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Die neuen Wächter von Tschernobyl

Przewalski-Pferde und Wildschweine: Über zwei Jahrzehnte nach der Reaktorkatastrophe ist in der Sonderzone ein Biotop eigener Art entstanden


Von Tobias Münchmeyer

Ein Traumbild, unscharf wie aus der Tiefe des Unbewussten: Eine Herde kleinwüchsiger Pferde trabt lässig vor unserem Auto über die Straße. Mächtige Hälse, klobige Köpfe - Przewalski-Pferde, die Neandertaler unter den Pferden. Wie in Zeitlupe bewegen sie sich, mit großer Selbstverständlichkeit. Jede ihrer Bewegungen scheint zu verraten: Wir kommen von ganz weit her, aus der Steinzeit, und wir lassen uns durch gar nichts aus unserer Ruhe bringen. 21 von ihnen sind vor vier Jahren hier “ausgewildert” worden, sagen die Zoologen.

Eine wildere neue Heimat hätten sie auf diesem Planeten kaum finden können. Wir treffen auf die Pferde in etwa 150 Meter Entfernung vom zerstörten Block Nr. 4 des einstigen Kernkraftwerks Tschernobyl. In seinem Buch Die Wächter des Sarkophags hatte Alexander Kluge vor elf Jahren geschrieben, der einbetonierte Koloss sei “herrenlos” geworden. Das stimmt nun nicht mehr. Diese Urwildpferde sind seine neuen Wächter. Bereits die berühmten Steinzeitfresken in den Höhlen von Lascaux in Frankreich zeigen Przewalski-Pferde. Sie haben sich seit 20.000 Jahren offenbar äußerlich kaum verändert. Die Halbwertszeit von Plutonium beträgt 24.110 Jahre. Wer wäre also besser als Wächter des Sarkophags geeignet, als die ewigen Przewalski-Pferde? Einerseits. Andererseits: Wie lange werden die Pferde die extreme Strahlenbelastung aushalten?

Hinter der Schallmauer der Zeit

Das dritte Mal fahre ich nun in die Zone. Ihr offizieller Name ist Sona Otschuschdenija, wörtlich übersetzt “Zone der Entfremdung” oder der “Isoliertheit”. Die Autofahrt von Kiew bis zum Rand dieses Areals dauert anderthalb Stunden. Zuerst ist es nur eine ganz normale Fahrt aus einer Großstadt heraus in die Provinz: Industrieanlagen, Vorstadt, Wiesen und Felder, Datschensiedlungen, größere Dörfer, kleinere Dörfer in immer größeren Abständen. Es wird einsam. Und dann plötzlich durchstößt oder besser durchschneidet man eine unsichtbare Schallmauer. Es ist die Schallmauer der Zeit.

Dahinter läuft die Zeit rückwärts: Nicht die Abfolge der Jahreszeiten gibt hier den Rhythmus vor, sondern die ablaufenden Halbwertszeiten der Radionukleide. Strontium, Caesium, Plutonium. Wie eine Eieruhr, die gegen den Uhrzeigersinn Richtung Null tickt, nur ist diese Null in Tschernobyl Tausende von Jahren entfernt. Die “Zone” ist das am stärksten kontaminierte Gebiet, das sich in etwa einem Radius von 30 Kilometern um das Atomkraftwerk erstreckt. Um in die Zone zu gelangen, muss man einen Kontrollpunkt passieren. Wie eine Grenzanlage sieht der aus. Stacheldraht, bewaffnete Posten in Uniform und ein rot-weißer Schlagbaum. Nach einer Ausweiskontrolle wird man lässig hinein gewunken. Beim Verlassen der Zone werden Geigerzähler an die Autos gehalten. Eigentlich sind diese Kontrollen eine Farce. Die “Grenzanlagen” reichen links und rechts vom Kontrollpunkt nur einige hundert Meter weit. Die Zone ist offen.

Mücken schwirren heran. Dezent und leise nähern sie sich, um zuzustechen. Ich will aber nicht gestochen werden. Nein, gerade an diesem Ort möchte ich wirklich nicht gestochen werden. Mein ganzer Körper hat sich auf Abwehr gegen äußere unsichtbare Gefahren eingestellt. Man versucht instinktiv, möglichst flach, möglichst wenig zu atmen - die Haut scheint alle Poren geschlossen zu haben, dass man zu ersticken glaubt. Und dann kommen diese kleinen Vampire und wollen mit ihren Stacheln diesen Schutzmantel durchbohren. Man wird beinahe paranoid beim Anblick einer Mücke, als ob die Mücken Radioaktivität wie Malaria übertragen könnten, doch sind diese Insekten so ziemlich das Ungefährlichste, was es in der Zone gibt.

Ein Kindergarten. Die Tür steht offen. Kein Lachen, kein Singen, kein Weinen. Keine Kinder, keine Erzieherinnen. Auf dem Boden Kuscheltiere, schmutzig und alt, und Kinderpuppen, nackt und zerbrochen. Wahrscheinlich eher von Fotografen auf dem Boden drapiert, als von Kindern auf der Flucht zurückgelassen? Nur ein leeres Haus, nicht mehr, denke ich. Ein leeres Haus mit leeren Kinderbetten, mit leeren Kleiderhaken, mit leeren Stühlen. Leer. Leer. Leer. Leer. Ich schaue gedankenverloren auf den morschen Holzfußboden. Die Führerin fragt mich: “Haben Sie selbst Kinder?” - “Ja”, antworte ich. “Das dachte ich mir”, sagt sie.

Ein deutscher Garten

Das Inferno brach über Tschernobyl herein, als im Sommer 1941 deutsche Truppen den Ort besetzten. Wie in vielen Dörfern der Nordukraine gab es in dieser Gegend eine starke jüdische Minderheit. In Tschernobyl damals ein Drittel der Bevölkerung. Unsere Führerin erzählt uns, dass die Deutschen alle Juden des Dorfes zusammentrieben, sie in ein Massengrab warfen und lebendig verscharrten. Noch viele Stunden lang habe man die verzweifelten Schreie der Begrabenen gehört. Dies geschah auf dem Friedhof neben der orthodoxen Kirche von Tschernobyl.

Heute steht auf dem orthodoxen Friedhof ein kleines Mahnmal mit dem David-Stern. Unweit vom Friedhof wohnt Maria, eine 75-jährige Frau. Sie war 1941 von der Wehrmacht zur Zwangsarbeit nach Nürnberg verschleppt worden. Dort hat sie viel im Garten arbeiten müssen. Als sie im April 1986 von sowjetischen Soldaten evakuiert werden sollte, dachte sie: “Nein, nicht schon wieder” - und gehörte 1988 zu den Ersten, die mit Sondergenehmigung wieder in die Zone zurückkehrten. Heute hat sie einen richtig deutschen Garten, mitten in Tschernobyl. Die Stiefmütterchen stehen in Reih´ und Glied. Und genauso die Karotten und der Kohl und die Radieschen. Kein Unkraut. Alles ordentlich und blitzsauber. Nur kontaminiert.

Die Explosionen und das Feuer haben die entwichene Radioaktivität aus dem Reaktor extrem ungleichmäßig wie auf einem Flickenteppich verteilt. Nur in sehr wenigen Ortschaften dürfen heute wieder Menschen leben. Es sind etwa 500 ältere Ukrainer, die in die Zone zurückgekehrt sind. Im Dorf Tschernobyl selbst kommen dann noch tageweise einquartierte Verwaltungsbeamte, Wissenschaftler und Forstarbeiter hinzu. Die meisten Ortschaften im Katastrophengebiet aber sind unbewohnt, eine Ansammlung von Ruinen. Manche Dörfer sind bereits vollständig überwuchert und kaum noch sichtbar. Neue Hinweisschilder zeigen ihre Namen. Ob sich die Wölfe an ihnen orientieren, die in immer größerer Zahl die Zone bevölkern?

Wieder andere Orte sind so stark radioaktiv belastet, dass sie sich vollständig in Atommüll verwandelt haben. Sie sind seinerzeit von den Liquidatoren gleich komplett untergepflügt worden. Wir fahren an einem solchen Dorf vorbei, das einst Kopatschi hieß. Das russische Verb kopat bedeutet ironischerweise graben. Geblieben ist nicht viel mehr als eine Schutthalde, in der ein gelbes angerostetes Schild mit dem Radioaktivitätssymbol steckt. Wie sah es vor 1986 in Kopatschi aus? Eine Kapelle, Dorfleben mit knatternden Traktoren, Volksliedern und Gänsegeschrei? Heute ist Kopatschi Müll. Irgendwann wird Kopatschi zwischengelagert und irgendwann wird es wohl endgelagert werden. Man stelle sich vor: Ein Dorf in einem Container vergraben in einem Salzstollen. Was hat es dort verloren, das Dorf Kopatschi?

Meine Töchter, vier und sieben Jahre alt, lieben diese Geschichte: “Stellt Euch vor, da wohnen mitten in einer Großstadt Wildschweine und gehen ins Schwimmbad.” Zahlen sie Eintritt? Springen sie vom Sprungbrett? Tragen sie Schwimmflügel? Nein, sie suhlen sich eigentlich nur im Eingangsbereich, Wasser füllt die Bassins seit 21 Jahren nicht mehr. Aber die Wildschweine scheinen diesen Ort zu lieben, so systematisch ist der Boden dort durchwühlt.

Und das drei Kilometer vom Reaktor, mitten in der Stadt Pripjat, der Geisterstadt, in der einmal 50.000 Menschen lebten, bevor sie vor 21 Jahren gingen und die Geister kamen. Länger hat es in Pripjat nur der Halbgott Prometheus ausgehalten. Eine haushohe Bronze-Plastik in bestem sozialistisch-realistischen Stil. Der Titan entreißt dem Himmel das Feuer und zerrt es hinab auf die Erde.

Ein Requisiten-Thron aus Brokat

Nicht auf der Bühne, sondern hinter den Kulissen des langsam einstürzenden Großen Theaters der Stadt bietet sich ein Bild, das wie inszeniert wirkt: Auf dem Boden liegen einige riesige Plakate mit den gemalten Porträts von Mitgliedern des damaligen Politbüros der KPdSU: Jasow, Gorbatschow, Lukjanow und so weiter. Sie hätten sicher am 1. Mai 1986 das Theater Pripjats für die Mai-Versammlung geschmückt - wäre nicht vier Tage zuvor die Zeit in Pripjat stehen geblieben. Sie liegen da, vergilbt und dreckig, teilweise zerrissen auf dem Boden und auf ihnen steht ein Requisiten-Thron aus Brokat mit rotem Samt bespannt und mit einer stilisierten goldenen Krone auf der Spitze seiner Lehne. Der Thron ist leer, nur über einer Lehne hängt ein wie in Eile abgeworfener roter Umhang.

Der Geigerzähler tickt, er knarzt, er rauscht, je nachdem wie hoch gerade die Zerfallsrate ist, die er misst. Wir stehen in 100 Meter Abstand vom Sarkophag. Zwei Minuten lang. Dann müssen wir wieder ins schützende Auto. Wir fahren Richtung “Roter Wald”. Dort beim Symbol der Fackel ist die Strahlung am höchsten. Wir fahren im Schritttempo mit offenem Fenster und das Knarzen wird immer intensiver. Ich halte den Geigerzähler ein bisschen aus dem Fenster, und er rauscht, dann recke ich ihn ganz weit heraus und er wird noch lauter. Unsere Führerin sagt: “Schließen Sie jetzt bitte das Fenster.” Sie schüttelt etwas genervt den Kopf und fügt dann mit gequältem Lächeln hinzu: “Jungs sind immer und überall Jungs”.

Auf dem Rückweg nach Kiew durchstößt man kurz nach Passieren der “Grenzkontrollen” wieder die Schallmauer der Zeit. Die Dörfer sind lebendig, es werden Gemüse, Pilze und Milch an der Straße angeboten, alte Menschen und Kinder sitzen an einer Bushaltestelle und warten, wir überholen ein Fuhrwerk mit Pferden. Keine Przewalski-Pferde. Ich atme erstmals seit Stunden wieder tief durch, schaue auf meine Uhr und registriere beruhigt: Mein Sekundenzeiger dreht sich im Uhrzeigersinn.

Tobias Münchmeyer ist stellvertretender Leiter von Greenpeace in Berlin.

Quelle: Freitag   - Die Ost-West-Wochenzeitung 17 vom 27.04.2007. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

28. April 2007

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