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Schaum auf dem Wasser

Von Uri Avnery, 22.09.2007

HEUTE IST Yom Kippur, und fast automatisch gehen meine Gedanken und die derjenigen, die diese Zeit miterlebt haben, 34 Jahre zurück, zum damaligen Yom Kippur.

Ich saß zu Hause mit einem Freund ins Gespräch vertieft, als plötzlich die Sirenen zu heulen anfingen.

Das Heulen der Sirenen ist immer erschreckend, aber Sirenen am Yom Kippur kommen wie aus einer anderen Welt. Schließlich ist dies ein Tag vollkommener Ruhe, der Tag, an dem kein einziges Auto auf den Straßen Israels fährt.

Draußen begann ein aufgeregtes Hin und Her: Militärfahrzeuge rasten vorbei, Menschen in Uniformen und mit Rucksäcken bepackt eilten aus ihren Wohnungen, Motorengeräusch von Flugzeugen über uns.

Wir versammelten uns um das Radio, das normalerweise am Yom Kippur schweigt. Es meldete uns, ein Krieg sei ausgebrochen.

ICH HATTE keinen Einberufungsbefehl erhalten, aber an den folgenden Tagen sah ich den Krieg aus verschiedenen Blickwinkeln. Damals war ich Mitglied der Knesset und Chefredakteur des Nachrichten-Magazins Haolam Hazeh. Die Knesset aber war in Ferien (all dies geschah während einer Wahlkampagne) und das Redaktionsteam des Magazins war fast arbeitsunfähig, da die meisten seiner Mitglieder einberufen worden waren. Rami Halperin, ein junger Fotograph, der gerade aus dem Militärdienst entlassen worden war und begonnen hatte, für das Magazin zu arbeiten, wartete nicht auf den Einberufungsbefehl, sondern schloss sich schnell seiner früheren Einheit an, nahm an der Schlacht um die “chinesische Farm” teil und kam dabei ums Leben..

Ein bekannter deutscher Fernsehregisseur kam ins Land und bat um Beratung bei der Kriegsberichterstattung. Während wir darüber sprachen, kam ihm die Idee, einen Film mit mir zu machen, und zwar wie ich über den Krieg berichtete.

Auf diese Weise sah ich alle Fronten. Wir suchten nach Ariel Sharon im Süden und folgten ihm zum Suez-Kanal. Wenige Kilometer vor dem Kanal kamen wir unter schweren Beschuss der Ägypter. Wir steckten in einem riesigen Verkehrschaos fest - eine ganze Division mit ihren Militärfahrzeugen, Kanonen, Panzern, Ambulanzen bewegte sich in Richtung Kanal. Unterwegs besuchten wir ein Feldlazarett, wo ein Militärarzt, Ephraim Sneh - heute auch ein bekanntes Knessetmitglied - gerade beim Operieren war.

Danach eilten wir an die Nordfront. Wir fuhren an vielen ausgebrannten Panzern vorbei, an den unsrigen und den ihrigen, und erreichten ein Dorf, gut 10 km von Damaskus entfernt. Irgendwie erinnere ich mich noch an ein Gespräch mit einem kleinen Jungen über Katzen.

Zwischendrin besuchten wir ein Flüchtlingslager in der Nähe von Nablus und die Altstadt von Jerusalem. Aus jedem Kaffeehaus plärrte die Stimme des ägyptischen Präsidenten, Anwar al-Sadat, der sein Kriegsziel erklärte. Die Mitglieder des deutschen Teams waren verblüfft. Sie erinnerten sich an Geschichten aus dem 2. Weltkrieg und fanden es unglaublich, dass es der besetzten Bevölkerung erlaubt war, ganz ungeniert den Rundfunk des Feindes zu hören.

ABER DAS Ereignis, das sich tief in mein Gedächtnis eingrub - und in das Gedächtnis der meisten Israelis, die diese Zeit erlebten - geschah nicht an der Front.

Wir saßen in einer Nachbarswohnung, als auf dem Fernsehschirm dieses Bild erschien: Dutzende israelischer Soldaten kauerten auf dem Boden, Hände über dem gebeugten Kopf, mit syrischen Soldaten über sich, die sie in Angst und Schrecken versetzten.

Niemals vorher hatten wir israelische Soldaten in solch einer Situation gesehen: schmutzig, unrasiert, ganz offensichtlich in Angst - so elendiglich, wie es nur Kriegsgefangene sein können.

Im Raum war es ganz still. In diesem Augenblick starb der Mythos des israelischen Supermanns, des unbesiegbaren israelischen Soldaten - ein Mythos, der eine Generation lang unser Leben beherrscht hatte. Dieser Mythos war das letzte Opfer des Yom-Kippur-Krieges.

Die israelische Armee hat sich zwar noch bewährt. Nach drei Kriegswochen verwandelte sie die sicher geglaubte Niederlage in einen Sieg. Zu Beginn des Krieges murmelte der Verteidigungsminister Moshe Dayan noch etwas von der Zerstörung des “Dritten Tempels” (und meinte damit den Staat Israel) - am Ende bedrohte die Armee Kairo und Damaskus.

Aber die Legende von der unbesiegbaren israelischen Armee war zerbrochen. Das Bild der hilflosen und gedemütigten israelischen Gefangenen weigert sich, aus dem Gedächtnis gelöscht zu werden. Direkt nach dem Krieg brach die Schlacht zwischen den Generälen aus. Ihr Streit zerstörte das Prestige der militärischen Elite, die bis dahin das Idol der Öffentlichkeit war. Diesen Status haben sie nie wieder erlangt. (Aber im Gegensatz zu den Erwartungen vieler hat der Würgegriff der Armee auf die israelische Politik nicht nachgelassen.)

Dem psychologischen Bruch folgte ein politischer Bruch. Die Generation von Golda Meir verließ die Bühne; die Generation von Yitzhak Rabin nahm ihren Platz ein. Nur drei und ein halbes Jahr später geschah das Unglaubliche: Menachem Begin, der ewige Oppositionsführer, kam an die Macht.

BEGIN’S HAUPTERFOLG, der Frieden mit Ägypten, war die direkte Folge des Yom-Kippur-Krieges, den die Araber den Ramadan-Krieg nennen. Die Überquerung des Kanals und die Eroberung der Bar-Lev-Linie stellte die ägyptische Ehre wieder her - und das machte den Frieden möglich. Ich war einer der ersten fünf Israelis, die nach Sadats Besuch in Jerusalem in Kairo ankamen, und ich erinnere mich lebhaft an die Hunderte von Transparenten, die über den Straßen hingen: “Sadat - Held des Krieges, Held des Friedens.”

In Israel erinnern sich auch viele an Begin als einen Held des Friedens. Schließlich war er der erste israelische Staatsmann, der mit einem arabischen Land Frieden schloss - und zwar nicht mit irgend einem arabischen Land, sondern mit dem zentralsten und wichtigsten. Trotz allem, was seither geschah, hat dieser Frieden gehalten.

Einige Leute schelten Bashar al-Assad und König Abdallah von Saudi Arabien dafür, dass sie nicht Sadats Beispiel folgen. Warum wagen sie nicht, nach Jerusalem zu kommen?

Diese Argumentation gründet sich auf ein Missverständnis. Sadat hat sich nicht einfach entschlossen zu kommen. Es geschah nicht so, wie er es viele Male beschrieben hat (auch in einem Gespräch mit mir): dass er von einem Besuch aus Europa kam und, während er über den Ararat flog, plötzlich die Idee hatte, etwas in der Geschichte Einmaliges zu tun: die Hauptstadt des Feindes zu besuchen, noch während der Kriegszustand andauerte.

Die Wahrheit ist: vor dem Besuch gab es in Marokko geheime Treffen von Vertretern Sadats und Begins. Erst nachdem der Außenminister Moshe Dayan im Namen Begins versprochen hatte, alle besetzten ägyptischen Gebiete zurückzugeben, machte Sadat diese Entscheidung.

Wo ist der israelische Führer, der heute bereit wäre, Assad die Rückgabe des ganzen Golan oder Mahmoud Abbas den Rückzug hinter die Grünen Linie zu versprechen?

WIE KONNTE sich Begin entscheiden, Ägypten “Teile unseres Vaterlandes” zu geben?

Sehr einfach: für ihn waren es nicht “Teile unseres Vaterlandes”.

Begin hatte eine klare Karte von Israel vor seinen Augen. Er hatte sie von seinem Meister und Lehrer geerbt, von Ze’ev Jabotinsky: die Landkarte zu Beginn des britischen Mandats, auf beiden Seiten des Jordans.

Im Laufe der Geschichte haben sich die Grenzen dieses Landes hundert Mal verändert.

Da gab es die Grenzen des göttlichen Versprechens: vom Nil bis zum Euphrat. Es gab die Grenzen des “Königreiches David” (das nie existierte), das bis nach Hamat im nördlichen Syrien reichte. Und es gab während der Zeit von Esra und Nehemia Grenzen der winzigen Enklave rund um Jerusalem. Während der römischen Zeit hatte Palästina Grenzen, die sich ständig veränderten. Und es gab Grenzen des “Jund (militärische Zone) Filastin” der muslimischen Eroberer. Und viele mehr.

Wie alle vorausgegangenen Grenzen waren auch die des britischen Mandats zufällig. Im Süden waren sie zwischen den Briten, (die damals Ägypten beherrschten) und den Türken, (die Palästina beherrschten) vor dem 1. Weltkrieg abgesprochen worden. Im Norden wurden sie nach diesem Krieg zwischen der französischen Kolonialregierung in Syrien und der britischen Kolonialregierung in Palästina vereinbart. In Transjordanien wurde ein langer Korridor bis an die Grenze zum Irak gezogen, um den freien Fluss des irakischen Öls von Mosul (damals unter britischer Kontrolle) zum Hafen von Haifa am Mittelmeer zu ermöglichen.

Es war diese zufällige Karte, die von Jabotinsky heilig gesprochen worden war, der das folgende berühmte Lied schrieb: “Der Jordan hat zwei Ufer/ das eine gehört uns/ und das andere auch.” Es war ein Teil des Abzeichens der Irgun-Untergrundbewegung und erschien auf dem Impressum der Zeitung von Jabotinskys revisionistischer Partei, der Vorgängerin des heutigen Likud. Begins Schlussfolgerung: die Sinaihalbinsel gehört nicht zum Land Israel und kann ohne moralische Skrupel aufgegeben werden. Es ging darum, Ägypten aus dem Krieg auszuschalten, der für Begin nur ein Ziel hatte: der Besitz des ganzen Landes Israel, das andere Palästina nennen.

Begin würde auch kein Problem gehabt haben, die Golanhöhen aufzugeben, die nach dieser Karte auch nicht zu Israel gehören. Aber er war von Ariel Sharon geradezu gebannt, der ihn verführte, in den Libanon einzufallen, um die PLO zu vernichten, aber sein zweites Kriegsziel verschwieg; Syrien k.o. zu schlagen (wie bekannt, hat er beide Ziele verfehlt).

In der Zwischenzeit ist eine neue Generation herangewachsen, die Jabotinsky und seine Karte nicht kennt. Im Bewusstsein der israelischen Rechte hat eine neue Karte Gestalt angenommen: das Ostufer des Jordan wurde heraus-, der Golan hineingenommen. Aber in ihrer Mitte liegt - wie immer - die Westbank.

VOR DEM Sechstage-Krieg erzählte mir der britische Historiker der Kreuzzüge, Steven Runciman, dass wir mit einem Paradox leben: “Israel wurde auf dem Land gegründet, das einmal den Philistern gehörte, während die Palästinenser, die ihren Namen den Philistern verdanken, auf dem Land leben, das einmal zum alten Königreich Israels gehörte.” Die Grenzen zwischen dem Staat Israel, der Westbank und dem Gazastreifen wurden durch den Krieg von 1948 geschaffen.

Seitdem bemüht sich der Staat Israel energisch darum, dieses Paradox abzuschaffen.

Alles, was im Moment von Bedeutung ist, geschieht als ein Teil dieser Bemühungen, die Westbank ganz in Besitz zu nehmen und zu einem Teil des Staates Israel zu machen. Alles andere ist nur wie Schaum auf dem Wasser.

Die geradezu lächerliche Condoleezza Rice kommt und geht. Ehud Olmert formuliert ein Dokument ohne Inhalt, um die Illusion eines Fortschrittes in Richtung eines palästinensischen Staates neben Israel zu schaffen. Israelische Flugzeuge bombardieren ein syrisches Gebiet, um eine Bedrohung durch “Massenvernichtungswaffen” zu eliminieren. Israel bereitet womöglich ein Bombardement von nuklearen Anlagen im Iran vor. Präsident Bush ruft zu einem “internationalen Treffen” zu einem unbestimmten Datum mit unbekannten Teilnehmern zu einem unbekannten Zweck auf.

All dies ist vorgetäuschte Wirklichkeit. Die wahre Wirklichkeit ist das, was vor Ort und tagtäglich, ja, stündlich geschieht, es sind die nächtlichen Razzien in den Städten der Westbank, der rasante Ausbau der Siedlungen, die Erweiterung des Straßennetzes “für Israelis”, weitere Straßensperren zu den schon bestehenden ca. 600, die Verschlechterung der Lebensbedingungen in den palästinensischen Ghettos auf der Westbank, während das Leben im Gazastreifen zur Hölle gemacht wird.

Dies ist der wirkliche Krieg: der Krieg um die “militärische Einverleibung Großisraels” - ein Krieg, der aus der israelischen Öffentlichkeit verschwunden ist, der aber mit aller Macht wütet - weit weg von den Augen der Israelis, die nur eine 20-Minuten-Autofahrt davon entfernt wohnen. Die Palästinenser kämpfen mit ihren schwachen Mitteln, aber mit hartnäckiger Unnachgiebigkeit.

Wenn es zwischen den beiden Völkern nicht zu einem historischen Kompromiss kommt, dann wird dieser Krieg noch Generationen andauern. Ein Junge, der heute geboren wird, wird an seinem 18. Geburtstag zu diesem Krieg eingezogen werden, genau wie die Jungen, die vor 18 Jahren geboren wurden, und sein Vater wird ihn begraben, wie dessen Vater seinen Sohn zuvor …

Der Yom Kippur Krieg war nur eine kleine Episode in dieser Kampagne. Er wurde im Norden und im Süden gegen die Syrer und die Ägypter ausgetragen. Die Palästinenser waren nicht beteiligt. Aber niemand zweifelte einen Moment daran, dass er ein Teil des israelisch-palästinensischen Konfliktes war.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert

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Veröffentlicht am

23. September 2007

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