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Mit der Seele suchen

Selbstbestimmung: Ein Plädoyer für Europa als kulturelles Projekt


Von Ekkehart Krippendorff

Ein Gespenst geht um in Europa - aber keiner nimmt es ernst: die europäische Verfassung. Die deutsche Bundeskanzlerin hat sich zwar vorgenommen, während ihrer kurzen Präsidentschaft das Gespenst zu erlösen, es zum Leben auf diese Erde zurückzuholen - aber wie sie das zustande bringen will, hat sie bislang nicht verraten. Vermutlich hat Angela Merkel auch gar keine road map dafür. Und aus den Kulissen der deutschen Öffentlichkeit kommen keine konstruktiven Stimmen, die ihr und dem wiederzubelebenden Verfassungsprojekt Mut zusprächen. Es scheint, als ob die Europäer andere Sorgen haben, als ihr Haus wetter- und klimafest zu machen. Aber wer sind “die Europäer”? Die Staats- und Regierungschefs? Die Abgeordneten? Die Kommission? Die Brüsseler Bürokraten? Gibt es überhaupt so etwas wie ein europäisches Volk, von dem, wie es nationalstaatlich heißt, “die Staatsgewalt ausgeht”?

Tatsächlich verstehen oder identifizieren sich immer mehr hier lebende Menschen als Europäer - eine Beobachtung und Erfahrung, die man in den letzten Jahren nicht nur im bildungsbürgerlichen Mittelstand, sondern auch unter den einfachen Deutschen machen konnte. Sie dürfte nicht unwesentlich durch das verständnislose Kopfschütteln über die amerikanische Politik unter George W. Bush und die breite Zustimmung, die sie bei “den Amerikanern” gefunden hat, verursacht sein; die jüngsten Wahlergebnisse haben daran kaum etwas geändert. Die Entstehung eines proto-europäischen Bewusstseins ist aber keine verdeckte Form von “Antiamerikanismus”, sondern reflektiert den Wunsch, sich aus einer Vormundschaft der USA zu befreien, die spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges ihre Legitimation verloren hat. Mehr noch: Zumindest die Privilegiert-Gebildeten unter den Europäern erfahren regelmäßig bei persönlichen Amerika-Begegnungen mit Erstaunen, wie uninformiert ihre amerikanischen Gesprächspartner sind; rückkehrende Austauschstudenten haben sich, bei aller Faszination vom amerikanischen Lebensstil, häufig dort zum ersten Mal als Europäer - nicht als Deutsche, Italiener oder Spanier - entdeckt und erfahren. Aber, und darauf kommt es hier an, es waren nicht ihre eigenen, die europäischen Meinungsführer und Eliten, die ihnen Europa vorgelebt, vorgedacht und nahegebracht haben.

Diese Schwachstelle markiert auch die Schwachstelle einer europäischen Verfassung, eines mangelnden Interesses und der mangelnden Begeisterung für Europa, das wahrgenommen wird mehr als ein bürokratischer Hemmschuh aus der Anonymität von Brüssel, denn als Perspektive und lohnendes Ziel für politisches Engagement. Angesichts der historischen Bedeutung des Projekts ist das deprimierend, um nicht zu sagen: erschreckend.

Dafür gibt es viele Gründe und einen Vergleichsmaßstab. Man sollte sich erinnern an den Europa-Enthusiasmus der ersten Nachkriegsjahre, dessen Protagonisten - stellvertretend sei hier Altiero Spinelli genannt - noch wussten, warum sie Europa als politisches Projekt wollten. Sie waren Antifaschisten und damit auch Antinationalisten, und die Überwindung des krankhaften Nationalismus und des Giftes des Faschismus war für sie eine genügend dynamische und inspirierende Kraft, um daraus ihre Vision eines föderalen Europa - keines “europäischen Staates”, versteht sich - zu gewinnen. Danach kam so gut wie nichts mehr. Adenauer, de Gasperi, Schuman - sie hatten noch eine Ahnung von der Notwendigkeit einer Idee von Europa, die sich materialisieren sollte in Schuman-Plan und Montanunion. Diese Europa-Idee war nur schon im Kern kompromittiert durch die Rahmenbedingungen des Kalten Krieges. Das abendländische, christlich-katholische Europa, das ihnen perspektivisch vorschwebte, vermochte - spätestens seit dem Wegfall der kommunistischen Bedrohung - kaum mehr zu inspirieren, wenn es das denn je gekonnt hätte. Jetzt ist darum ein Europa “ohne Seele” übriggeblieben: pragmatisch, marktwirtschaftlich, militärisch. Der Traum seiner politischen Manager ist der von der “einen Stimme”, mit der dieses Europa im Konzert der Weltmächte sprechen soll. Aber die Frage, was denn diese “eine Stimme” zu sagen, welchen Ton sie anschlagen, welche Sprache sie sprechen soll, wird weder gestellt, noch beantwortet.

Im Kontext des Verfassungsvertrages von 2003 wachten plötzlich alle auf, als der vormalige Ratspräsident (und Sozialist) Jacques Delors von der Notwendigkeit sprach, “Europa eine Seele zu geben”. Ein auch nur kurzer Blick in den monströsen Vertragstext macht diesen Mahnruf nur zu verständlich. Dessen Präambel, deren Aufgabe es gewesen wäre, das Warum und Wozu der Europäischen Union den darüber abstimmenden Europäern zu erläutern, erschöpfte sich in trockenen Leerformeln, wie sie Eurokraten so einfallen. In seiner ersten Fassung wurde diese Präambel wenigstens noch mit einem altgriechischen, allerdings missverständlich verkürzt übersetzten Satz über die athenische Demokratie aus der berühmten Totenrede des Perikles (430 v. d. Z.) eingeleitet, von der Thukydides berichtet. Darauf folgt die brave Aneinanderreihung der blutleeren Begriffe von Recht, Zivilisation, Fortschritt und Wohlstand. Die zweite, heute “gültige” Fassung beginnt nun mit einer ermüdend bürokratischen Aufzählung der einschlägigen europäischen Staatsoberhäupter: “Seine Majestät der König der Belgier, der Präsident der Tschechischen Republik, Seine Majestät die Königin von Dänemark”, und so weiter, “schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas … haben als ihre Bevollmächtigten ernannt…” - Man vergleiche diesen uninspirierten, seelenlosen, der historischen Bedeutung des Vorganges auch nicht einmal annähernd gerecht werdenden Routine-Text mit jener “Präambel”, als welche die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 bis heute der späteren Verfassung von 1783 voransteht: “Wenn im Lauf der menschlicher Begebenheiten ein Volk genöthigt wird, die politischen Bande aufzulösen, die es bisher mit einem anderen vereinten, und unter den Mächten der Erde die gesonderte und gleiche Stellung einzunehmen, zu welcher es durch die Gesetze der Natur und des Schöpfers derselben berechtigt ist, so erheischt die geziemende Achtung vor den Meinungen des Menschengeschlechts, daß es die Ursachen öffentlich verkünde, welche jene Trennung veranlassen.”

Die Sorge um die von den Europa-Konstrukteuren vergessene Seele rief im selben Jahr in Berlin eine “zivilgesellschaftliche Initiative” auf den Plan. Die stieß mit Delors Motto ein auf sechs Jahre und sechs Themen angelegtes Projekt zur “Nutzung der Kultur im Interesse der Entwicklung Europas” an. Zwei von hochkarätigen Politikern eröffnete Berliner Konferenzen haben 2004 und 2006 stattgefunden - von einem Echo auf die dort gehaltenen, bedeutenden Reden ist in der Öffentlichkeit bisher kaum etwas geblieben. Wie auch: Das Interesse der Politmanager am Votum von Intellektuellen hält sich in Grenzen. Im Januar dieses Jahres hielt Angela Merkel in Straßburg ihre Europa-Rede und gab auf die Fragen “vieler Menschen in Europa: Was soll Europa sein?”, die tiefschürfende Antwort mit Delors´ Seelenmetapher: “Wir müssen Europas Seele finden, weil sie schon bei uns ist.” Da bedarf es nur noch der intellektuellen Stichwortgeber, um das leere “Seelen”-Kästchen mit ein paar gut klingenden Inhalten aus deren auf wohl dotierten weiteren Berliner Konferenzen präsentierten geistigem Vokabular zu füllen.

Im Jahr 2004 richteten 100 europäische Künstler und Kulturschaffende, alarmiert von der Indifferenz und dem Desinteresse ihrer Bevölkerungen, einen Appell für ein auf die Kultur gegründetes Europa an den damaligen Kommissionsvorsitzenden Romano Prodi und an alle Staats- und Regierungschefs der EU. “Als Bürger Europas sind wir alle Erben Homers und Virgils, Van Eycks und Michelangelos, Shakespeares und Cervantes´, Bachs, Mozarts, Chopins und Liszts, Flauberts und Kafkas, Eisensteins und Bergmans”, heißt es da. “Diese europäische Identität, die wir teilen, entstand lange vor der politischen Konstruktion des modernen Europa”. Und besorgt legten sie den Finger auf die offene Wunde der fehlenden Seele: “Wenn das Europa der Produktion und des Konsums Europa als Zivilisation beherrschen, wenn Europa als gemeinsamer Markt Europa als politisches und kulturelles Projekt ersetzen sollte, dann könnte die gegenwärtige globale Krise zu einem Zusammenstoß zwischen den Kräften des Fundamentalismus und denen des Materialismus führen. Ein solcher Zusammenstoß wäre ebenso traumatisch und zerstörerisch wie die schlimmsten Geißeln, die die Menschheit im letzten Jahrhundert heimgesucht haben.”

Obwohl - oder weil - auch dieser Appell ohne öffentlich wahrnehmbares Echo blieb, wurde er 2005 in Paris in der Comédie Francaise noch einmal feierlich neu aufgelegt mit dem Ziel eines Appells der Tausend. Die Unterzeichner machen ein “Who is Who” der europäischen Kulturwelt aus; Daniel Barenboim hat als Nr. 1000 unterschrieben und inzwischen sind 1360 Namen zusammengekommen. Aber folgenlos auch das. Die politischen Klassen aller Mitgliedsstaaten der EU sind, leicht unterschiedlich nur im Grade, durchweg lernresistent und taub für die Stimmen Außenstehender. Für ihr politisches Management-Geschäft können sie nur Zuträger und Schmuckwerk gebrauchen, aber keine autonomen Akteure, keine substanziellen Einmischungen.

Wo läge der Ausweg? Was wäre zu tun? Die Richtung, der Adressat einer so dringend notwendigen Bestimmung des Warum und Wozu eines verfassten Europa als kulturellen Raumes mit eigenem Profil muss geändert beziehungsweise überhaupt erst präzise benannt werden. Es sind nicht die Staats- und Regierungschefs. Es sind vielmehr die Völker Europas, die sich in der jetzt neu zu diskutierenden Verfassung wiederfinden, die diese staatsähnliche Gemeinschaft als lohnendes Projekt mit Leben füllen sollen. Und das Projekt, auf das sich die Musiker, Schriftsteller und Theaterleute, die bildenden Künstler und Autoren konzentrieren sollten, wozu sie - und nur sie, nicht aber namenlose Eurokraten in Brüsseler Sitzungsräumen - qualifiziert sind, hieße: eine Präambel für die europäische Verfassung. Denn was, wenn nicht ein kulturelles Projekt, ist diese Europäische Union als ein politisches Gebilde historisch präzedenzloser Form und neuen Inhalts? Die Idee Europa ist das Produkt seiner kulturellen Dialoge, seiner kulturellen Vielfalt, seiner Literatur, seiner Musik, seiner bildenden Kunst, seiner Architektur, seiner Filmemacher und Theaterleute. Sie alle haben sich seit Jahrhunderten immer wieder über die von der kontraproduktiven Politik gezogenen Grenzen hinweggesetzt, nationale Grenzen - vom zerstörerischen Nationalismus ganz zu schweigen - nie akzeptiert und respektiert. Wenn es den Appellierenden gelänge, in eigener Verantwortung, aus ihren eigenen grenzüberschreitenden Kräften und Erfahrungen der Europäischen Verfassung eine Präambel zu geben, die der historischen Größe und der Würde dieses Projekts nicht zuletzt sprachlich angemessen wäre - welch ein Triumph! An andere Entscheidungsträger zu appellieren ist nicht nur zu bequem, sondern auch zwecklos. Demokratie heißt doch auch Autonomie, heißt Selbstbestimmung.

Vor wenigen Jahren hat die Berliner Akademie der Künste ein solches Unternehmen einmal angedacht. Leider blieb es dann - nicht zuletzt zum Leidwesen ihres damaligen Präsidenten Adolf Muschg - auf der Strecke. Die wenigen noch verbleibenden Monate der deutschen Präsidentschaft wären eine günstige Gelegenheit, diese Initiative noch einmal aufzunehmen, zumal die Akademie inzwischen selbst ja eine Institution des Bundes geworden ist. Wenn das Bekenntnis der Kanzlerin zur “europäischen Seele” nicht bloße Rhetorik sein soll, dann dürfte sie sich glücklich schätzen, wenn ein solches Präambel-Projekt mit ihrer Unterstützung auf den Weg gebracht werden könnte.

Quelle: Freitag   - Die Ost-West-Wochenzeitung 12 vom 23.03.2007. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Ekkehart Krippendorff und  des Verlags.

Veröffentlicht am

26. März 2007

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