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Yassir Arafats größter Fehler

Missachtete Volkssouveränität: Der Alleinvertretungsanspruch der PLO während des Oslo-Prozesses in den neunziger Jahren ist eine entscheidende Ursache für die derzeitigen innerpalästinensischen Konflikte


Von Mohssen Massarrat

Die Konfrontation in Palästina, die vor unser aller Augen stattfindet, verläuft nach einem Muster, das sich seit dem Oslo-Abkommen von 1993 regelmäßig wiederholt: Palästinensische “Extremisten” werden gezielt “getötet”, Regierungsmitglieder verhaftet, Privathäuser und Einrichtungen palästinensischer Organisationen zerstört - israelische Panzer rücken vor. Die Schläge der Israelis dienen nach offizieller Lesart einmal zur Abschreckung, dann wieder zur präventiven Vereitelung “palästinensischen Terrors”.

Dabei sind die “Extremisten” austauschbar. Vor Arafats Tod 2004 waren es die al-Aqsa-Brigaden von Marwan Barghouti, jetzt ist es vor allem die Hamas, die für den Wunsch nach Autonomie, Menschenwürde und Befreiung bluten muss. Seit mehreren Jahren führt Israel fast nur noch Krieg gegen die Regierungen der Palästinenser, statt gemäß Oslo-Prozess und Road Map mit ihnen zu verhandeln.

Schauen wir uns den Hergang des derzeitigen Konflikts genauer an. Dem saudischen König Abdullah gelang es im Februar, die blutige Fehde zwischen den Sicherheitskräften von Hamas und PLO zu beenden. Mahmud Abbas und Hamas-Führer Chaled Maschal verpflichteten sich in Mekka - gewiss nicht ohne politischen Druck und ansehnliche Geldzusagen -, eine Einheitsregierung zu bilden. Am 8. Februar erklärte die Hamas sogar, die von der PLO unterzeichneten Verträge - inklusive der Abkommen des Oslo-Prozesses (siehe unten) und der damit verbundenen Anerkennung Israels - zu respektieren. Israels Premier Olmert rührte das wenig, für ihn war die palästinensische Einheitsregierung weiter kein Verhandlungspartner. Statt eines Entgegenkommens provozierte er mit gezielten Anschlägen auf Hamas-Mitglieder und die Zivilbevölkerung und bekam schließlich die Eskalation, die er suchte. Am 24. April teilte die Hamas-Führung nach der Ermordung von neun Palästinensern mit: die im November 2006 einseitig verkündete Waffenruhe sei beendet. Seitdem greift Hamas israelische Grenzorte mit Qassam-Raketen an - Israel spitzt seinerseits die Konfrontation durch Militäraktionen und die Verhaftung von Hamas-Ministern zu. Zudem liefern sich militante PLO- und Hamas-Gruppen Gefechte, so dass Palästina in einen Bürgerkrieg stürzen könnte, bei dem Israel der lachende Dritte wäre. Sollte es dazu kommen, bliebe vom Traum eines eigenen Staates nicht viel übrig.

Die islamische Bewegung beerbte einen abgewirtschafteten Nationalismus

Freilich liegt die Verantwortung für dieses Desaster nicht allein bei Israel, weil die zionistische Ideologie einen Staat Palästina ausschließt. Sie liegt ebenso bei den Vereinigten Staaten wegen ihrer strategischen Partnerschaft mit Israel als hegemonialem Brückenkopf im Nahen Osten. Verantwortlich ist eine EU, die bis zur Selbstaufgabe nach der Pfeife Israels tanzt - die finanzielle Austrocknung durch die EU hat die innerpalästinensischen Gegensätze zusätzlich aufgeheizt. Keineswegs frei von Schuld sind auch die PLO und Yassir Arafat, weil sie aus einem Alleinvertretungsanspruch heraus die palästinensische Souveränität einem von Anfang an fragilen Oslo-Prozess geopfert haben.

Erinnern wir uns, wie das Oslo-Abkommen 1993 zustande kam. 1987 brach in den besetzten Gebieten die erste Intifada aus. 1988 ging aus islamischen Selbsthilfeinitiativen im Gaza-Streifen die Hamas hervor und wurde von den Israelis zunächst in der Hoffnung geduldet, sie werde die PLO schwächen und die Palästinenser spalten. Die damals ins tunesische Exil verbannte PLO erkannte die Gefahr sehr wohl, die aus der Konkurrenz mit einer neuen, jüngeren Generation der Palästinenser und zudem islamischen Bewegung erwuchs, deren Ideologie in der gesamten arabischen Welt einen abgewirtschafteten Nationalismus radikal abzulösen begann - und das in rasantem Tempo.

Arafat und die PLO handelten schnell, zu schnell. Sie taten alles, um ihre Legitimation nicht an diese neue politische Kraft aus den besetzten Gebieten zu verlieren. Bis dahin gründete sich die unbestrittene Autorität der PLO vorzugsweise auf die Unterstützung durch Millionen von Exil-Palästinensern und durch die arabischen Staaten, während die Hamas durch ihre soziale Fürsorge wie den Widerstand vor Ort an Prestige gewann.

Mit großer Eile rief der PLO-Chef 1988 in Algier den “unabhängigen Palästinenserstaat” aus, schwor einen Monat danach vor der UN-Vollversammlung dem Terrorismus ab und begann wenig später Geheimverhandlungen mit Israel, um schließlich 1993 - vier Tage vor der Osloer Prinzipienerklärung - den Staat Israel anzuerkennen. Es war das Verdienst Arafats, den gesamten Palästinensischen Nationalrat von diesem Schritt überzeugt zu haben. Allerdings ließ er sich darauf ein, dass Israel als Gegenleistung lediglich die PLO und nicht alle Repräsentanten des palästinensischen Volkes anerkannte. Arafat stellte die eigene Souveränität über die Volkssouveränität und beging damit seinen größten und unentschuldbarsten historischen Fehler. Denn die israelischen Verhandlungsführer Yitzhak Rabin und Shimon Peres hatten alles daran gesetzt, die Hamas mit ihrer inzwischen radikal antiisraelischen Haltung aus dem Oslo-Prozess heraus zu halten. Arafat ging in diese Falle, statt einen gewiss schwierigeren innerpalästinensischen Konsens zu suchen und auf dieser Basis mit Israel ein Friedensabkommen zu unterzeichnen, um so die Hamas einzubinden. Es ging eben seinerzeit nicht nur um die Zukunft der PLO allein, sondern um die aller Palästinenser. Doch mit dem Ausschluss von Hamas wurde - ganz im Sinne Israels - ein Teil des palästinensischen Volkes ausgeschlossen.

Damit war nicht nur das demokratische Prinzip der Volkssouveränität verletzt - Arafats unzureichende Legitimation und dadurch selbst verschuldete Schwäche ermöglichten es Rabin und Peres, ein Abkommen auszuhandeln, das Israel nahezu alle Wünsche erfüllte, während es die Palästinenser mit symbolischen Gesten abspeiste. Deren maßgebliche Ziele (eigener Staat, Hauptstadt Ostjerusalem, Auflösung der jüdischen Siedlungen, Rückkehr der Flüchtlinge) fanden sich lediglich in unverbindlichen Absichtserklärungen berücksichtigt. Schlimmer noch: Vom Oslo-Prozess gänzlich ausgegrenzt, sah sich die Hamas faktisch dazu gedrängt, die entsprechenden Abkommen zurückzuweisen, die Ablehnung des Staates Israel als unverhandelbar zu erklären und sich immer radikaleren Kampfformen zuzuwenden, zu denen auch Selbstmordattentate gehörten.

Ein größerer Schaden für die Demokratie, als al Qaida ihn je anrichten kann

Die Spaltung der Palästinenser ward so institutionalisiert. Arafats Kalkül, durch rasch verbesserte Lebensbedingungen und mehr Rechte für die Palästinenser, Hamas den Boden zu entziehen, ging nicht auf. Ihr blieb - wollte sie sich nicht aufgeben - keine andere Wahl, als an der Autonomieregierung vorbei nach innen und außen selbstständig und ohne Verantwortung gegenüber dem gesamten palästinensischen Volk zu handeln und die süßen Träume Arafats und der PLO zu jeder Zeit und an jedem Ort zu vereiteln. Dieser Dissens war allen israelischen Regierungen - von Rabin über Netanyahu bis Olmert - Anlass genug, mittels gezielter, wohl dosierter staatsterroristischer Aktionen radikale Palästinenser (von den al-Aqsa-Brigaden bis Hamas) zum Gegenterror zu provozieren und die von Arafat und dessen Nachfolger Abbas geführte Autonomieregierung von der einen in die nächste Krise zu stürzen.

Es ist nicht das erste Mal, dass politischer Alleinvertretungsanspruch und verletzte Volkssouveränität dem Terror den Weg geebnet haben: der Ausschluss der katholischen Minderheit in Nordirland bescherte dem Land blutigen Terror; der Eliminierung der Volksmudschaheddin von der Macht nach der Islamischen Revolution im Iran 1979 trieb Zehntausende junger Perser ins politische Abseits und Exil, wo sie viele Jahre für Saddam Hussein und die USA Handlangerdienste leisteten. Schließlich führte der Alleinvertretungsanspruch der algerischen Einheitspartei FLN zur - übrigens von Frankreich und allen anderen westlichen Demokratien - gebilligten Annullierung der Wahlen von 1992 und löste so einen Bürgerkrieg mit der Islamische Heilsfront (FIS) aus, dem Hunderttausende Algerier zum Opfer fielen.

Mit dem Sieg von Hamas am 25. Januar 2006 bei den freiesten Wahlen, die Palästina je erlebte, hat die Mehrheit der Palästinenser nicht nur die korrupte PLO abgewählt, sondern auch die von Arafat hinterlassene Demokratie- und Souveränitätslücke wieder geschlossen. Doch da traten ausgerechnet Condoleezza Rice, Angela Merkel und die gesamte Elite der EU - also jene Repräsentanten westlicher Demokratien, die den Arabern Demokratie beibringen wollen - auf den Plan und boykottierten die demokratisch gewählte Hamas-Regierung mit aller Konsequenz. Ein schwerwiegender Verrat an den universellen Prinzipien der Demokratie und der Volkssouveränität. Mehr noch: Rice, Merkel und andere haben mit ihrem finanziellen und politischen Boykott zunächst gegenüber der Hamas- und später der Einheitsregierung in Palästina mit dafür gesorgt, dass Milliarden von Menschen weit über die arabisch-islamische Welt hinaus ihren Glauben an die westlichen Demokratie und eine Zukunft in der Demokratie verloren haben. Die vermeintlich demokratische Elite des Westens hat durch ihre ungebrochene Parteinahme für Israels Politik des divide et impera den israelisch-palästinensischen Dauerkonflikt mit zu verantworten. Sie hat damit der Demokratie mehr geschadet, als dies deren erklärte Feinde wie al Qaida je tun können.

Mohssen Massarrat ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück. Aktiv in der Friedensbewegung war er Mitbegründer der Koalition für Leben und Frieden. Massarrat hat zahlreiche Bücher zu den internationalen Wirtschaftsbeziehungen, zum Mittleren Osten sowie zur Friedens- und Konfliktforschung geschrieben, u. a. Amerikas Weltordnung. Hegemonie und Kriege um Öl sowie Kapitalismus - Machtungleichheit - Nachhaltigkeit. Perspektiven revolutionärer Reformen.

Der Oslo-Prozess ab 1993

Dokumentation

Brief von Arafat

Nach fast zwei Jahren bilateraler Gespräche gab es am 9. September 1993 einen Durchbruch in den israelisch-palästinensischen Beziehungen. Der PLO-Vorsitzende Yassir Arafat richtete ein Schreiben an den damaligen Premier Yitzhak Rabin, in dem er unwiderruflich feststellte, dass die PLO:

  • erstens, das Recht Israels auf eine Existenz in Frieden und Sicherheit anerkenne;

  • zweitens, sich zu einer friedlichen Lösung des Palästina-Konflikts verpflichte;

  • drittens, sich der Anwendung des Terrorismus und andere Gewalttaten künftig enthalten werde;

  • viertens, die Verantwortung übernehme, dass alle Gruppen innerhalb der PLO die mit Israel getroffenen Vereinbarungen einhalten, und Maßnahmen gegen Personen ergreifen werde, die dagegen verstoßen;

  • fünftens, diejenigen Artikel der PLO-Charta, die Israels Existenzrecht leugnen, außer Kraft setzen werde.

Als Reaktion darauf erkannte Israel die PLO als legitime Vertretung der Palästinenser bei allen künftigen Friedengesprächen an.

Prinzipien-Erklärung

Es folgte am 13. September 1993 eine gemeinsame israelisch-palästinensische Prinzipien-Erklärung, die in Washington unterzeichnet wurde und einen Vorschlag für die Regelung der palästinensischen Selbstverwaltung in Gaza und Jericho enthielt sowie die Übertragung weiterer Befugnisse an die Palästinenser im Westjordanland.

Gaza-Jericho-Abkommen

Dieser Vertrag, unterzeichnet am 4. Mai 1994, regelte den Rückzug der israelischen Verwaltung und Armee aus Gaza und Jericho und fixierte die Verantwortlichkeiten einer Palästinensischen Autonomiebehörde. Ergänzt wurde das Abkommen durch eine Vereinbarung vom 29. August 1994, die der Autonomiebehörde die Zuständigkeit für die Bereiche: Erziehung und Kultur, Gesundheit, Sozialwesen, Direkte Besteuerung und Fremdenverkehr zuwies

Abschließende Regelungen

Auf der Basis all dieser Regelungen sollten spätestens im Mai 1996 Verhandlungen über einen dauerhaften Status der Palästinenser-Gebiete (Final Talks), die Zukunft Jerusalems, über die Regelung der Flüchtlingsfrage und den Umgang mit den israelischen Siedlungen im Gaza-Streifen und im Westjordanland sowie die künftige Grenzziehung aufgenommen werden - ein entsprechendes Abkommen sollte im Mai 1999 in Kraft treten.

Doch dazu kam es nie.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   23 vom 08.06.2007. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Mohssen Massarrat und des Verlags.

Veröffentlicht am

09. Juni 2007

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