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Das Rätsel der Kügelchen

Verbotene Experimente: Erneut bestätigt ein renommierter Wissenschaftler den Verdacht, dass ein schwerer Atomunfall in der Elbmarsch seit über 20 Jahren verschwiegen wird


Von Wolf Wetzel

Über die Ursachen für die ungewöhnliche Häufung von Leukämiefällen in der Elbmarsch bei Geesthacht wird seit Jahren gestritten. Mitte April präsentierte der Atomphysiker Vladislav Mironov dem schleswig-holsteinischen Landtag Untersuchungsergebnisse, die einen lange gehegten Verdacht erhärten: Beim Experimentieren mit Brennstoffelementen für militärische Zwecke könnte ein Unfall passiert sein, der vertuscht wurde.

Knapp 30 Kilometer von Hamburg entfernt liegt die kleine Ortschaft Geesthacht, direkt an der Elbe. Von dort aus kann man das Atomkraftwerk Krümmel sehen, das die Elbe als Kühlwasser nutzt. Nur wenige hundert Meter davon entfernt im Wald befindet sich ein staatliches Atomforschungszentrum, die GKSS (Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schifffahrt).

Am 12. September 1986 wurden im Kernkraftwerk Krümmel erhöhte radioaktive Werte festgestellt. Sofort konnte aber definitiv ausgeschlossen werden, dass diese im Werk selbst verursacht wurden. Bereits einen Tag später schloss der Leiter des AKW, Werner Hartel, die Ursachensuche ab: Es bestünde überhaupt "kein Grund zur Unruhe". Daran hielten sich alle, bis Anfang der neunziger Jahre die ersten Fälle von Blutkrebs, vor allem bei Kindern auftauchten. Die Bürgerinitiative gegen Leukämie (BI) wurde gegründet: Sie forderte eine unabhängige Untersuchung. 1991 und 1992 wurden von den Landesregierungen Schleswig-Holstein und Niedersachsen Untersuchungskommissionen ins Leben gerufen. Wissenschaftler nahmen mit Unterstützung der Bürgerinitiative Boden- und Staubproben in der Umgebung von Geesthacht. Dabei fanden sie immer wieder bis zu einem Millimeter große Kügelchen, die nach Separation und Aufschluss hochradioaktive Substanzen enthielten.

Die von der schleswig-holsteinischen Landesregierung eingesetzte "Fachkommission Leukämie" stellte 2004 nach über elfjähriger Tätigkeit ihren Abschlussbericht vor. Sie schloss aus, dass es sich um Fallout früherer Atomtests handelt, und auch, dass diese Substanzen aus dem Betrieb des AKW stammen. Aufgrund der Lokalität des Ereignisses kämen auch Folgewirkungen des Reaktorunfalls in Tschernobyl nicht in Betracht. Übrig blieben Erklärungsversuche über "geheimgehaltene kerntechnische Sonderexperimente auf dem GKSS-Gelände". Als die Kommission jedoch dieser Spur folgen wollte, stieß sie auf massiven Widerstand - vom eigenen Auftraggeber, der Landesregierung Schleswig-Holstein. Sechs der acht Kommissionsmitglieder erklärten daraufhin ihren Rücktritt: "Wir haben das Vertrauen in diese Landesregierung verloren."

Die Gutachterschlacht

Für die in den Bodenproben gefundenen radioaktiven Mikrokügelchen gibt es in Deutschland nur einen Hersteller: Die Plutoniumfabrik Nukem-Hobeg in Hanau. Dort wurden zwischen 1974 und 1988 für die Hochtemperaturreaktor-Linie kugelförmige Brennelemente hergestellt. Was diesen atomaren Kernbrennstoff von allen anderen unterschied, war sein Anreicherungsgrad: Die Brennstoffkerne bestanden im wesentlichen aus 93 Prozent angereichertem Uran 235 und Thorium 232. Hoch angereicherteres, also waffenfähiges Uran 235 spielt bei Versuchen, Atombomben zu miniaturisieren, eine wesentliche Rolle.

Die Brisanz dieses kugelförmigen radioaktiven Materials liegt auf der Hand: Hochangereicherten Kernbrennstoff braucht man für militärische Ambitionen. Wären die in Bodenproben gefundenen Mikrokügelchen rund um Geesthacht mit diesem bombenfähigen Material identisch, läge der Verdacht nahe, dass dieses für militärische Optionen "abgezweigt" wurde. Das staatliche Atomforschungszentrum GKSS ist die einzige Anlage in der näheren Umgebung, die für derartige Zielsetzungen gerüstet ist.

Ist das der Grund, warum bis heute sämtliche staatlichen Stellen keine Erklärung für die größte Leukämiedichte auf der Welt finden können, einen nuklearen "Unfall" bestreiten, die Existenz dieser Mikrokügelchen entweder leugnen oder verharmlosen?

Seit Anfang 2000 tobt ein erbitterter und ungleicher Experten- und Gutachterstreit über das, was man in den Staub- und Bodenproben gefunden hat. Auf ein Gutachten, das radioaktive Substanzen nachweist, folgt ein Gutachten, das genau dieses ausschließt.

2004 begannen die Journalistinnen Angelica Fell und Barbara Dickmann mit einer ZDF-Dokumentation über die Hintergründe der tödlichen Leukämie-Erkrankungen rund um Geesthacht. Neben zahlreichen anderen Bemühungen, die Vorwürfe von seiten der BI und der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) zu überprüfen, entschlossen sie sich, eine erneute Probenentnahme nahe der GKSS zu begleiten und filmisch zu dokumentieren. Mit der Untersuchung dieser Proben beauftragten BI und IPPNW das Institut für Mineralogie der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt. Mit dem Ziel, alle Parteien an einen Tisch zu bringen, setzten sich die Redakteurinnen auch mit dem für Reaktorsicherheit in Schleswig-Holstein zuständigen Abteilungsleiter, Wolfgang Cloosters, in Verbindung. Am 20. Dezember 2004 wurden von dem Frankfurter Mineralogen Axel Gerdes in Gegenwart des ZDF-Teams eine Staubprobe und sechs Bodenproben aus der Elbmarsch genommen.

Sechs Wochen später, am 4. Februar 2005 erschien das ZDF-Team im Frankfurter Institut. Man wollte das Ergebnis auch im Bild festhalten und Axel Gerdes die Gelegenheit zur Erläuterung geben. In seinem Gutachten hatte er geschrieben: "Die gefundenen Uran- und Plutoniumkonzentrationen sind mit einer Ausnahme als relativ niedrig im Vergleich zu typischen Konzentration in Böden und Gesteinen Deutschlands zu bezeichnen."

Nun sollten die Proben noch einmal vor der Kamera angesehen werden. Die ZDF-Redakteurin Angelica Fell bat darum, Proben unter dem Mikroskop zu betrachten. Sie blickte auf den Monitor: "Da ist eins. Das meine ich!" Axel Gerdes schaute durchs Mikroskop. Zuerst fragte er: "Wo denn?" - "Da, da, sehen Sie nicht?" antwortete Fell und zeigte mit dem Finger auf den Monitor. Kurz darauf räumte Gerdes ein: "Da sind erstaunlich viele, so um die 100 Stück."

Damit wäre Gerdes´ Leugnung der Kügelchen ad absurdum geführt worden. Die Szene hält fest, wie ein Wissenschaftler vor laufender Kamera dabei ertappt wird, eine Manipulation gedeckt zu haben. Doch die hier beschriebene Filmsequenz wurde aus dem am 2. April 2006 im ZDF ausgestrahlten Film Und keiner weiß warum… Leukämietod in der Elbmarsch herausgeschnitten. Der Institutsleiter Gerhard Brey hatte mit rechtlichen Schritten gedroht, sollte diese Szene an die Öffentlichkeit gelangen.

Eindeutige Ergebnisse

Schon zuvor hatte der Leiter der Reaktoraufsichtsbehörde in Kiel Kontakt mit dem Institutsleiter Brey aufgenommen. Offensichtlich wurde Druck auf das Frankfurter Institut ausgeübt, denn die staatliche Intervention zeigte Wirkung. Der Institutsleiter teilte der ZDF-Redaktion mit, wenn sie an einer Untersuchung dieser Kügelchen interessiert sei, sollte sie sich doch bitte an das BKA beziehungsweise die Polizei wenden. Die Brisanz der Problematik sei einfach zu hoch. Um sicher zu gehen, dass es nichts gibt, was es nicht geben darf, rang Institutsleiter Brey der ZDF-Redaktion eine Erklärung ab, dass die Kügelchen nicht Gegenstand der Sendung sein würden. Doch er begnügte sich nicht mit dieser Zusicherung, sondern sorgte dafür, dass das, was nicht gezeigt werden darf, auch nicht untersucht wurde. Nach dem Gespräch mit dem Ministerium "untersagte" Brey seinem Mitarbeiter, "die Kügelchen explizit zu untersuchen".

Die ZDF-Redakteurinnen wollten sich mit diesem manipulierten Ergebnis nicht abfinden. Sie konnten schließlich die Internationale Sacharov-Umwelt-Universität in Minsk gewinnen, die Bodenproben aus der Elbmarsch zu untersuchen. Das Gutachten präsentierte Professor Vladislav Mironov am 12. April auf einer Anhörung im niedersächsischen Landtag. Zahlreiche Wissenschaftler waren eingeladen, um die Ursachen für die massiven Leukämie-Erkrankungen zu klären. Mironov legte die Untersuchungsmethoden offen, mit denen er hochangereichertes Uran, Plutonium und Thorium nachgewiesen hatte und bestätigte an dieser Stelle, dass diese radioaktive Kontaminierung weder mit dem Fall-Out von Tschernobyl noch mit dem Normalbetrieb eines Atomkraftwerks erklärt werden kann.

Von höchster politischer Brisanz waren seine Ergänzungen, als er von dem Lüneburger Amtsarzt Hajo Dieckmann nach dem Verursacher gefragt wurde: "Ich verstehe Sie richtig, diese Konstellation von Isotopen, die Sie gefunden haben, kann nicht aus einem kommerziellen Reaktor stammen?" Mironov: "Richtig." - "Es kann also nur aus einem Forschungsreaktor stammen?" Woraufhin Mironov antwortete: "Nicht aus einem Leistungsreaktor mit Uran-Kernbrennstoff. Die in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke in Westeuropa setzen Uran-Kernbrennstoff mit der Anreicherung bis vier Prozent ein. Hier haben wir es mit hohen Konzentrationen von Uran 235 zu tun. Das kann nur aus einem Brüter stammen, wo die Produktion dieses Isotops ein Ziel ist."

Keiner der zahlreich anwesenden Wissenschaftler bestritt diese Schlussfolgerung, genauso wenig wie die Feststellung, dass "nur durch einen Störfall mit Freisetzung … die Präsenz solcher Nuklide in der Natur möglich" ist. Nur eine einzige atomare Anlage in einem Radius von 50 Kilometern um Geesthacht kommt für dieses "Störerprofil" in Frage. Die GKSS.

Das Protokoll der Anhörung ist einsehbar bei der BI gegen Leukämie in der Elbmarsch: www.biglie.de .

 

Quelle: Freitag   - Die Ost-West-Wochenzeitung 19 vom 11.05.2007. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

 

Veröffentlicht am

13. Mai 2007

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