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Am Abgrund einer neuen nuklearen Bedrohung

US-Politiker beleben die alte Vision von einer atomwaffenfreien Welt und machen konkrete Vorschläge für ihre Umsetzung in die Wirklichkeit. Auch wenn wir die positive Einschätzung der atomaren Abschreckung nicht teilen und die fehlende Verbindung von Atomwaffen und ziviler Atomenergie kritisieren, halten wir dies für ein sehr bemerkenswertes Dokument.

Von Henry A. Kissinger/Sam Nunn/William J. Perry/George P. Shultz

Atomwaffen stellen uns heute vor enorme Gefahren, aber auch vor eine historische Chance. Die US-Regierung ist gefordert, die Welt einen entscheidenden Schritt voranzubringen - zu einem haltbaren Konsens darüber, weltweit die Abhängigkeit von Atomwaffen aufzugeben, um damit entscheidend dazu beizutragen, dass sie nicht in die falschen Hände geraten, und sie letztendlich als globale Bedrohung auszuschalten.

Als Abschreckungsmittel trugen Atomwaffen während des Kalten Krieges wesentlich dazu bei, die internationale Sicherheit zu gewährleisten. Mit Ende des Kalten Krieges wurde die Doktrin der gegenseitigen sowjetisch-amerikanischen Abschreckung obsolet. Abschreckung ist zwar weiterhin für viele Länder, die sich von anderen bedroht sehen, ein wesentlicher Faktor, aber dabei auf Atomwaffen zu setzen, wird zunehmend riskanter und wirkungsloser.

Nordkoreas kürzlich erfolgter Atomtest und die Weigerung des Iran, sein Programm zur Anreicherung von Uran einzustellen, werfen ein Schlaglicht auf die Tatsache, dass sich die Welt am Abgrund zu einem neuen, gefährlichen Nuklearzeitalter befindet. Höchst beunruhigend ist dabei die wachsende Wahrscheinlichkeit, dass von Staaten unabhängige Terroristen Atomwaffen in die Hände bekommen. Für jene Terroristen, die der gegenwärtigen Weltordnung den Krieg erklärt haben, bieten sich Atomwaffen als das ultimative Massenvernichtungsmittel an. Hinzu kommt, dass staatlich ungebundene Terrorgruppen, die im Besitz von Atomwaffen sind, sich von einer Strategie der Abschreckung nicht beeindrucken lassen und somit neue und besondere Herausforderungen für die Sicherheit darstellen.

Wenn nicht schnellstmöglich gehandelt wird, werden sich die USA ungeachtet der terroristischen Bedrohung bald gezwungen sehen, in ein neues Nuklearzeitalter einzutreten, das riskanter, psychisch belastender und noch kostspieliger wird als die Abschreckung während des Kalten Krieges. Es ist äußerst fraglich, ob wir die alte sowjetisch-amerikanische Strategie der "gesicherten gegenseitigen Zerstörung" bei immer mehr potenziell atomar bewaffneten Feinden weltweit erfolgreich reproduzieren können, ohne das Risiko eines tatsächlichen Einsatzes von Atomwaffen dramatisch zu erhöhen. Die neuen Atomwaffenmächte verfügen nicht wie wir über ein während des Kalten Krieges über Jahre gewachsenes, abgestuftes Sicherheitssystem zur Verhinderung von Unfällen, Fehleinschätzungen und unautorisierten Raketenabschüssen. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion haben sorgfältig darauf geachtet, dass während des Kalten Krieges weder absichtlich noch versehentlich Atomwaffen eingesetzt wurden. Werden die neuen Atommächte und die Welt in den kommenden 50 Jahren genauso viel Glück haben wie wir während des Kalten Krieges?

Bereits in der Vergangenheit wurde diese Frage von führenden Politikern thematisiert. In seiner Rede "Atome für den Frieden" vor den Vereinten Nationen bekräftigte Dwight D. Eisenhower 1953 Amerikas "Entschlossenheit, an der Lösung des schrecklichen atomaren Dilemmas mitzuwirken, mit ganzem Herzen und Verstand an der Ausarbeitung eines Weges mitzuarbeiten, dass die wunderbare Erfindungsgabe des Menschen nicht dem Tod, sondern dem Leben gewidmet wird". Und um Bewegung in die festgefahrenen Abrüstungsverhandlungen zu bringen, sagte John F. Kennedy: "Die Welt ist nicht als Gefängnis gedacht, in dem die Menschheit auf ihre Hinrichtung wartet."

Rajiv Gandhi appellierte am 9. Juni 1988 an die UN-Generalversammlung: "Ein Atomkrieg bedeutet nicht nur den Tod von 100 Millionen Menschen. Oder sogar einer Milliarde. Er hätte die Auslöschung von über vier Milliarden Menschen zur Folge: das Ende des Lebens, wie wir es auf dem Planeten Erde kennen. Wir treten vor die Vereinten Nationen, um Sie um Unterstützung zu bitten. Wir ersuchen um Ihre Unterstützung bei der Beendigung dieses Wahnsinns."

Ronald Reagan forderte die Abschaffung "aller Nuklearwaffen", bezeichnete sie als "völlig irrational und unmenschlich, zu nichts nütze außer zum Töten, mit dem Potenzial, die menschliche Zivilisation und das Leben auf der Erde zu vernichten". Michail Gorbatschow teilte diese Vision, die vor Reagan bereits von anderen US-Präsidenten geäußert worden war.

Obwohl Reagan und Gorbatschow sich in Reykjavik nicht auf ein Abkommen zur Abschaffung aller Atomwaffen einigen konnten, gelang es ihnen, das Wettrüsten zu beenden und Schritte einzuleiten, die zu einer deutlichen Verringerung von atomaren Langstreckenraketen sowie zur Eliminierung einer Gattung bedrohlicher Waffen - der Mittelstreckenraketen - führten.

Was ist nötig, um die gemeinsame Vision Reagans und Gorbatschows wieder aufleben zu lassen? Lässt sich weltweit Einigkeit über eine Reihe praktischer Schritte erreichen, die zu einer erheblichen Verringerung der atomaren Gefahr führen würden? Es ist dringend erforderlich, der Herausforderung zu begegnen, die sich aus diesen beiden Fragen ergibt.

Der Atomwaffensperrvertrag hat zum Ziel, alle Atomwaffen abzuschaffen. Er schreibt vor, (a) dass Länder, die im Jahr 1967 nicht über Atomwaffen verfügten, zustimmten, auch in Zukunft keine zu erlangen, und (b) dass Länder, die zu diesem Zeitpunkt im Besitz von Atomwaffen waren, zustimmten, sich ihrer nach und nach zu entledigen. Seit Richard Nixon hat jeder US-Präsident, egal ob Republikaner oder Demokrat, diese Vertragsverpflichtung bekräftigt, aber die Nicht-Atomwaffenstaaten bezweifeln zunehmend die Aufrichtigkeit der Atomwaffenmächte.

Es werden ernsthafte Anstrengungen gegen die Weiterverbreitung von Atomwaffen unternommen. Das Programm zum Abbau von Bedrohungen durch atomare, chemische und biologische Waffen (Cooperative Threat Reduction Agreement), die Initiative zum weltweiten Abbau von Bedrohungen (Global Threat Reduction Initiative) und die Initiative zur Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen (Proliferation Security Initiative) sowie die Zusatzprotokolle zum Atomwaffensperrvertrag liefern innovative Ansätze und neue wirkungsvolle Mittel, um Aktivitäten aufzuspüren, die den Atomwaffensperrvertrag verletzen und die globale Sicherheit gefährden. Sie sollten vollständig umgesetzt werden. Die Verhandlungen aller ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates unter Einbeziehung von Deutschland und Japan über die Proliferation von Atomwaffen in Nordkorea und Iran sind von entscheidender Bedeutung. Sie müssen mit aller Entschlossenheit vorangetrieben werden.

Aber für sich genommen ist keiner dieser Schritte ausreichend, um der Gefahr zu begegnen. Bei ihrer Zusammenkunft in Reykjavik vor 20 Jahren hatten Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow sich ein viel höheres Ziel gesetzt: die vollständige Abrüstung aller Atomwaffen. Ihre Vision schockierte die Experten für nukleare Abschreckung, weckte jedoch die Hoffnungen von Menschen rund um den Globus. Die Führer der beiden Länder mit den größten Atomwaffenarsenalen diskutierten die Abschaffung ihrer mächtigsten Waffen.

Was ist zu tun? Können die Zusagen im Atomwaffensperrvertrag und die in Reykjavik erörterten Visionen in die Tat umgesetzt werden? Wir sind der Meinung, dass die USA sich intensiv darum bemühen sollten, die Frage mittels konkreter Etappenziele einer positiven Lösung zuzuführen.

Am wichtigsten ist die intensive Zusammenarbeit mit den Regierungschefs der Atomwaffenstaaten, um das Ziel einer atomwaffenfreien Welt zu einem gemeinsamen Unterfangen zu machen. Eine solche Unternehmung, die auch zu Veränderungen in der Aufstellung der Atomwaffenmächte selbst führt, würde den bisherigen Bemühungen, die atomare Bewaffnung Nordkoreas und des Iran zu verhindern, zusätzliches Gewicht verleihen.

Das Programm, auf das sie sich einigen sollten, müsste eine Reihe von einvernehmlichen und dringlich notwendigen Schritten festschreiben, die die Grundlage bilden für eine Welt, die frei ist von Bedrohung durch Atomwaffen. Diese Schritte wären u. a.:

  • das aus dem Kalten Krieg übernommene Dispositiv einsatzbereiter Atomwaffen so zu verändern, dass die Vorwarnzeit erhöht und damit die Gefahr eines versehentlichen oder nicht autorisierten Einsatzes von Atomwaffen verringert wird;
  • den Umfang der Nuklearstreitkräfte aller Atomwaffenmächte auch weiterhin wesentlich zu reduzieren;
  • atomare Kurzstreckenraketen, die für die Vorwärtsstationierung konzipiert sind, vollständig abzuschaffen;
  • gemeinsam mit dem US-Senat einen parteiübergreifenden Prozess zu initiieren, der vertrauensbildende Maßnahmen und regelmäßige Überprüfungen einschließt und die neuesten technischen Fortschritte berücksichtigt, um die Ratifizierung des umfassenden Teststoppvertrags (Comprehensive Test Ban Treaty) zu erreichen und auf die Ratifizierung durch weitere Schlüsselstaaten hinzuarbeiten;
  • größtmögliche Sicherheitsstandards für alle weltweiten Bestände an Atomwaffen, waffengrädigem Plutonium und hochangereichertem Uran zu gewährleisten;
  • die Kontrolle über die Urananreicherung zu erlangen, kombiniert mit der Garantie, dass Reaktor-Uran zu angemessenen Preisen bezogen werden kann, zuerst von der Gruppe der nuklearen Lieferländer (Nuclear Suppliers Group) und dann von der internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) oder aus anderen kontrollierten internationalen Beständen. Es wird außerdem nötig sein, sich mit den Proliferationsfragen zu befassen, die durch abgebrannte Brennstoffe aus Leistungsreaktoren entstehen;
  • die Herstellung spaltbaren Materials für Waffenzwecke auf globaler Ebene zu beenden; die Verwendung hochangereicherten Urans für zivile Zwecke langsam auslaufen zu lassen, überall in der Welt waffenfähiges Uran aus Forschungseinrichtungen zu entfernen und die Materialien sicher zu lagern;
  • unsere Anstrengungen zu verdoppeln zur Lösung regionaler Konfrontationen und Konflikte, die zur Entstehung neuer Atomwaffenmächte führen.

Die Schaffung einer atomwaffenfreien Welt erfordert auch wirksame Maßnahmen, um jegliche Bedrohung der Sicherheit eines anderen Staates oder Volkes mit Atomwaffen zu vereiteln oder zu kontern.

Der Vision von einer atomwaffenfreien Welt neue Geltung zu verschaffen und praktische Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels einzuleiten, wäre eine mutige Initiative, die auch als solche wahrgenommen würde und mit dem moralischen Erbe Amerikas in Einklang stünde. Dies würde sich auf die Sicherheit künftiger Generationen äußerst positiv auswirken. Ohne diese kühne Vision wird unser Handeln weder als gerecht noch als dringlich eingestuft, und ohne Handeln wiederum wird die Vision weder als realistisch noch als möglich angesehen.

Wir rufen dazu auf, die atomwaffenfreie Welt zum Ziel zu setzen, energisch an den Schritten zu arbeiten, die zur Erreichung dieses Ziels erforderlich sind und mit den oben umrissenen Maßnahmen zu beginnen.

 

Die Autoren

Henry A. Kissinger, Präsident der Beraterfirma Kissinger Associates, war unter Richard Nixon und Gerald Ford von 1973 bis 1977 Außenminister.

Sam Nunn war früher Vorsitzender des Streitkräfteausschusses des US-Senats.

William J. Perry war in der Amtszeit von Bill Clinton von 1994 bis 1997 Verteidigungsminister.

George P. Shultz ist Fellow am Think Tank "Hoover Institution on War, Revolution and Peace" der Stanford University und war unter Ronald Reagan von 1982 bis 1989 Außenminister. Shultz organisierte mit anderen an der "Hoover Institution" eine Konferenz gegen die atomare Rüstung. Daraus entstand ein Aufruf, der am 4. Januar im Wall Street Journal erschien, und auch von anderen Intellektuellen unterstützt wird.

 

 

Quelle: Frankfurter Rundschau   vom 12.01.2007. Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte im Auftrag der Gruppe Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW) Frank Süßdorf. IPPNW begrüßt die Initiative, kritisiert aber die fehlende Verknüpfung von Atomwaffen und ziviler Nutzung der Atomenergie. Wir veröffentlichen diesen Text mit freundlicher Genehmigung der Frankfurter Rundschau.

Veröffentlicht am

17. Januar 2007

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