicht zimperlich sein. Ich erinnere mich an eine Diskussion Anfang der siebziger Jahre, in der ein “Genosse” eine “Genossin”, die sich wegen Liebeskummer außer Stande sah, früh aufzustehen und Flugblätter zu verteilen, belehrte: “In der Résistance hat man Leute wie dich erschossen!”

In einer Überidentifikation mit der Opfer-Rolle stilisierte sich die RAF selbst zum Opfer des Systems. Die Gefangenen bezichtigten den Staat der Isolationsfolter und verglichen sich mit den Folteropfern in Chile. Die Vorstellung, im Namen einer Internationale der Erniedrigten und Beleidigten zu sprechen und zu handeln, verlieh der eigenen Politik einen Schein von Grandiosität und moralischer Rechtfertigung.

Die Linke wird in ihrem Verweis auf die vom weltweiten “Terror der Ökonomie” produzierten Leiden jedoch nur dann glaubwürdig sein, wenn sie die von ihr zu verantwortenden Opfer nicht verleugnet. Bei der Beurteilung der Prognose von Gefängnisinsassen gilt “mangelnde Opferempathie” als negativ; solange die Linke die von ihr produzierten Leiden und Opfer nicht in ihre Geschichte und ihr Selbstbild integriert hat, besteht auch bei ihr Wiederholungsgefahr.

Linke sollten - im Unterschied zu Faschisten - eine Tötungshemmung aufweisen und um den Zusammenhang von Zielen und Mitteln wissen. Das einzige Gegengift gegen die Gewalt der Abstraktion - des “dieser Mensch ist nichts als …” - sind Mitgefühl und Sensibilität für besondere Umstände. Einfühlungsvermögen ist kein bürgerliches Relikt, sondern eine Kardinaltugend der Veränderung und der aus ihr hervorgehenden freien Gesellschaft.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   42 vom 19.10.2007. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

20. Oktober 2007

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