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Zwischen Erderwärmung und Eiszeit

USA: Mit der Brechstange Russlands nukleare Parität aushebeln


Von Wolfgang Kötter

George Bush schien überrascht, als ihm Russlands Präsident am Rande des G 8-Gipfels vorschlug, doch gemeinsam ein Raketenabwehrsystem in Irans Nachbarschaft, in Aserbaidschan, zu betreiben. Die Amerikaner könnten dann, so Putin, auf ihre in Polen und Tschechien geplanten Raketenbasen verzichten. Bisher kann sich die US-Regierung dafür nicht erwärmen. Und das hat Gründe.

“Der Kalte Krieg ist beendet”, schallt es aus Washington, gerade zu einer Zeit, da die Töne aus Moskau kämpferisch bleiben. Präsident Bush wollte denn auch beim G 8-Gipfel keinen Zweifel lassen, er betrachte Russland nicht als Feind, habe ein gutes Verhältnis zu seinem Freund “Wladimir”, und trotz eines gelegentlichen Meinungsgefälles kooperiere man doch miteinander. Woran also liegt es, dass dennoch Argwohn und Verdacht dominieren? Früher schien alles sonnenklar: Ost und West begegnen sich als “antagonistische Gesellschaftssysteme”, lautete das Erklärungsmuster auf der einen Seite. Während von gegenüber der Slogan: “freiheitliche Demokratie gegen totalitäre Diktatur” weihevoller Selbstlegitimation diente.

Nach wie vor - fast zwei Jahrzehnte nach dem Zerfall der UdSSR - trübt Konfrontation die gegenseitigen Beziehungen. Die USA und Russland haben mehr als Rivalen denn als Partner miteinander zu tun, sobald es um Stärke, Macht und Einfluss geht. Wie ein Freudscher Versprecher klang es, als Condoleezza Rice, die promovierte Russlandexpertin, kürzlich von “sowjetischen” Raketen sprach, denen durch ein amerikanisches Raketenabfangsystem in Osteuropa keine Gefahr drohe. Der Lapsus lingue klärte auf, wie im Unterbewusstsein tradierte Feindbilder die beidseitige Wahrnehmung prägen. Und genau hier liegt der Schlüssel für das Verständnis der derzeitigen US-Politik wie auch der russischen Reaktionen.

Es geht um nicht weniger als die Ausgestaltung der globalen strategischen Balance für kommende Jahrzehnte. Russland kehrt nach der Niederlage im Ost-West-Konflikt regeneriert und mit ausdrücklichem Großmachtanspruch zurück und fordert damit die allein übrig gebliebene Supermacht heraus, die derzeit nicht unbedingt im Zenit ihres Daseins steht. Augenscheinlich hat die Pax Americana als Mixtur aus Verblendung, Machtarroganz und Realitätsferne in Mittelasien und Nahost versagt. Was die Bush-Administration freilich nicht daran hindert, gegenüber Russland auf die Philosophie zu setzen: Wer einen Konkurrenten im globalen Ranking militärisch dominiert, kann ihn auch politisch in Schach halten. Als hinderlich erweist sich dabei - noch - das ungefähre strategische Gleichgewicht gegenseitiger Zerstörungsfähigkeit, das als Erbe der bipolaren Welt verblieb und seinerzeit beiden Seiten als Überlebensversicherung galt.

In 60 bis 75 Sekunden den Start einer russischen Rakete identifizieren

Diese fragile Stabilität sieht Moskau jetzt massiv unterlaufen. Als eine Brechstange zur Aushebelung des nuklearen Patts könnte den Amerikanern die Stationierung ihrer Raketenabwehrsysteme in Osteuropa und im Kaukasus dienen. Sie würden durch die vorgesehenen Radaranlagen einen präzisen Einblick in die Tests von Langstreckenraketen in Zentralrussland und bei der Nordmeerflotte erhalten. Mehr noch, sie könnten innerhalb von 60 bis 75 Sekunden den Start einer russischen Rakete identifizieren, mathematische Modelle der wahrscheinlichen Flugbahn erstellen, um sie anschließend abzuschießen. Russische Militärs befürchten nicht zu Unrecht, darunter könnte die Fähigkeit zur nuklearen Gegenwehr empfindlich leiden. Dies um so mehr, als künftig mit einer möglicherweise stetig wachsenden Zahl von US-Abfangraketen vor der eigenen Haustür zu rechnen sei. Die zur Stationierung in Polen gedachten Flugkörper werden mit Kassetten von jeweils 30 bis 40 kinetischen Hit-to-Kill-Sprengköpfen ausgerüstet sein.

Wie Bush in Heiligendamm beteuert hat, richten sich diese Systeme nicht gegen Russland - aber wenn in Polen, Tschechien und Georgien Radars und verbunkerte Raketen erst einmal installiert sind, können Aufgabe wie Zielrichtung schnell verändert und die Anlagen in das globale Raketenabwehrsystem der USA integriert werden. Gerade diese Kombination von vor Ort stationierten Waffen zur Entschärfung gegnerischer Offensivraketen mit dem vermeintlichen Schutzschild zur Abschirmung des eigenen Territoriums vor feindlichen Reaktionsschlägen sorgt für die explosive Mischung. Sie kann zu Wahnwitz, Abenteurertum oder einfach nur technischen Pannen führen und ein Nuklearinferno auslösen. Wer sich vor feindlichen Raketen schützen will, egal woher sie kommen, darf dies nicht auf Kosten Dritter tun.

Der Heiligendamm-Vorschlag Putins, gemeinsam ein Abwehrsystem zu errichten und dafür statt der osteuropäischen Radars eine bereits in Aserbaidschan existierende Anlage zu nutzen, weist einen Ausweg, wenn die Amerikaner einen solchen denn suchen.

Da schließt sich unerbittlich ein eiserner Ring

Doch sieht sich der Kreml noch anderweitig bedrängt. Die ehemals feindliche NATO rückt entgegen früheren Versprechen Schritt für Schritt an Russlands Grenzen heran. Die Ausweitung der westlichen Allianz nach Osten soll demnächst mit der Aufnahme Georgiens und der Ukraine fortgesetzt werden. Außerdem bekommen die US-Truppen, die sich bereits in den zentralasiatischen Ex-Sowjetrepubliken etabliert haben, Verstärkung durch Tausende GIs auf Militärbasen in Bulgarien und Rumänien. Auch jeder andere Staat dürfte sich unter diesen Umständen des Eindrucks nicht erwehren können: Da schließt sich unerbittlich ein eiserner Ring militärischer Präsenz aus fast jeder Richtung.

Vor Ende des Kalten Krieges betrug das quantitative Kräfteverhältnis konventioneller Streitkräfte zwischen Warschauer Pakt und NATO 3 : 1, inzwischen hat sich das ins Gegenteil verkehrt. In den vergangenen Tagen waren aus Wien von der Sonderkonferenz des KSE-Vertrages über konventionelle Streitkräfte in Europa neue Ideen zu hören: Gemeinsam müssten die NATO und Russland die im Vertrag festgeschriebenen Höchstgrenzen für Truppen und schwere Waffen an die Realitäten der gewachsenen NATO anpassen und ein ausgewogenes Kräfteverhältnis herstellen. Ob dazu allerdings der politische Wille vorhanden ist, erscheint fraglich.

Immerhin fanden die Präsidenten Russlands und der USA am weißen Ostseestrand Zeit für ein Vier-Augen-Gespräch, um die Wogen etwas zu glätten. Am ersten Juli-Wochenende soll die Schadensbegrenzung auf der Sommerresidenz von Bush senior in Kennebunkport an der nordöstlichen Atlantikküste der USA fortgesetzt werden. Um das Schlimmste abzuwenden, dürfte es nicht ausreichen, sich bei Spaziergängen am felsigen Strand von Maine lediglich gegenseitiger Sympathie zu versichern. Sinnvoller wäre es, sich nicht länger der Gewissheit zu verweigern, dass es im nuklear-kosmischen 21. Jahrhundert - wie auch schon in der zweiten Hälfte des 20. - nur eine gemeinsame Sicherheit gibt. Oder den gemeinsamen Untergang.

Bald abgeschrieben?

Raketenabwehr

Vertrag zur Begrenzung der strategischen Abwehrsysteme zwischen den USA und der Sowjetunion/ Russland (ABM) von 1972. Das Abkommen wurde 2002 von der Bush-Regierung einseitig gekündigt

Mittelstreckenraketen

Vertrag zur Beseitigung der nuklearen Mittelstreckenraketen zwischen den USA und der Sowjetunion/ Russland (INF) von 1987. Russland erwägt den Ausstieg wegen möglicher US-Abwehrraketen in Europa.

Truppen und Rüstungen

Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE). In seiner Neufassung aus dem Jahr 1999 von der NATO bisher nicht ratifiziert. Unterzeichner Russland will sich nicht länger daran halten, sollte die NATO ihre Position nicht ändern.

Kennebunkport

Der rund tausend Einwohner zählende Nobel-Ferienort liegt an der Ostküste der USA zum Atlantischen Ozean im Bundesstaat Mine. Das in einer kleinen Bucht auf dem “Walker´s Point” gebaute Anwesen ist seit Generationen das Feriendomizil des Bush-Clans und wird zur Zeit von Ex-Präsident George Bush Senior und seiner Familie bewohnt. Dieser hatte hierher während seiner Amtszeit ebenfalls ausländische Gäste wie Margaret Thatcher und Michail Gorbatschow eingeladen

Maine ist der nördlichste der so genannten Neu-England-Staaten - hier lebten die ersten englischen Kolonialisten und wollten mit dem Namen an ihre alte Heimat erinnern. Maine ist von malerischer Schönheit. Hier herrscht ein kühles Klima und an die raue felsige Küste schließen sich zum Landesinneren hin dichte Kiefernwälder mit klaren Seen und Flüssen an.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   24 vom 15.06.2007. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Wolfgang Kötter und des Verlags.

Veröffentlicht am

17. Juni 2007

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