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168 Särge für den Staatsanwalt

Kolumbien: Die Bewohner von San José de Apartadó wollen nicht länger Barbarei und Bürgerkrieg ausgeliefert sein


Von Leila Dregger

Mitten im kolumbianischen Bürgerkrieg entstanden vor zehn Jahren 15 Friedensdörfer, die ihre strikte Neutralität erklärten. Das bekannteste, San José de Apartadó im Nordwesten Kolumbiens, erhält den Aachener Friedenspreis 2007, wurde am 8. Mai entschieden. Seinem Bekenntnis zur Gewaltfreiheit musste der Ort einen hohen Tribut zollen: Seit 1997 wurden 168 seiner Bewohner von Paramilitärs getötet.

Ein Ort am Ende der Welt, umgeben von Regenwald, Bananenhainen und Kakaoplantagen. Kinder flitzen um die Bretterhütten, ein Rinnsal aus Abwässern fließt träge über die Dorfstraße, zwei Schweine suchen sich ihr Futter. Der Wind lässt ein bisschen Staub am Straßenrand fallen. Die Büsche liegen ganz still. Es könnte eine pastorale Idylle sein.

Tatsächlich kann es die Hölle sein. Ringsherum liegen Camps bewaffneter Gruppen. Nachts leuchten ihre Lagerfeuer. Nur unter Lebensgefahr können die Dorfbewohner in den Wald oder auf ihre Felder gehen. Nordwestkolumbien gehört zu den Regionen des Landes, in denen Landarbeiter und Kleinbauern seit Jahrzehnten zwischen den Fronten von Paramilitärs, Armee und Guerilla-Einheiten stehen. Tausende starben, Millionen verzweifelten und flohen vor diesem Konflikt um Bodenschätze, Herrschaft und Latifundien, einem scheinbar ewig schwelenden Bürgerkrieg, in dem trotz aller Befriedungsversuche Barbarei und Chaos die Maßlosigkeit der Gewalt auskosten.

In San José de Apartadó schlossen sich vor zehn Jahren auf Ratschlag der Katholischen Kirche über tausend Landarbeiter, Bauern und Vertriebene zu einem Friedensdorf zusammen - das heißt, mehrere Gemeinden erklärten sich zur neutralen Zone, was allen ringsherum zu verstehen gab: Wir kooperieren mit keiner der bewaffneten Gruppen, wir dulden keine Waffen im Dorf, wir verbieten Alkohol und Drogen. Es war im April, dass San José dazu einlud, die zehnjährige Treue zu diesem Schwur zu feiern; und über hundert Besucher aus ganz Kolumbien und dem Ausland kamen.

Ja, ihr sei klar, sagt Doña Maria, dass sie die Nächste sein könnte

“Il Silencio”, dröhnt es vom Lautsprecherwagen. Etwa 400 Menschen bewegen sich gemessenen Schrittes und schweigend in einer Prozession. Ein junges Mädchen auf einem Pferd hält eine Tafel mit Porträts: Jungen in ihrem Alter sind darauf zu sehen, ältere Frauen, gestandene Männer, viele Kinder. Im Zug hinter ihr werden lange, schmale Kartons aus schwarzer Pappe auf den Schultern getragen, oben jeweils mit einem Kreuz versehen. 168 symbolische Särge, jeder Sarg erzählt von einem Bruder, einem Onkel, einer Mutter, einem Freund - von Menschen, die seit dem Frühjahr 1997 getötet wurden.

Trotz oder gerade wegen seiner Gewaltfreiheit wird das Friedensdorf von der marodierenden Gewalt in seiner Umgebung als Bedrohung empfunden. San José de Apartadó ist ein Zeichen der Hoffnung über den Schatten des Unheils hinaus. Wenn San José überlebt, glauben viele, dann hat Kolumbien ein Beispiel und eine Chance auf Frieden. Fast jeder Bewohner des Dorfes musste schon einen Anschlag auf wenigstens einen nahen Angehörigen miterleben. Wie geht man damit um? Was gibt ihnen die Kraft, weiter zu leben?

Doña Maria ist eine rundliche Frau, 56 Jahre alt, einst Textilarbeiterin, mehrfache Großmutter, das Gesicht überzogen von einem Netz feiner Lachfalten, als sich ein Schmetterling auf ihre Schulter setzt. “Blumen, Bäume, Licht, Vögel, die Natur, das ist für mich Gott”, erzählt sie. Vor einem Jahr starb ihre 16-jährige Tochter gemeinsam mit einer Freundin durch die Schüsse eines Unbekannten. Die ältere Tochter von Doña Maria ist “verschollen”, seit acht Jahren nun schon. Es wäre ein Wunder, kehrte sie eines Tages zurück. Einzig der Sohn lebt noch. Maria ist Mitglied im Rat des Friedensdorfes. “Keines der Verbrechen, die hier verübt wurden, kam je vor einen Richter”, sagt sie. “Es ist, als hätten meine Kinder nie existiert.”

Immer wieder sind es die Sprecher des Dorfes oder ist es jemand aus ihrer Familie, der im Bananenhain, auf dem Weg in die Stadt oder auch in seiner Hütte erschlagen oder erschossen wird. Vor aller Augen. “Ja”, nickt Doña Maria ernst. Ja, ihr sei klar, dass sie die Nächste sein könnte.

Die 168 Pappsärge werden nach Apartadó getragen und vor dem Sitz der Staatsanwaltschaft abgelegt. Ein Protest gegen die Ignoranz der Behörden. Stundenlang dauert der Marsch durch die Hitze. Zwei Frauen behandeln Teilnehmer, die vor Schwäche nicht mehr weiter können: die Krankenschwester Andrea Regelmann und die eigentlich als Tierärztin ausgebildete Irma Fäthke aus Deutschland, die in San Josecito einen Puesto de Salud, eine Gesundheitsstation, aufgebaut haben. Mit einfachsten Mitteln behandeln sie in einem Bretterverschlag Krankheiten und Beschwerden, helfen bei Symptomen mangelhafter Hygiene und Ernährung. Manche Patienten sind bis zu acht Stunden durch den Regenwald unterwegs, weil sie Hilfe brauchen. “Schon weil wir da sind, dienen wir als so etwas wie ein menschlicher Schutzschild”, erzählt Andrea Regelmann, “wir können Leute aus San José de Apartadó begleiten und dadurch schützen, wenn sie in die Stadt wollen. Hilfe heißt in diesem Fall auch Zuhören. Die meisten Bewohner brauchen Menschen, denen sie ihre Geschichte erzählen können.”

Inzwischen ist das Dorf weltweit bekannt; Amnesty International und Peace Brigades International unterstützen es, ein belgischer Stadtrat und ein Kindergarten in Südtirol haben Gelder gesammelt, die deutsche Solarfirma Sunvention stiftet eine Anlage, das Friedensforschungszentrum Tamera in Portugal steht in enger Kooperation, das spanische Netzwerk Acompaz leistet humanitäre Hilfe, und eine italienische Gruppe hat ein Lied über San José de Apartadó geschrieben. Als habe eine internationale Bewegung dieses Fort der Unerschrockenen adoptiert.

Die Zuwendung aus dem Ausland wirkt wie ein Schutzwall, solange Gäste aus Europa oder Nordamerika San José de Apartadó besuchen, gibt es keine Überfälle, dass wollen die Paramilitärs nicht riskieren.

So ist der Ort nicht nur Refugium der Friedfertigen, gleichfalls Vorbild für andere, ein Muster für weitere Friedensgemeinden. Inzwischen gibt es in Kolumbien 15 weitere Dörfer, die ebenso ihre Neutralität erklärt haben und deren Bewohner sich nicht vertreiben lassen. “Friedensgemeinschaften wie San José sind strategisch wichtige Punkte, um den Selbstmord des Planeten zu stoppen”, sagt Ivan Cepeda, Buchautor, Anwalt und Mitgründer der kolumbianischen Bewegung der Opfer sehr pathetisch.

Die Prozession ist am Ziel und hält vor einer provisorischen Bühne, auf der ein Chor inbrünstig die Hymne der Friedensgemeinde singt. Der Refrain mit seinem “con mucho amor” - mit viel Liebe - bleibt haften.

Fernando weiß, die meisten Bewaffneten in der Gegend sind jünger als er

Einer der Sänger, Fernando, ist schlaksige 17 Jahre alt; bei der Gründung des Dorfes war er noch ein Kind. Er kann sich noch erinnern, dass sein Onkel zu einem der ersten Sprecher der Gemeinde gewählt wurde. Deshalb traf ihn tödlicher Hass. “Vor zwei Jahren wurde er zusammen mit der Frau und dem kleinen Sohn umgebracht”, erzählt Fernando. Er weiß, dass die meisten Bewaffneten in der Gegend jünger sind als er. Täglich seien im Radio die Werbebotschaften zu hören, mit denen Paramilitärs und Guerillas immer jüngere Rekruten locken, bei ihnen mitzumachen. Ist der Gedanke, auch ein Gewehr in der Hand zu halten, manchmal reizvoll für ihn?

Fernando glaubt das nicht. “Rache macht die aus meiner Familie auch nicht wieder lebendig. Die Ursachen für die Gewalt liegen tiefer, und die will ich beenden. Und außerdem”, lacht er verlegen, “außerdem will ich Sänger werden, kein Soldat.” Er wird sich nichts vormachen. Die Chancen für eine solche Zukunft stehen schlecht. Bis jetzt gibt es in San José de Apartadó nur einen Beruf, den man ausüben kann: Man kann nur Landarbeiter werden.

Ein älterer Herr ergreift das Mikrofon: Padre Javier Giraldo. Er war es, der vor zehn Jahren vorschlug, das Friedensdorf zu gründen. Heute müssten sie alle nach vorn schauen und an das Schicksal ihrer Kinder denken. “Wenn alles so bleibt, wie es ist, dann müssen die Jungen weggehen, um etwas zu lernen. Und das wäre das Ende dieses Ortes.”

Um das zu ändern, wurde eine “Universität des Widerstands” gegründet. “Wir haben schon mit dem Unterricht begonnen”, sagt Doña Maria, “die Fächer sind Gesundheit, Ernährung und Recht.”

Zur Zeit werden an der “Universität des Widerstands” 60 indigene Juristen ausgebildet. Eine Idee, ein Projekt, das nicht nur auf San José de Apartadó beschränkt bleiben sollte, finden die internationalen Partner des Friedensdorfes. Die Theologin Sabine Lichtenfels vom Friedensforschungszentrum Tamera, eine der “1.000 Frauen für den Friedensnobelpreis”, spricht vielen aus dem Herzen: “Wirksamster Schutz für San José ist die Präsenz der Internationalen. Lasst uns also helfen, dass immer Menschen aus aller Welt hier sind. Weltweit brauchen Menschen Wissen über gewaltfreien Widerstand. Sie können es hier lernen. Wo sonst sollte das besser möglich sein.” Im nächsten Jahr will Lichtenfels Friedenslehrer aus Europa, Indien und den USA nach San José bringen, dann wäre die “Universität des Widerstands” zum “globalen Campus” befördert.

Gäbe es ein Buch, in dem die Geschichte von San José de Apartadó aufgeschrieben wäre, ließe sich darin viel lesen über Verlust und Abschied, über die alltägliche Mühe des Überlebens, und vielleicht auch über die Landschaft, die ein Paradies sein könnte. Viel Dunkel, auch ein wenig Licht, wo der Regenwald aufhört.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   20 vom 18.05.2007. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

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Veröffentlicht am

24. Mai 2007

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