Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Was können Einzelne in unserer Gesellschaft bewirken?

Von Wolfgang Sternstein - Vortrag bei der Jahrestagung des Lebenshauses Gammertingen am 29.9.2007

Eine erste Antwort auf die Frage, was Einzelne in unserer Gesellschaft bewirken können, könnte das Wort Theodor W. Adornos sein, das ich im Lebenshaus-Newsletter vom 25.9.2007 gefunden habe.

Als lebten wir in einer befreiten Welt

“Man sollte, soweit es nur irgend möglich ist so leben,
wie man in einer befreiten Welt glaubt leben zu sollen,
gleichsam durch die Form (gemeint ist wohl: das Zeugnis)
der eigenen Existenz, mit all den unvermeidbaren Widersprüchen und Konflikten, die das nach sich zieht (…)
Dieses Bestreben ist notwendig zum Scheitern und zum Widerspruch verurteilt, aber es bleibt nichts anderes übrig,
als diesen Widerspruch bis zum bitteren Ende durchzumachen.

Die wichtigste Form, die das heute hat, ist der Widerstand.”

(Theodor W. Adorno)

Der große Aufbruch und das große Scheitern

Zunächst möchte ich einen Rückblick auf die Geschichte der vergangenen vierzig Jahre versuchen und zwar unter der Überschrift: Der große Aufbruch und das große Scheitern.

Der große Aufbruch beginnt mit der 68-Revolte, die ja nicht nur eine deutsche Erscheinung war, sondern mehr oder weniger alle Industrienationen erfasste. Ich nenne nur als Stichworte:

  • die antiautoritäre Rebellion an den Universitäten und Schulen, in der Kindererziehung und in der Gesellschaft,
  • die feministische Bewegung,
  • die sexuelle Revolution,
  • die radikale Kritik am Kapitalismus aus einer marxistischen oder anarchistischen Perspektive und schließlich
  • die Identifikation großer Teile der Studentenschaft und der Linksintellektuellen mit den revolutionäre Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt (Ho Tschi Minh, Che Guevara, Mao Zedong u.a.).

Wie die Studentenrevolte sich in den frühen siebziger Jahren auffächterte und schließlich zerfaserte in reformistische und revolutionäre Gruppen, d.h. in gemäßigte, marxistische, leninistische, maoistische, spontaneistische, anarchistische und terroristischen Splittergrupen, brauche ich im Einzelnen nicht darzulegen.

Zu den bedeutendsten Folgeerscheinungen des Aufbruchs der 68er gehören die Neuen Sozialen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre, das heißt die Frauen-, Bürgerinitiativen-, Alternativ-, Dritte-Welt-, Ökologie- und Friedensbewegung. Ihre Ziele waren:

  • Demokratisierung durch Mitsprache und Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft,
  • Dezentralisierung von Machtstrukturen,
  • soziale Gerechtigkeit in der BRD bzw. eine gerechte Weltwirtschaftsordnung,
  • Gleichberechtigung von Mann und Frau,
  • Natur- und Umweltschutz,
  • Überwindung struktureller Gewaltverhältnisse,
  • atomare Abrüstung usw.

Diese Grundsätze fanden sich auch in Gestalt der vier “Säulen” im ersten Parteiprogramm der Grünen: ökologisch, sozial, gewaltfrei und basisdemokratisch.

Wenn man sich heute vergegenwärtigt, was damals alles geschah, so kann man es kaum glauben. Es erscheint einem wie ein Märchen aus Tausend und einer Nacht. So wurde zum Beispiel 1972 das Buch über “Die Grenzen des Wachstums” veröffentlicht, dessen Voraussagen, wie wir heute wissen, zutrafen, auch wenn sich die Autoren im Zeitablauf geringfügig verschätzten. Die Anti-AKW-, die Bürgerinitiativ- und die Friedensbewegung wurden zu Massenbewegungen. Es gelang ihnen nicht nur, industrielle Großprojekte wie Autobahnen, Giftmülldeponien und umweltbelastende Großbetriebe wie das Bleichemiewerk Marckolsheim, die AKWs Wyhl und Kaiseraugst und Mühlheim-Kärlich sowie die Wiederaufarbeitungsanlage in Gorleben und später in Wackersdorf zu verhindern. Sie entwickelten auch ansatzweise ein alternatives Energie-, Verkehrs-, Landwirtschafts-, Verteidigungs-, Gesellschafts- und Wirtschaftskonzept, die auf den Grundsätzen der Nachhaltigkeit, der Dezentralisierung, der ökologischen Verträglichkeit und einer mittleren oder angepassten Technologie beruhte.

Das Schlagwort “Small is beautiful” von E.F. Schumacher machte die Runde. Es erschien eine umfangreiche Literatur zu den genannten Themen. Ich nenne nur die Namen: Herbert Gruhl, Carl Amery, Wolfgang Harich, Johano Strasser, Klaus Traube. Der Fischer Verlag veröffentlichte die Reihe “fischer alternativ”, der Rowohlt Verlag die Reihe “Technologie und Politik”. Kleine Gruppen, die überall wie Pilze aus dem Boden schossen, versuchten als Landkommunen oder als städtische Kooperativen und Produktionsgenossenschaften die neuen Ideen praktisch umzusetzen.

Und dann natürlich zu Beginn der achtziger Jahre die Friedensbewegung. Sie beherrschte monatelang die Medienöffentlichkeit und brachte unzählige Veröffentlichungen hervor. Die Kirchen beteiligten sich unter anderem mit dem Konziliaren Prozess für “Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung” an dem allgemeinen Aufbruch. Der Weltrat der Kirchen veröffentlichte 1983 in Vancouver eine Erklärung, in der es unter anderem hieß: “Die Herstellung und Aufstellung sowie der Einsatz von Atomwaffen sind ein Verbrechen gegen die Menschheit”.

Michael Gorbatschow entwickelte bereits kurz nach seiner Wahl zum Generalsekretär der KPdSU im Jahre 1985 einen Plan, der die schrittweise Abschaffung sämtlicher Atomwaffen bis zum Jahre 2000 vorsah. Er begründete ihn damit, dass sich die Völkergemeinschaft angesichts der gewaltigen Herausforderungen der Überwindung von Hunger, Mangel, Krankheit und Analphabetismus sowie der Erhaltung der Umwelt und des Friedens, denen sie konfrontiert sei, den Kalten Krieg und das Wettrüsten überhaupt nicht mehr leisten könne.

Der Abschluss des INF-Vertrages, der die Verschrottung sämtlicher landgestützter Mittelstreckenraketen in Ost und West zum Gegenstand hatte, das Ende des Kalten Krieges, der Zusammenbruch des Sowjetkommunismus und die deutsche Wiedervereinigung gaben zu den kühnsten Hoffnungen Anlass.

Was ist daraus geworden? - Eine wehmütige Erinnerung an einen großen Aufbruch, an eine Zeit, wo eine Wende zum Besseren möglich, ja geradezu unausweichlich schien. “Gone with the wind”, vom Winde verweht, wie es in einem bekannten Friedenslied heißt. Bis auf den wackligen Atomausstieg und den Aufschwung der regenerativen Energietechniken hat die Flutwelle der Globalisierung alles hinweggespült. Auf den großen Aufbruch folgte das große Scheitern.

Der Schriftsteller und Philosoph Günther Anders hat bereits 1972 (im gleichen Jahr, in dem die “Grenzen des Wachstums” erschienen) in seinem Buch “Endzeit und Zeitende” festgestellt, wir lebten heute in der Endzeit, denn mit der Möglichkeit der nuklearen Selbstvernichtung der Menschheit sei eine Situation entstanden, wie es sie in der Menschheitsgeschichte noch nie gegeben habe: Die Möglichkeit der selbstgemachten Apokalypse. Fortan müsse die Menschheit unter diesem Damoklesschwert leben, denn selbst wenn es gelingen sollte, diese Waffen abzuschaffen, das Wissen um ihre Herstellung bleibe doch erhalten, ganz abgesehen von der bereits heute vorhandenen nuklearen Hinterlassenschaft.

An eine Abschaffung der Atomwaffen ist jedoch weniger denn je zu denken. Im Gegenteil, ihre Ausbreitung schreitet unaufhaltsam fort, weil die offiziellen Atommächte nicht daran denken, ihre Verpflichtungen aus dem Nichtverbreitungsvertrag zu erfüllen. Das Zerstörungspotenzial der heute existierenden knapp 30.000 Atomwaffen reicht nach Schätzung der Experten aus, um alles höhere Leben auf der Erde zu vernichten, und das nicht nur einmal, sondern einige hundertmal, vielleicht sogar einige tausendmal.

Es gibt die weitverbreitete Auffassung unter den Militärs, Politikern und Wissenschaftlern, gerade die furchtbare Zerstörungsgewalt dieser Waffen werde wie nichts anderes den Frieden erhalten, weil kein Staat hoffen könne, als Sieger aus einem Atomkrieg hervorzugehen.

Solche Argumente hat man auch schon früher gehört. Alfred Nobel, der Erfinder des Dynamits, war der Meinung, seine Erfindung werde wie nichts anderes dem Frieden dienen, weil die ungeheure Zerstörungskraft des Dynamit alles bisher Dagewesene übertreffe. Was daraus geworden ist, wissen wir.

Wer die Augen vor den Realitäten dieser Welt nicht verschließt, kann nicht umhin festzustellen, unsere Fähigkeit, uns selbst zu belügen und zu betrügen sowie andere zu belügen und zu betrügen, ist nahezu grenzenlos.

Wie wahrscheinlich ist ein mit Atomwaffen ausgetragener mittlerer oder großer Krieg? Für den politisch informierten Zeitgenossen besteht Grund zu größter Besorgnis. Der Krieg gegen den Terrorismus im Irak, in Afghanistan und anderswo, das Säbelrasseln gegenüber dem Iran verheißen nichts Gutes. Überhaupt ist der Nah-Ost-Konflikt eine seit Jahrzehnten schwärende Wunde, die den Körper der Menschheit zu vergiften droht.

Der Krieg gegen den Terrorismus ist wie der Vietnamkrieg schon heute praktisch verloren. Noch eignet er sich aber als ein - allerdings ziemlich durchsichtiger - Vorhang, um dahinter das wahre Kriegsziel zu verstecken, den Griff der westlichen Industriestaaten nach dem Öl in der Golfregion. Ohnehin ist der Weltkrieg um Rohstoffe, Märkte und Transportwege zwischen den westlichen Industriestaaten und den Neuankömmlingen auf der weltpolitischen Bühne - China und Indien - bereits in vollem Gang. Die Bundesrepublik ist an diesem Krieg mit der Umrüstung der Bundeswehr aus einer Verteidigungsarmee in eine Interventionsarmee, die Deutschland angeblich am Hindukusch verteidigt, voll eingebunden, diesmal im Gegensatz zu den beiden Weltkriegen der Vergangenheit sozusagen auf der “richtigen” Seite.

Die Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat eine fatale Ähnlichkeit mit der Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nur mit dem Unterschied, dass die Herausforderer der imperialen Mächte heute nicht mehr Deutschland und Japan, sondern China und Indien heißen.

Ob China und Indien eine friedliche oder eine aggressive Politik betreiben, liegt keineswegs in ihrer freien Entscheidung. Sie können gar nicht anders als die Weltmächte herausfordern, wenn sie ihren Industrialisierungsprozess über einen gewissen Punkt hinaus fortsetzen wollen. Das hat Gandhi schon vor siebzig Jahren klar erkannt, als er schrieb:

“Ich fürchte, die Industrialisierung ist im Begriff, zu einem Fluch für die Menschheit zu werden. Die Ausbeutung einer Nation durch eine andere kann nicht unbegrenzt so weitergehen. Der Industrialismus beruht vollständig auf der Fähigkeit auszubeuten, auf dem Zugang zu fremden Märkten und dem Fehlen von Konkurrenz … Wenn Indien andere Nationen auszubeuten beginnt und das muss es tun, wenn es sich industrialisiert, wird es zum Fluch für andere Nationen werden, zu einer Bedrohung für die Welt.”

Der Unterschied zwischen den Weltkriegen der Vergangenheit und den Weltkriegen der Zukunft besteht freilich darin, dass es sich bei den kriegführenden Nationen der Zukunft durchweg um Atommächte handeln wird. Was das bedeutet, kann sich jede und jeder leicht selbst ausrechnen.

Böses mit Gutem vergelten macht Sinn

Das ist - mit wenigen Strichen skizziert - der düstere Hintergrund, vor dem die Frage erörtert werden sollte: “Was können Einzelne in der Welt, in unserer Gesellschaft bewirken?” Können sie den nuklearen Holocaust verhindern? Gibt es überhaupt irgendeine Macht, außer Gott, die ihn verhindern kann?

Meine Antwort lautet: Nein, es gibt keine Rettung. Gott könnte den Holocaust zwar verhindern, doch wird er es nicht tun, da er nach meiner Überzeugung nicht unmittelbar in die Natur und die Geschichte eingreift. Es wird kein gebieterisches “Halt!” vom Himmel her ertönen, wenn Leute wie George W. Bush sich entschlossen haben, auf den roten Knopf zu drücken.

Ist angesichts solcher Zukunftsaussichten nicht jede Bemühung um Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfungserhalt sinnlos? Bleiben uns nur Resignation, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung? Bleibt uns nur das carpe diem, das Mitmachen bei dem Hexensabbat der Konsum- und Spaßgesellschaft, der uns allenthalben umgibt?

Ich denke nicht so. Ich bin vielmehr überzeugt, dass jeder Versuch, Böses mit Gutem zu vergelten, um es auf diese Weise zu überwinden, seinen Sinn und seinen Lohn in sich selbst trägt. Wo immer Gewaltfreiheit in überzeugender Form praktiziert wird, nimmt das Reich Gottes keimhaft Gestalt an. Das kann in einer Familie, in einer Lebensgemeinschaft, in einer Firma, das kann aber auch in einem Dorf, einer Stadt, ja selbst einem Land geschehen.

Ich teile die Überzeugung Gandhis, dass nichts, was Gutes in dieser Welt geschieht, verloren ist, wohl aber alles, was Böses geschieht, denn unter dem Blickwinkel der Ewigkeit betrachtet, ist das Böse nicht existent. Es kann folglich nicht siegen. Gandhi meinte dazu:

“Die Welt ruht auf dem Felsgrund von Satja oder Wahrheit. Asatja, was Unwahrheit bedeutet, hat auch die Bedeutung ‚nicht-seiend’, und Satja oder Wahrheit bedeutet auch das, was ‚ist’. Wenn Unwahrheit somit nicht als existent gilt, kommt ihr Sieg nicht in Frage. Und da Wahrheit das ist, was ‚ist’, kann sie nie zerstört werden. Das ist die Satjagrah-Lehre in nuce.”

Mehr Trost habe ich nicht anzubieten.

Wolfgang Sternstein ist Friedens- und Konfliktforscher. Seit über 30 Jahren arbeitet er in der Bürgerinitiativen-, Ökologie- und Friedensbewegung. Er hat an zahlreichen gewaltlosen Aktionen teilgenommen, stand deswegen mehr als ein Dutzend Mal vor Gericht und war neunmal für sein gewaltfreies Engagement im Gefängnis. Er ist Vorsitzender und Mitarbeiter des Instituts für Umweltwissenschaft und Lebensrechte e.V.   (UWI) und unter anderem Mitglied von Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Veröffentlicht am

30. September 2007

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