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Die verlorene Revolution

Indien: Die einst zahllosen sozial engagierten Nichtregierungsorganisationen sind zu angepassten Netzwerken degeneriert


Von Joseph Keve

“Wir werden nicht ruhen, bis wir unser Land zurückbekommen haben!” Ratneshwar Nath war voll Optimismus, als er mit fast 300.000 Armen durch die staubigen Straßen von Bhopal zog. Die von ihm angeführte nichtstaatliche Organisation (NGO) mit dem Namen Prayog hatte sich zum Ziel gesetzt, das Land zurückzuholen, das den “tribals”, den Ureinwohnern im Bundesstaat Madhya Pradesh, entzogen worden war. Und in der Tat: Die Regierung musste handeln. Über 5.000 Familien erhielten danach ein Stück Acker, das sie bebauen konnten; zudem wurde eine Kommission eingesetzt, die den Klagen der Landlosen nachgehen sollte.

Das war im Sommer 1984. Im gleichen Jahr traf ich im September in Hyderabad den Vorsitzenden einer großen NGO, der berichtete, er sei Sponsor für die Hälfte aller Parlamentsabgeordneten von Andhra Pradesh. Das erlaube ihm, die Politik in diesem Bundesstaat maßgeblich zu beeinflussen. Wenige Monate später wurde ich von einem Treffen von NGO-Aktivisten im Bundesstaat Maharashtra ausgeschlossen. Ich würde für ein ausländisches Hilfswerk arbeiten, hieß es, und könnte ihre revolutionären Pläne verraten.

Könnte Mahatma Gandhi heute protestieren wie einst?

Vor etwa 20 Jahren war in Indien der Einfluss der politisch agierenden NGOs enorm. Sie waren selbstbewusst, konnten Hunderttausende mobilisieren, Regionalregierungen unter Druck setzen, auf Parlamente einwirken - und Leute rauswerfen, die das falsche Hemd trugen. Sie glaubten an die Veränderbarkeit der Verhältnisse und machten sich daran, jene “andere Welt” zu schaffen, von der in den Resolutionen der globalisierungskritischen Bewegungen seit Jahren oft die Rede ist. Heute ist davon nur noch wenig zu spüren.

Vor zwei Monaten traf ich in Madhya Pradesh ein paar alte Freunde, die mit ihrer lokalen NGO jahrzehntelang gute und wichtige Arbeit geleistet hatten, inzwischen aber ohne jeden Beistand auskommen müssen. “Im vergangenen Jahr hat uns die Regierung noch zwei kleine Projekte finanziert, so dass wir mit erheblichen Lohnkürzungen gerade noch über die Runden kamen”, sagte einer, der sich seit 18 Jahren für Trinkwasserversorgung, Wiederaufforstung und “tribals” einsetzt. Doch in diesem Jahr gab es nicht einmal das: “Vor einem Monat hat man uns mitgeteilt - es gibt keine Zuschüsse, keinen Lohn, kein Projekt mehr. Wir sollten zu Hause bleiben.”

Aus Gujarat höre ich von Lallubhai Desai, der in den zurückliegenden Jahrzehnten zwei große NGO-Netze geknüpft hat, dass die Familie nur überlebe, “weil meine Frau noch Geld verdient. Aber die meisten meiner Mitstreiter habe ich auf die Straße setzen müssen.” Seine einst überaus mobilisierungskräftige Hirtenbewegung Gujarat Jan Jagaran Sangh, die durch Massenaktionen die Mächtigen herausforderte, ist mittlerweile zum Torso geschrumpft und sendet die gleichen verzweifelten Hilferufe aus wie NGOs aus Rajastan, einem von häufigen Dürren gezeichneten Bundesstaat: “Stellt bitte Kontakte zu Geberorganisationen her! Helft uns, Projekte zu finden, die wir umsetzen können. Wir haben kein Geld mehr!”

Was für ein Unterschied zwischen 1984 und 2007! Damals wurden fast alle indischen NGOs auf die eine oder andere Art gefördert. Damals hatten selbst politisch eher konservativ gestrickte Hilfswerke wenig Mühe, indischen Basisbewegungen beizustehen, die für sozialen Wandel kämpften. Was ist passiert? Wie kam es, dass die einst von ihrer revolutionären Mission Überzeugten heute betteln gehen, um selbst überleben zu können? Wie hat es das System, das viele vor kurzem noch stürzen wollten, geschafft, die ehemals so unbeugsamen NGOs in die Rolle willfähriger Bittsteller zu drängen?

In den achtziger Jahren waren Begriffe wie Demokratie, Gleichheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit noch keine bloßen Schlagworte. Heute freilich hätte selbst ein so friedfertiger Mensch wie Mahatma Gandhi weitaus mehr Schwierigkeiten, als sie ihm die britischen Kolonialbehörden vor über 75 Jahren bereiteten. Sollte er versuchen, eine Handvoll Salz zu stehlen und durch Gujarat zu tragen - wie er das bei seinem Protest gegen die britische Besatzungsmacht 1930 tat -, würden ihn die Behörden wohl erschießen. Oder den Job für ein paar Rupien einem Killer überlassen - so wie im Fall des Bergarbeitergewerkschafters Shankar Guha Niyogi, der 1991 in Chhattisgarh einem Attentat zum Opfer fiel, oder des Bombayer Gewerkschaftsführers Datta Samant, der 1997 erschossen wurde.

Seit den achtziger Jahren schon verengt sich der Spielraum für radikale Strömungen. Jawaharlal Nehru, Indiens erster Regierungschef, sah in den Basisbewegungen noch ein probates Mittel, um Hilfe bis ins letzte Dorf zu tragen und das Land auch so voranzutreiben. Noch bis 1990 etwa setzten Minister der Zentralregierung auf NGOs - vorzugsweise dann, wenn sie ihren Wählern umstrittene, langwierige und mit viel Aufwand verbundene Entscheidungen nahe bringen wollten.

Danach änderte sich dies schlagartig: Die immer energischer aufbegehrenden NGOs wurden den Regierenden zusehends lästig. Sie stellten Fragen, verlangten von den Politikern Rechenschaft und mobilisierten Hunderttausende (manchmal sogar Millionen) gegen die Ungerechtigkeiten im Land. Die Politik reagierte mit einer Reihe von Gesetzesänderungen: NGOs mussten sich registrieren lassen, ihre Bilanzen vorlegen, Projektbeschreibungen einreichen, Finanzierung durch internationale Hilfswerke genehmigen lassen. So wurden aus basisorientierten Gruppen, die Sozialaktivisten in die Dörfer schickten, wo sie die Bevölkerung über ihre Bürgerrechte informierten und in Workshops vor den Verheißungen multinationaler Agro-Konzerne warnten, bürokratische Mündel des Staates.

Dazu kam, dass sich jede Partei - kaum an der Macht - eigene NGOs zulegte und entsprechend großzügig mit Budgets und Projekten versorgte. Die Konsequenz: Den regierungs- und parteinahen NGOs fehlt es auch heute an nichts. Sie residieren in noblen Quartieren, ihre Angestellten düsen in Offroadern durch urbane Elendsquartiere, freilich selten aufs Land - während die radikaleren NGOs ständig von Aufsichts- und Steuerbehörden heimgesucht und manchmal verboten werden.

Von Kranken auf dem Land will niemand etwas wissen

Viele NGOs haben allerdings auch den fundamentalen Wandel der indischen Gesellschaft verschlafen. Über die Hälfte der mehr als hunderttausend staatlich registrierten Organisationen dieses Typs arbeiten für Bildung und Gesundheit, doch ihr Ansatz blieb in den letzten 20 Jahren stets der gleiche. Noch immer folgen die Bildungs-NGOs dem britischen Muster, das Lehrpläne auf Unternehmen zuschnitt, die nach Buchhalterinnen und Fabrikarbeitern verlangten. Doch die offenen Stellen in diesen Sektoren gibt es längst nicht mehr, über 60 Prozent der indischen Arbeitslosen sind ausgebildete Fachkräfte - und wie am Fließband werden weiter bestens qualifizierte Erwerbslose produziert.

Dasselbe gilt für Hunderttausende von Krankenpflegern und Ärztinnen, die nach den Regeln der importierten Schulmedizin herangebildet werden, obwohl sie nur in den Städten und im Ausland einen Job finden und antreten wollen - von den Kranken auf dem Land will niemand etwas wissen. Desinteresse herrscht auch gegenüber einer rapide chemikalisierten Landwirtschaft, dem fabrikproduzierten Fastfood und der freien Verfügbarkeit dubioser Arzneimittel - auch Universitäten und Ministerien interessiert das nicht weiter.

Die internationalen Hilfswerke scheinen die bewegungsorientierten NGOs gleichfalls aufgegeben zu haben. Die meisten Antworten von Geberorganisationen, die von NGOs wegen konkreter Vorhaben um Unterstützung gebeten werden, beginnen mit dem Wort “sorry” und enden mit der Phrase: “Wir wünschen Ihnen bei Ihren Bemühungen viel Erfolg.” Dazwischen liegen Myriaden von Entschuldigungen, die Desinteresse signalisieren. Lallubhai Desai hat mir einen solchen Brief gezeigt. Darin steht: “Wir haben Ihren Projektvorschlag im Detail geprüft und danken für die Zeit und die Mühe, die Sie dafür investieren. Leider haben wir beschlossen, ab 2004 keine Projekte mehr in Gujarat zu fördern. Wir sind uns jedoch sicher, dass so ein guter Vorschlag die Unterstützung anderer…”

“Dabei” - seufzt Desai - “haben sich seit den Anti-Muslim-Pogromen in Gujarat unsere Sorgen vervielfacht. Ausgerechnet jetzt, da die hinduistische Regierung von Gujarat die NGOs bekämpft, lassen uns die Hilfswerke im Stich.”

Seit zehn Jahren haben sich auch Politik und Strategie der weltumspannenden Hilfswerke verändert: Einige fusionierten nach dem Modell multinationaler Konzerne und schufen globale Netze, die in der Erwartung von Mega-Auswirkungen nur noch Mega-Projekte fördern. Andere unterstützen in der Annahme, der Kapitalismus habe gewonnen, vorsichtshalber nur noch traditionelle Programme wie Direkthilfe, Katastrophenmanagement und - neuerdings ein Renner - Kleinstkredite.

Nicht wenige Hilfswerke beschlossen zudem, nur noch großen nationalen NGOs zu helfen, die enorme Summen aufnehmen können und in der Lage sind, exzellente Berichte und makellose Abrechnungen zu liefern. Etliche sind dazu übergegangen, selbst vor Ort tätig zu werden, eigene Büros einzurichten, selber Leute anzustellen und Projekte umzusetzen. Und dann gibt es da noch Hilfswerke, die (aus welchen Gründen auch immer) ihren Schwerpunkt verlegt haben - nach Afghanistan und in den Irak, in Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion oder nach Afrika.

Woran die NGOs scheitern und die Demokratie stirbt

All dies hat viele lokale NGOs verwirrt: Gestern noch sprach man von Solidarität, Vision und Partnerschaft - heute ist davon nichts mehr gefragt. Das Schlimme daran ist, dass viele indische NGOs das Gleiche mit den lokalen Gemeinschaften tun: Auch sie verabschieden sich kurzerhand, beenden Programme und kündigen Arbeitsverhältnisse. Aber wohin sollen die geschätzten 300 Millionen Hilfsbedürftigen dann gehen? Von den Behörden können sie keine Hilfe erwarten. Bei denen versickern, wie der indische Handelsminister Jairam Ramesh gerade erst zugab, 85 Prozent aller Gelder im Apparat.

Die meisten NGOs und Hilfswerke beteuern unentwegt, wie wichtig ihnen Demokratie, ein verantwortungsbewusstes Regieren und eine Teilhabe der Bevölkerung sei. Ihre Ressourcen, ihre Bemühungen dienten - so verkünden sie - allein jener großen Mehrheit, die von Zwangsarbeit und politischer Bevormundung befreit werden müsse. Aber sie tun nichts mehr, um die vielen Armen zu mobilisieren. Im Gegenteil. Sobald die sich selbst ermannen und gegen legale Machtverhältnisse Sturm laufen, ziehen sich die professionellen Helfer gern zurück. Oder wechseln stillschweigend die Seiten.

In Bombay zum Beispiel leben 70 Prozent der Menschen in Slums und auf der Straße. Wenn die vielen tausend NGOs, die hier arbeiten, diese große Mehrheit in die Lage versetzt hätten, ihren Anteil am städtischen Raum und an den städtischen Ressourcen zu verlangen, wäre die Stadt heute ein leuchtendes Beispiel für Volksbeteiligung und Good Governance. Es ist diese Kluft zwischen den Absichtserklärungen und den Handlungen der Wohlmeinenden, an der die NGOs scheitern und die Demokratie stirbt.

Joseph Keve war von 1981 bis 1993 Indien-Koordinator der Schweizer Hilfsorganisation Swissaid und von 1997 bis 2000 internationaler Direktor des kanadischen Hilfswerks South Asia Partnership. Er arbeitet derzeit als Berater verschiedener sozialer Bewegungen und als freier Journalist.

 

Indien

Staatsform
Bundesrepublik (unabhängig seit dem 15. August 1947)

Religion
80,5 Prozent Hindus,
13,4 Prozent Muslime,
2,3 Prozent Christen,
1,9 Prozent Sikh

Fläche
3.287.240 Quadratkilometer

BIP/Einwohner
720 Dollar (2006)

Einwohner
1,1 Milliarden

Alphabetisierungsrate
60,3 Prozent

Erwerbstätige nach Sektoren
5,3 Prozent Landwirtschaft und Fischfang,
32,8 Prozent Produzierendes Gewerbe,
61,9 Prozent Dienstleistungen

Beschäftigte (im organisierten Sektor)
26.443.000

Arbeitslose
40.458.000

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   30 vom 27.07.2007. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

23. September 2007

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