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Rapid

Ist Zeit Geld, und was spart man, wenn man schneller fährt?


Von Heiner Monheim

“Höher, schneller, weiter” galt lange als die magische Verheißung des technischen Fortschritts. Schon immer aber gab es gegen den platten, machohaften Gigantismus der Wolkenkratzer, Concorde-Flugzeuge und Transrapid-Züge eine Gegenkultur. Im Christentum liefert der Turmbau zu Babel das Menetekel überschätzter Machbarkeit. Der Literatur galt die “Entdeckung der Langsamkeit” als reizvolles Thema, während in der Küche “Slow Food” angesagt ist, das genussvoll zelebrierte Zubereiten wertvoller Speisen. Das Städtebündnis der “Slow Cities” thematisiert eindringlich Fragen der Lebensqualität und der Verkehrsberuhigung. Und das gemächliche touristische Wandern oder Radfahren verzeichnet seit Jahren einen Boom. Das Problem dieser gesellschaftlichen Gegenströmungen besteht nur darin, dass sie politisch nicht aufgegriffen werden.

Das ist merkwürdig auch deshalb, weil der Gigantismus der Beschleunigung die entgegengesetzte Richtung der üblichen Modernisierungspfade beschreitet. Überall streben Erfinder nach Miniaturisierung und Dematerialisierung, klein und fein sollen die neuen Maschinen sein, minimal invasiv die neue Spitzenmedizin, alles darf leichter, kompakter und effizienter werden. Man vergleiche einen Mp3-Player mit der voluminösen Stereoanlage. Nur im Verkehr sind die Dinosaurier noch am Schaffen. Teure Autos werden immer schwerer, und während die Datenhighways mittlerweile den Globus umspannen, versuchen die Straßenbauer mit immer breiteren Autobahnen, sechsspurig ist normal, dem deutschen Stau eine angemessene Szenerie zu sichern.

Das Elend deutscher Verkehrspolitik und Siedlungsplanung zeigt sich am Umgang mit theoretisch eingesparter Zeit. Seit Jahrzehnten werden alle neuen Verkehrsprojekte maßgeblich durch ihren so genannten Zeitnutzen gerechtfertigt. Man rechnet aus, was durch die neue Straße, die neue Bahn oder den neuen Flughafen an Zeit gespart werden kann, multipliziert das mit dem voraussichtlichen Verkehrsaufkommen und hat dann eine gewaltige Zeitsumme, die in Geld umgerechnet wird. Ganz nach dem alten Grundsatz “Time is Money”. Wenn man die seit Mitte der 1960er Jahre in diesen Berechnungen angenommenen Zeitersparnisse alle addiert und durch die Zahl der Bewohner Deutschlands teilt, dann entfallen so große Zeitersparnisse auf jeden Menschen, dass wir nicht mehr losfahren müssten, weil wir rechnerisch immer schon angekommen wären.

Das ist reine Theorie. Geschwindigkeit ist eine Lebenszeitvernichtungsmaschinerie, weil nach den Gesetzen der Physik alle Risiken (Unfall, Umwelt) exponentiell zur Geschwindigkeit wachsen. So kostet Tempo derzeit jährlich etwa 1,3 Millionen Tote und 50 Millionen Schwerverletzte, die auf dem Altar des verkehrlichen Geschwindigkeitswahns geopfert werden. Nicht alle, aber viele von ihnen würden bei einem Niedriggeschwindigkeitsverkehr noch leben, lange und gesund. Diese verlorene Lebenszeit müsste also eigentlich auch monetarisiert werden. Auf der Emissionsseite zahlen wir einen hohen Preis unnötig großer Verbräuche und Schadstoffausstöße. Und schließlich steigen die Kosten exponentiell mit der Entwurfsgeschwindigkeit. Deswegen geraten ja alle Hochgeschwindigkeitsinvestitionen zum Milliardengrab, monopolisieren auf Jahrzehnte die verfügbaren Investitionen, spielen nie wieder die Kosten ein, es sei denn, man würde exorbitant hohe Fahr- und Trassenpreise verlangen.

Die Rechnung Zeitersparnis durch Hochgeschwindigkeit geht aber auch deshalb nicht auf, weil wir ja permanent auf die neuen Verkehrsverbindungen reagieren. Wir passen unseren Aktionsradius den neuen Möglichkeiten an, kaufen nicht mehr um die Ecke ein, sondern an der Peripherie, machen Urlaub nicht in der eigenen Region, sondern in der großen, weiten Welt. Also verplempern wir die scheinbar gewonnene Zeit schnell wieder im Verkehr. Und weil das so viele tun, landen wir unweigerlich im Stau. So zerstört der Zeitvernichtungseffekt deutscher Verkehrsplanung ganz allmählich den Raum. Zuerst asphaltiert er ihn für seine wuchernden Straßennetze. Dann überbaut er ihn für die dank der Straßen und Zeitersparnisse immer weiter expandierenden Siedlungsflächen. Und schließlich entleert er ihn, weil immer mehr Einrichtungen den verkehrlichen Zentrifugalkräften folgen, Nähe entwertet und damit letztlich vernichtet wird. Am Ende finden wir uns alle, dank der vehementen Beschleunigung, gemeinsam im wuchernden Stillstand wieder und warten auf freie Fahrt, um mit dem Wahnsinn fortzufahren.

Quelle: Freitag   - Die Ost-West-Wochenzeitung 40 vom 05.10.2007. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

09. Oktober 2007

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